Von seinen Freunden bespitzeltBergheimer berichtet über seine Flucht aus der DDR

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Das Bild zeigt Heinz-Dieter Grau an einem Auto mit einer zweiten Person.

Heinz-Dieter Grau (84) flüchtete aus der DDR und wohnt jetzt in Bergheim.

Heinz-Dieter Grau aus Bergheim lebte bis 1980 in der DDR. Dort galt er als Staatsfeind. 1976 schloss er sich der Riesaer Petition an.

Schon vor ihrer Flucht hatten Heinz-Dieter Grau und sein Kumpel Klaus Kressler ihre Chancen auf magere fünf Prozent geschätzt. Mit dem Mut der Verzweiflung gehen die beiden Taxifahrer aus dem sächsischen Riesa das Risiko am 29. Oktober 1977 ein. Sie wollen im Raum Breclav das tschechische Grenzgebiet überwinden, um nach Österreich zu flüchten. Am nächsten Morgen ist das rettende Bernhardsthal schon in Sicht, die Freiheit zum Greifen nah, da laufen sie zwei Grenzsoldaten der CSSR über den Weg. Als Grau und Kressler in die Läufe der Maschinengewehre blicken, wissen sie: Das Spiel ist aus.

Die Geschichte beginnt für den heute 84-jährigen Heinz-Dieter Grau wie für viele andere Republikflüchtige auch mit dem Drang nach Freiheit. „Ich fühlte mich eingesperrt, wollte zu meiner Familie in den Westen“, sagt Grau. Lange Zeit habe er geglaubt, man werde ihn aufgrund der Westverwandtschaft schon ziehen lassen.

Doch es kommt anders. Seit 1975 schreibt Grau mehrere Ausreiseanträge, beruft sich auf die Einhaltung der Menschenrechte, zu der sich die DDR in Helsinki bekannt hatte. Doch die DDR schert sich nicht um Menschenrechte, lehnt Ausreiseersuchen fast ausnahmslos ab, macht Antragssteller zu Staatsfeinden.

Das Bild zeigt Heinz-Dieter Gau vor einer Kirche.

Heinz-Dieter Gau ist hetue 84 Jahre alt und wohnt in Bergheim.

Grau bekommt die Repressalien zu spüren, als er die Rieser Petition vom 10. Juli 1976 unterschreibt. Insgesamt 79 Ausreiseantragsteller kämpfen gemeinsam um ihre Freiheit und berufen sich auf die Internationalen Menschenrechte. Mit Hilfe von westdeutschen Journalisten schaffen sie es immer wieder, dass über ihre Einzelschicksale in der BRD berichtet wird. Die Stasi tobt.

Die Staatssicherheit will die Gruppe mundtot machen, die Unterzeichner isolieren. Sie sollen nicht ansteckend wirken auf andere DDR-Bürger. Grau wird zeitweise der Ausweis entzogen, er muss mehrfach die Arbeitsstellen wechseln. Einige seiner besten Freunde bespitzeln ihn und schreiben regelmäßig Berichte.

Als Mitte 1977 Graus Freunde Roland Dumlich, der später auch in Bergheim lebt, und Christoph Engelhardt in einem Schlauchboot über die Ostsee flüchten, wird es für Grau ungemütlich. Verhöre durch die Staatssicherheit stehen jetzt auf der Tagesordnung. Grau wird in verdunkelte Transporter gepfercht und zur Stasi oder zur Volkspolizei gebracht. Sie verdächtigen ihn, von der Flucht gewusst zu haben. „Ich habe ihnen sogar bei den Vorbereitungen geholfen. Aber das konnte mir niemand beweisen“, sagt Grau.

Man hält es irgendwann nicht mehr aus, keine Privatsphäre zu haben. Überall lauert die Stasi
Heinz-Dieter Gau

Die Drangsalationen bestärken ihn jetzt, selbst zu fliehen. „Man hält es irgendwann nicht mehr aus, keine Privatsphäre zu haben. Überall lauert die Stasi, überall fühlt man sich überwacht. Ich habe zu Klaus Kressler gesagt: Wir müssen jetzt etwas unternehmen. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.“

Sie fahren zweimal in der CSSR weite Teile der Grenze zu Österreich ab, bis sie sich für die Region Breclav entscheiden. In dem fünf Kilometer breiten Sperrgürtel gibt es neben den Grenzsoldaten zwar auch starkstromgesicherte Zäune und Hunde. Ein kleiner Fluss fließt aber von hier aus in den Westen.

Am Abend des 30. Oktober stellen sie ihren Wagen in der Nähe des Grenzgebietes ab. Im Rucksack haben sie Kneifzangen, Feldstecher und eine Karte. Das Sperrgebiet ist fünf Kilometer breit. „Wir sind stundenlang gelaufen, mussten zwei Wachtürme umgehen“, erinnert sich Grau.

Sie legten uns Jacken über den Kopf und brachte uns zu ihrer Garnison.
Heinz-Dieter Gau

Es sind noch rund dreihundert Meter bis Österreich. Sie können sogar schon den Zug auf der anderen Seite der Grenze hören, als ihnen urplötzlich zwei junge tschechische Grenzer im Weg stehen. Einer hält die Republikflüchtigen mit seinem Maschinengewehr in Schach, der andere holt Verstärkung. „Sie legten uns Jacken über den Kopf und brachte uns zu ihrer Garnison.“

Vier Wochen lang bleiben die beiden Riesaer in der CSSR. „Wir konnten uns in dieser Zeit nicht einmal waschen oder rasieren. Jeden Morgen und jeden Abend gab es eine trockene Scheibe Brot und ein wenig Kaffee-Ersatz aus einem verbeulten Aluminiumbecher.“ Grau wird bei Verhören auf einem Stuhl gefesselt, beschimpft. Sie schlagen ihn und spucken ihm ins Gesicht. „Nur nicht aufgeben. Wir kommen schon irgendwann rüber.“ 

Mit fünf weiteren sogenannten Grenzverletzern holt sie die Staatssicherheit in einer Maschine von Prag zurück in die DDR. Untersuchungshaft. Im April 1978 werden Grau und Kressler wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in schwerem Fall zu zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wird. Grau kommt ins Zuchthaus Cottbus. Kressler nach Brandenburg.

Achtzig Prozent der Häftlinge in Cottbus sind politische Gefangene

Achtzig Prozent der Häftlinge in Cottbus sind politische Gefangene, oftmals Flüchtlinge oder Ausreiseantragssteller. Grau sitzt mit neun Gefangenen in einer Zelle, die Etagenbetten sind dreistöckig. „Ich habe die Zeit als Marterzeit angenommen, wollte unauffällig bleiben“, sagt Grau.

Denn Rechtsanwalt Dr. Vogel setzt sich für seinen Freikauf ein. „Ich hatte ihm einen Brief geschrieben und habe im Gefängnis Antwort von ihm erhalten. Es hieß, ich solle mich ruhig verhalten, dann könnte ich nach der Hälfte der verbüßten Zeit in den Westen freikommen.“ Diese Aussicht gibt ihm Kraft.

Und doch sind die Monate in Haft hart. Grau wird zur Häftlingsarbeit herangezogen, er produziert kleine Federn für Pentacon-Fotoapparate. Tagein, tagaus. Große Hoffnung schöpfen die Häftlinge, wenn Klopfzeichen durch die Gefängnisflure hallen. Sie stammen aus den Zellen, aus denen soeben einzelne Häftlinge herausgeholt worden sind. Dann wird wieder ein Transport in den Westen zusammengestellt.

Es sind sogenannte Scheintransporte, Psychotricks des Regimes

Manchmal aber währt die Hoffnung nur kurz: „Häftlinge wurden aus der Zelle geholt – und nach zwei Stunden wiedergebracht. Viele hatten da schon ihr gesamtes Hab und Gut an die Kameraden verschenkt, weil sie dachten, jetzt in den Westen zu kommen“, erinnert sich Grau. Mit den Menschen wird gespielt. Es sind sogenannte Scheintransporte, Psychotricks des Regimes.

Und auch Graus längst beschlossener Freikauf verschiebt sich. Weil er im Oktober 1978 auf dem Gefängnishof die Selbstverbrennung eines verzweifelten Häftlings miterlebt, wird der Freikauf verschoben. Die Stasi will Zeit gewinnen, bevor der Vorfall in der Westpresse erscheint.

Erst nach 15 Monaten in Haft ist es so weit. Dieter Grau kommt endlich raus aus dem Knast. Und aus der DDR. Er wird im Februar 1979 vom Westen freigekauft. Seine letzte Haftwoche verbringt er in Karl-Marx-Stadt auf dem Kaßberg. Dort werden Grau und die Mithäftlinge geradezu aufgepäppelt. Sie werden medizinisch untersucht, erhalten gutes Essen und neue Kleidung.

Lkw-Fahrer bei den May-Werken in Erftstadt

Das alles soll den Westen über ihre wirklichen Strapazen täuschen. „Es war eben ein verlogenes System“, sagt Dieter Grau. Er landet später in Nordrhein-Westfalen in Bergheim, bekommt Arbeit als Lkw-Fahrer – unter anderem in den Maywerken in Erftstadt. Die ersten Jahre in Freiheit verbringt er damit, seinen Freunden in der DDR zu helfen – kämpft, bis auch sie frei sind.

Das, was die Staatssicherheit Heinz-Dieter Grau und seinen Freunden damals angetan hat, reicht, um bis heute nachzuwirken. Noch immer gibt es Nächte, in denen er Alpträume auszustehen hat und schweißgebadet aufwacht. Noch immer kann er das Erlebte nicht verwinden. Und doch sagt Heinz-Dieter Grau bescheiden: „Ich weiß, dass ich im Vergleich zu vielen anderen immer noch ganz gut davongekommen bin.“


Jens Ostrowski ist Autor des Buches „Hilferufe aus Riesa“ über die Riesaer Petition (220 Seiten, 50 Abbildungen, 29,90 Euro, ISBN 978-3000740169). Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Autor

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