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Sortieranlage bei BonnMärchen vom Recycling – wie viel Müll wirklich verwertet wird

Lesezeit 10 Minuten
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Christian Hündgen sortiert im Familienbetrieb in Ollheim den Plastikmüll aus der Gelben Tonne.

  1. Deutschland ist Recycling-Weltmeister, Mülltrennen ist fast schon ein Volkssport.
  2. Doch in Wahrheit wird nur ein geringer Prozentsatz unseres Plastikmülls wiederverwertet.
  3. In Christian Hündgens Sortieranlage bei Bonn wird klar, warum das Recycling aktuell so läuft. Ein Besuch.

Bonn – Die Jacke auf dem Band stört Christian Hündgens Arbeit. Sie ist schwarz, relativ groß, mit einem neongelben Streifen am Arm. Praktisch für jemanden, der täglich an einer vielbefahrenen Straße zur Arbeit radelt. Ihr Besitzer hat sie dennoch weggeworfen. Die Jacke breitet sich aus und verdeckt: eine Orangensaft-Flasche, eine mit Krümeln verklebte Pringels-Dose, eine durchsichtige Schale mit rotem Papieretikett. Unter der Jacke sind die Verpackungen für die vollautomatische Maschine nicht zu erkennen – und deshalb für die Kreislaufwirtschaft der deutschen Abfallindustrie verloren.

Etwa 1000 Jacken landen täglich auf den eineinhalb Kilometer langen, grauen Förderbändern der dröhnenden Sortieranlage. Sie gehören hier nicht hin. „Fehlwürfe bereiten uns die größten Probleme“, sagt Hündgen, der in seinem Entsorgungsbetrieb am Ortsrand von Ollheim bei Bonn die Reste unserer in Plastik verpackten Wohlstandsgesellschaft sammelt. Der den Müll von den Umschlagplätzen der örtlichen Müllabfuhr vom Ruhrgebiet bis aus dem Hunsrück abholt, aus Großstädten wie Köln und Bonn oder aus Dörfern in der Eifel. Auf dem Hof wiegt er die Laster – zwölf Tonnen schaffen die großen – entlädt sie anschließend in riesigen Hallen. Um darin den Müll zu sortieren. Der hier auf dem Hof nicht Müll heißt, sondern „Wertstoff“.

Müllsortieranlage seit 70 Jahren in Familienhand

Das Geschäft damit betreibt Familie Hündgen seit 70 Jahren, seit 1993 sind sie auf Kunststoff spezialisiert. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert ging auf dem Gelände der ehemaligen Kiesgrube die erste Sortieranlage für Leichtverpackungen, kurz LVP, in Betrieb. Die Idee, Konserven und Joghurtbecher nicht gleich zu verbrennen oder auf Deponien verrotten zu lassen, war Anfang der 1990er Jahre neu. Der damalige CDU-Umweltminister Klaus Töpfer hat sie gehabt.

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Gepresster Müll steht in großen Ballen in der Anlage.

Wer Verpackungen auf den Markt bringt, ist auch fürs Entsorgen zuständig, lautete das Prinzip, das die Industrie zwang, ein eigenes System aufzubauen. Die Industrie finanzierte die Dualen Systeme Deutschland (DSD) und deren Marke Grüner Punkt. Sie stellten den Menschen neben der blauen für Papier und der grauen für Restmüll noch eine dritte, diesmal gelbe, Tonne in den Hinterhof.

Der Umstellungsprozess dauerte Jahre. „Ende der 90er-Jahre hat das System Grüner Punkt dann funktioniert“, weiß DSD-Sprecher Norbert Völl. Die Menschen begriffen langsam, was in die neue Tonne gehört und was nicht, und der Grüne Punkt hatte Unternehmer wie die Hündgens gefunden, die sortierten. Mit 30 Prozent Marktanteil ist der Grüne Punkt noch heute führend in der Verpackungsentsorgung, acht Konkurrenten hat er mittlerweile deutschlandweit.

Recycling soll Absolution für Müllproduktion bringen

Das Ziel, das über alldem steht und bei dem wir Deutschen uns als erstes über die Ziellinie sprinten sehen: Recycling. Mülltrennen als Volkssport. So sollte es doch verschmerzbar sein, dass Deutschland mit 226,5 Kilogramm Verpackungsmüll pro Kopf im Jahr 2017, Abfälle aus Industrie und Gewerbe mit eingerechnet, weit über dem europäischen Durchschnitt von 165 Kilogramm liegt. Wir machen zwar mehr Müll, räumen ihn aber hinterher ordentlicher auf – so der Glaube. Das trifft auf Glas und Papier, aber nicht auf Kunststoff zu. Denn von unserem Plastikmüll werden am Ende höchstens 15 Prozent im Inland wiederverwertet, sagen Kritiker.

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Christian Huendgen im Inneren der großen Anlage.

Die offizielle Recyclingquote für Kunststoff von 58,5 Prozent – bis Anfang des Jahres waren es 36 Prozent –, beschreibt dabei nur den sogenannten „Input“, also das, was beim Recycler angeliefert wird. Was am Ende eines langen Weges durch die unterschiedlichen Stationen der deutschen Kreislaufwirtschaft tatsächlich noch einmal benutzt wird, ist deutlich weniger. Viel zu wenig, meinen Umweltexperten.

25.000 Kubikmeter Abfall täglich

Auf dem Hof in Ollheim landen täglich 25.000 Kubikmeter Abfall zuerst in der großen, grauen Siebtrommel. Hündgen zeigt durch ein vergleichbar kleines Plexiglasfenster ins Innere. Wie in einer halbvollen Waschmaschine schleudern die Teile herum. Durch die Löcher in den Trommelwänden wird Großes vom Kleinen getrennt. Zerdrückte Müsliverpackungen landen auf anderen Förderbändern als Folienstreifen, das Planschbecken – „klassischer Fehlwurf, ist doch keine Verpackung“ – wird vom Milchkarton getrennt und geht später in die Verbrennung. Magnete ziehen die Bleche heraus, Gebläse und Druckluft trennen die unterschiedlich schweren Stoffe.

Schmale Treppen führen in der Anlage abwechselnd hinauf und hinunter, überall sind Metallgitter. Es ist mindestens 25 Grad warm, riecht süß und faulig, der Geruch kriecht in die Klamotten, hängt noch Stunden später in den Haaren. An einer Stelle ziemlich weit oben lehnt sich Hündgen an das Geländer und zeigt hinunter auf acht parallel laufende Bänder. Das Ende des Prozesses. Dort unten ist der Abfall dann getrennt nach Weißblech, Aluminium, Kartons und den verschiedenen Kunststoffarten: Polypropylen, Polyethylen, Polyethylenterephthalat. PP, PE, PET aus LVP.

Aus Öl erzeugte Polymere, die wir Plastik nennen und schätzen, weil sie leicht, formbar und hygienisch sind. Nachteile: Sie sind langlebig und teilweise umwelt- und gesundheitsschädlich.

Verbrennung zur Energiegewinnung

Die eine Hälfte geht in die „thermische Verwertung“, wird also verbrannt. Material mit viel Energie ersetzt im Zementwerk Kohle. Energiearmes Material kommt in eine klassische Müllverbrennungsanlage. Es geht nichts verloren, auch was verbrannt wird, wird gebraucht, sagt Hündgen.„Die thermische Verwertung ist zwar eine Lösung, aber sicher nicht die beste“, sagt Henning Wilts, Experte für Kreislaufwirtschaft am „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“. „Beim Verbrennen gewinnen wir einmalig Energie. Verwende ich einen Kunststoff erneut, spare ich aber jedes Mal Energie und CO2.“

Wenn neues Plastik hergestellt wird, entsteht rund 75 Prozent mehr CO2 als beim Recyceln. Bei etwa 25 Kilogramm Plastikmüll, den die Deutschen 2017 pro Kopf im Haushalt verursachten, ist der Unterschied gewaltig. Und der Verbrauch wächst, seit 1994 hat sich die Menge des privaten Plastikabfalls verdoppelt. Wir bestellen im Internet, essen außer Haus oder kaufen die portionierten Lebensmittel im Supermarkt. Wo Menschen in kleinen Haushalten leben, erhöht sich automatisch das Müllaufkommen.

Wilts sagt: „Wenn alle Menschen weltweit so viel Verpackungsabfall produzieren würden wie wir, würde die Erde in Plastikabfall untergehen.“ Denn was passiert mit dem Material, das nicht verbrannt wird? Mit 50 Prozent erfüllt Hündgens hochmoderne Sortieranlage locker die bisherige Quote von 36 Prozent, die laut Verpackungsverordnung „der Weiterverarbeitung zugeführt“ werden müssen. Etwa 15 Prozent davon wird ins Ausland verkauft – und gilt damit als recycelt.

Eine Million Tonnen Müll wird exportiert

Hündgen hat nur Abnehmer im europäischen Ausland, zertifiziert und korrekt deklariert. Deutschen Müll in Deutschland behalten, fordern Umweltschützer, regelmäßig tauchen Berichte über illegale Mülldeponien in Malaysia oder Indonesien auf. „Politische Schwachsinnsdiskussion“, sagt Hündgen. Wieso solle er seinen sortierten Müll nicht nach Maastricht fahren? Die exportierten Kunststoffabfälle habe jemand gekauft, um sie weiter zu verwenden, sagt auch Henning Wilts. Etwa eine Millionen Tonnen Plastikmüll wird aus Deutschland jährlich exportiert, der größte Teil davon in EU-Nachbarländer.

„Die Frage ist nur immer: Was passiert zum Beispiel in Südostasien mit dem Teil, der nicht mehr brauchbar ist?“ Von dem, was der Grüne Punkt einsammelt, werden etwa zwei Prozent zu Partnern nach Asien verschifft.Auch was in Deutschland „weiter verarbeitet“ wird, wird nicht vollständig wiederverwertet. In weiteren Prozessen gehen mindestens ein Viertel des Materials verloren. Viele Experten schätzen den Verlust noch deutlich höher ein.

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In der Sortieranlage werden die einzelnen Stoffe geprüft und geordnet.

Ein Beispiel: Der Schraubverschluss auf der PET-Flasche ist aus PE. Für das Recycling muss der Stoff aber möglichst rein vorliegen, den Verschluss nennt Hündgen „Störstoff“. Er wird entfernt und landet zwar auf anderem Wege, aber am Ende an der gleichen Stelle wie das Planschbecken: in der „thermischen Verwertung“. Allerdings dieses Mal ausgewiesen als recyceltes Material. Das soll sich künftig ändern. In der Abfallrahmenlinie der Europäischen Union ist vorgeschrieben, nur noch die tatsächlich recycelten Abfälle zu erfassen.

Wer als Deutscher also wirklich Recycling-Weltmeister sein will, muss nicht nur die Verpackungen vom Inhalt trennen – „löffelrein“ empfiehlt der Fachmann –, sondern eben auch den Deckel vom Marmeladenglas, die Aluminiumfolie vom Joghurtbecher, die Papierbanderole von der Butter. „Ich kann nicht bei jeder Butterschale das Papier abknibbeln“, sagt Hündgen. „Ich bin ein Wirtschaftsunternehmen.“ Da müsse „der Bürger“ seiner Meinung nach selbst aktiv werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen nützt das pedantischste Trennverhalten nichts mehr.

Entscheidet man sich an der Kühltheke für einen abgepackten, geschnittenen Käse, soll er frisch aussehen, nicht durch die Folie riechen und möglichst lange halten. Ansprüche, die der Hersteller mit sogenannten Verbundverpackungen erfüllt. „Da sind auf kleinem Raum dann 16 Kunststoffarten auf hauchdünnen Schichten verarbeitet. Die kriegen sie nicht getrennt“, sagt Hündgen und ist mit Wilts vom Wuppertal Institut einer Meinung, der daraus schließt: „Wir brauchen einen besseren Kompromiss. Die Verpackung muss ihren Zweck erfüllen und gleichzeitig kreislauffähig sein.“ Sortenreinere Verpackungen hätten aber wohl zur Folge, dass sie unästhetischer oder schwerer würden – und so wiederum unattraktiv für den Kunden.

Die Qualität des Recycling-Materials leidet

Zwar ist kein Kunststoff unendlich oft wiederverwendbar, die Kunststoffketten werden beim erneuten Erhitzen kürzer, die Qualität des Materials leidet. Die Zyklen könnten laut Wilts aber deutlich erhöht werden. Denn aktuell ist häufig der erste und letzte Schritt im Recyclingprozess das sogenannte „Downcycling“. Aus einer ehemaligen Lebensmittelverpackung darf keine neue gemacht werden, weil die Gefahr der Verunreinigung zu groß ist. Es wird aber auch keine Verpackung für Elektronik aus ihr, sondern ein Blumentopf, eine Parkbank oder ein Abflussrohr.

Der Einsatz von Rezyklat, also recyceltem Material, liegt in der Verpackungsindustrie bei 9,1 Prozent. Weil die Reinigung und Wiederaufbereitung von Kunststoff aufwendig ist. Und die Vorschriften in Bezug auf die Beschaffenheit von Verpackungen besonders streng sind. Aber vor allem: Weil Öl für neues Plastik nicht viel kostet und der Branche der politische Druck fehlt, mehr Rezyklat einzusetzen. Zwar prüft das Bundesumweltministerium eine Quote, holt aber zunächst nur Vorschläge von Kunststoffherstellern und Händlern ein, wie der Einsatz erhöht werden könnte. 

Das Vorhaben ist Teil des Fünf-Punkte-Plans für weniger Plastik und mehr Recycling, den Umweltministerin Svenja Schulze vor einem Jahr vorgestellt hat. Das oberste Prinzip des Plans: Plastik vermeiden. Laut WWF landen 500 000 Tonnen Kunststoffabfall jährlich in unseren Meeren. Den Handlungsbedarf haben die meisten Deutschen erkannt. In einer Studie des Umweltministeriums antworten 96 Prozent der Befragten, dass Plastikmüll die größte Gefahr für unsere Weltmeere ist.

Nur an der Umsetzung haperte es bislang. Doch Besserung ist in Sicht. „Im Supermarkt war uns lange nicht bewusst, dass unsere Kaufentscheidung Einfluss auf das abstrakte Problem Meeresverschmutzung hat“, erklärt Umweltpsychologe Marcel Hunecke von der FH Dortmund. Erst in den vergangenen fünf Jahren hätten Bilder von verhungerten Tieren mit Plastik im Bauch und vermüllten Stränden die Wahrnehmung verändert. Sollen wir langfristig unser Verhalten beim Einkaufen ändern, brauchen wir direkte Alternativen, sagt der Psychologe – wie Stoffnetze in allen Obstabteilungen, Papiertüten, lose verpackte Waren. Hunecke ist optimistisch: „Sich umweltfreundlich zu verhalten, ist beim Thema Müll viel einfacher als zum Beispiel bei der Mobilität.“

Schließlich sei es viel weniger aufwendig, Müll zu vermeiden, als beispielsweise auf das eigene Auto zu verzichten. Jede Veränderung hätte zudem eine sichtbare Wirkung. Müll sei ein anschauliches Umweltproblem – der weltweite Temperaturanstieg nicht.

In einem Labor des Grünen Punkts im Kölner Osten forschen Chemiker daran, wie sie den Verarbeitern aus der Industrie ihr Rezyklat schmackhaft machen können. „Wir wollen Qualität statt Quantität“, sagt Norbert Völl vom Grünen Punkt. „Wenn die Politik einfach nur mehr Plastik-Recycling vorschreibt, fördert das die Produktion von groben Produkten wie Lärmschutzwänden. Das kann aber nicht die Lösung sein.“ Ein Unternehmen, dessen Name immer wieder als leuchtendes Beispiel auftaucht, ist Werner & Mertz. Die Mainzer Chemiefirma füllt seine „Frosch“-Produkte in Flaschen, die größtenteils aus Plastik aus der Gelben Tonne bestehen. Technisch möglich ist so eine Verpackung also. Und auch erlaubt, solange sie nicht mit Lebensmitteln in Berührung kommt. Die DSD-Laboranten bekommen Proben von Waschmittelflaschen oder Wäschekörben und versuchen, die Kunststoffgemische mit Rezyklat bestmöglich nachzubilden, um die Kunststoffverarbeiter zu überzeugen.

Denn solange das aussortierte Plastik am Ende niemand verwendet, nützt das emsigste Trennen nichts. Auch nicht das Auslöffeln der Becher. Hündgen braucht jemanden, der ihm die sauber sortierten Ballen am Ende abkauft. Er führt ein Wirtschaftsunternehmen.