Für einen Enkel wurde eine unerwartete Nachricht zu seinem im Krieg vermissten Großvater ein ganz persönliches Weihnachtswunder.
KriegsgefangenerWie ein lange vermisster Windecker endlich gefunden wurde

„Erst als mich die Bilder erreichten und ich den Namen meines Opas auf dem Grabstein las, begann ich zu realisieren, dass aus einer Millionenzahl von Schicksalen, jenes Eine gefunden war...“
Copyright: Ralf Neukirchen
Pfarrer Ralf Neukirchen, Jahrgang 1971, aufgewachsen in Altwindeck, erhielt 2020 endlich Gewissheit über das Schicksal seines in der ehemaligen Sowjetunion gefallenen Großvaters. Der Enkel erinnert sich.
Gibt es Wunder? Schwer zu sagen, obwohl ich früher als katholischer Pfarrer in Köln-Chorweiler wirkte. Jedenfalls kenne ich Zeiten, in denen ich wundersamen Geschichten sensibler zuhöre. Weihnachten gilt als Wunderzeit. Über die Feiertage 2020 erlebte meine Familie etwas Wunderbares. Davon möchte ich erzählen. Doch der Reihe nach. Denn viele Fäden weben hier eine wundersame Geschichte.
Im Dattenfelder Siegtaldom gab es ein Buch mit den Namen der Gefallenen beider Weltkriege. Dieses Buch hatte es mir von Jugend auf angetan. Dort fand sich zweimal der gleiche Name: Johann Michels. Es ist der Name von Vater und Sohn – meines Urgroßvaters und meines Großvaters. Der Erste starb im Ersten Weltkrieg bei Sedan, sein Sohn im Zweiten Weltkrieg in russischer Kriegsgefangenschaft.
Verstorben im Lazarett des Lagers Kustina
Kaum eine Familie, die angesichts von Kriegen nicht ein trauriges Schicksal verbindet. Viele wissen bis heute nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen. Alles, was wir hatten, war die Eidesstattliche Erklärung eines Heimkehrers, der 1949 versicherte, zusammen mit meinem Opa Johann Michels bis 1947 in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen zu sein. Er bezeugte, dass dieser im Lazarett des Lagers Kustina verstorben sei.
Über ein halbes Jahrhundert lang war das alles, was wir wussten. Ich finde, das ist schon viel. Denn als am 8. Mai 1945 die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapitulierte, war der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende und weltweit wurden 55 Millionen Tote gezählt, darunter 20 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Mir schien es schlicht unmöglich, aus einer solch unvorstellbaren Zahl von Schicksalen das eines Einzelnen herauszufinden.

Pfarrer Ralf Neukirchen erhielt an Weihnachten 2020 endlich Gewissheit über das Schicksal seines Großvaters.
Copyright: Sylvia Schmidt
Es war ein guter Bekannter, der sich im Laufe der Jahre an verschiedene Dienststellen wandte, um etwas über den Verbleib vermisster oder gefallener Windecker zu erfahren. Lange Jahre blieben Anfragen nach dem genaueren Verbleib meines Großvaters Johann Michels, etwa beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, weitestgehend ergebnislos.
Im Oktober 2003 erreichte uns ein Schreiben der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, in dem auf eine mögliche Kriegsgefangenenakte hingewiesen wurde. Sie könne Informationen über die Stationen der Kriegsgefangenen und den Sterbe- und Grablageort enthalten. Wir erfuhren, dass Johann Michels in den letzten Kriegstagen am 2. Mai 1945 (in Berlin) in Gefangenschaft geriet.
Unterschrift als letztes persönliches Lebenszeichen
Zwischenzeitlich waren durch die veränderten politischen Verhältnisse mehr Informationen zugänglich. Die Politik Gorbatschows erlaubte die Einsicht in russische Archivquellen. Im April 2012 erreichte meine Familie über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes schließlich die digitalisierte russische Kriegsgefangenenakte meines Opas. Seine Unterschrift unter dem sechsseitigen Dokument ist das letzte persönliche Lebenszeichen, das wir von ihm haben.
Die Akte schließt mit der amtlichen Bestätigung seines Todes im Kriegsgefangenenlager. Todesursache: Lungenentzündung. Russischsprachige Gemeindemitglieder halfen mir bei der Übersetzung. Fast 70 Jahre nach Kriegsende tauchte dieses Dokument unerwartet aus der Vergangenheit auf. Für mich mit tiefgreifenden Folgen. Denn nicht zuletzt diese Erfahrungen führten mich auf die Spurensuche nach Frieden.
Ich, der Enkel, von dem er nie etwas wusste, halte 65 Jahre nach seinem Tod die russischsprachige Kriegsgefangenenakte meines Opas in meinen Händen und bin tief bewegt. Was kann ich bewirken in einer Welt, die immer heftiger von blutigen Konflikten, Streit und Hass erschüttert wird? Was kann ich tun, um Frieden und Versöhnung zu fördern?

Das letzte Bild der jungen Familie Michels um 1944/45. Johann Michels mit seiner Frau Josefa und der gemeinsamen Tochter Rita.
Copyright: Ralf Neukirchen
Ein altes Sprichwort weiß ja, was auf dem Spiel steht: „Krieg verzehrt, was Friede beschert.“ Krieg ist leichter angefangen als beendet. Versöhnung braucht Orte der Trauer, der Ehrlichkeit, des Zuhörens und den Mut zum ersten Schritt. Ein Friedensschritt war für mich der Guss der Chorweiler Friedensglocke 2014. Ich weiß nicht, was mein Opa dazu sagen würde – aber seine Unterschrift unter das Dokument, das seinen Tod bezeugt, ist mir ein Mahnmal für den Weg der Versöhnung.
Ob sich der Himmel an der Suche nach meinem Großvater beteiligt hat? Ich weiß nur, dass ich den Himmel daran beteiligt habe. Mit einem Ikonenmalkurs fuhr ich 2018 nach Russland. Als ich die endlosen Wälder und Wiesen dieses (weiten) Landes an mir vorüberziehen sah, dachte ich auch an das furchtbare Leid, das der Krieg über die Menschen gebracht hatte. Und an „Opa Johann“, der in diesen Wahnsinn verwickelt gewesen war. Er war mein stiller Reisebegleiter.
Einer Vorahnung folgend hatte ich von der russischen Kriegsgefangenenakte die kyrillischen Buchstaben seines Namens „abgemalt“. Nur für den Fall, dass es möglich sei, für ihn ein Friedensgebet zu erbitten. Schließlich konnte ich am östlichsten Punkt der Reise, im Ipatios-Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit in Kostroma Gottesdienste für ihn feiern lassen.
Verborgene Kräfte des christlichen Glaubens gespürt
Die kyrillischen Buchstaben seines Namens schrieb ich auf den in der orthodoxen Kirche üblichen Gebetszettel, übergab ihn dort und zündete auch eine Kerze an. Die Verantwortlichen klärte ich darüber auf, dass wir römisch-katholisch seien. „Das ist kein Problem!“, erklärte man mir. Zu erleben, wie die Kirche vor Ort das Gebet auch für die ehemaligen Feinde wagte, hat mich tief bewegt und verborgene Kräfte des christlichen Glaubens spüren lassen.
Wieder daheim verlief der Alltag in seinen gewohnten Bahnen. Bis kurz vor Weihnachten 2020 eine russischsprachige Frau aus Chorweiler ganz aufgeregt bei mir anrief. Ich hatte sie 2018 gebeten, die Gefangenenakte einmal nach möglichen Hinweisen auf die Grablege abzutasten. Kurz vor Weihnachten traf sie in der Bahn zufällig auf einen alten Arbeitspartner. Die beiden kamen ins lockere Gespräch. Wie es so geht, und wer woher kommt. Der Gesprächspartner stammte aus Koroljow, einem Stadtteil 20 Kilometer nordöstlich von Moskau.
Weihnachtstelefonat ging zu Herzen
Koroljow? Hatte sie bei ihrer Suche nicht von einem Friedhof mit Namen „Staroy Kladbishe bolschewskoye“ in der Nähe gelesen? Der Mann stutzte. Woher sie denn den Namen des alten Friedhofes seines Stadtteils kenne, fragte er verwundert. Sie erzählte ihm aufgeregt von der Suche. Er erinnerte sich, dass vor einigen Jahren dort ein Mahnmal errichtet worden sei. Da er über die Weihnachtstage zu einem Familienbesuch nach Koroljow fahren wollte, nahm er sich vor, dort einmal kurz vorbeizuschauen.
Was er dort „fand“ ist unser kleines Weihnachtswunder. Auf einem Grabstein taucht der Name meines Opas Johann Michels – wie aus dem Nichts – auf. Geburtsdatum und Sterbedatum stimmen mit der Kriegsgefangenenakte überein. Selten ist mir ein Weihnachtstelefonat so zu Herzen gegangen: „Ich glaube, wir haben Opa gefunden!“
