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Sensation vor 50 JahrenDr. Gewalt und seine Jagd auf den Moby Dick vom Rhein

Lesezeit 6 Minuten
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Duisburgs Zoodirektor Dr. Wolfgang Gewalt scheiterte mit seinen Versuchen, den Wal zu fangen.

  1. Vor 50 Jahren taucht im Rhein bei Duisburg ein vier Meter langer Wal auf.
  2. Unter riesiger Anteilnahme der Bevölkerung schwimmt der Meeressäuger vier Wochen lang in dem Fluss auf und ab.

Bonn – Der Funkspruch, den die Besatzung des Tankschiffs „Melani“ absetzte, klang schon ziemlich karnevalistisch: „Ungeheuer im Rhein“, funkten die beiden Rheinschiffer Bernd Albrecht und Willi Dethlevs am 18. Mai 1966 bei Stromkilometer 778,5 in Höhe Duisburg-Neuenkamp an die Wasserschutzpolizei. Die verordnete den beiden Herren als Erstes mal einen Alkoholtest. Ergebnis: Negativ. Und statt „Karneval am Rhein“ gut vier Wochen „Karnewal im Rhein“.

Das vermeintliche Rhein-Ungeheuer entpuppte sich  als vier Meter langer Belugawal, der sich im seinerzeit noch stinkenden und modrigen Rhein verirrt hatte. Dessen spektakuläre Sichtung geriet zum Auftakt eines riesigen Schauspiels entlang des Rheinufers, das Tausende Schaulustige ausgerüstet mit Kameras  beobachteten. Und  das die ganze Republik vier Wochen lang in Atem hielt. In der Hauptrolle: Dr. Wolfgang Gewalt, damals 38 Jahre alt, und seines Zeichens frisch gekürter Direktor des Duisburger Zoos.

Attraktion fürs Duisburger Aquarium

Der eilig herbeigerufene ehrgeizige Zoologe witterte die Riesenchance, den Meeressäuger als neue sensationelle Attraktion in seinem Aquarium zu präsentieren. Überliefert sind seine  Worte, die er ausrief, als er des Meeressäugers ansichtig wurde: „Mann ist det een Wurm.“ Mit viel Improvisationstalent besorgte Dr. Gewalt sich bei seinem Tennisclub jede Menge ausrangierter Netze, die er aneinander knotete, um anschließend an Bord des Polizeibootes „Wiking 10“ die rheinische Treibjagd  auf das orientierungslose Tier aufzunehmen. Aber so billig ließ sich der Wal, der von Bevölkerung und Presse  „Moby Dick“ getauft wurde, nicht einfangen und entwischte immer wieder gekonnt.

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Der ehemalige Kapitän Werner Proff steht am Steuerrad eines Schiffes im Schifffahrtsmuseum in Kamp-Bornhofen. Der heute 77-jährige hatte vor 50 Jahren mehrfach den weißen Wal gesehen, der sich in den Rhein verirrt hatte und bis nach Bonn geschwommen war.

Also zog Dr. Gewalt das nächste Register: Mit einer Narkosepistole zielte er auf den Wal, um das Betäubungsmittel Combilen unter den Speck zu injizieren. Zweimal traf der Zoodirektor, ohne dass das bei dem Wal eine spürbare Wirkung erzielte.

Alle gegen „Dr. Gewalt“

Wirkung erzielte die martialische Aktion dafür  beim Publikum: Sie sorgte dafür, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippte.   Mit Pistolen auf  Wale schießen, das brachte die mitleidige Menschenmeute am Ufer, die vorher noch gebannt die Jagd betrachtet hatte, gegen den vermeintlichen Tierfreund auf. Erst recht als der Medienstar Moby Dick für längere Zeit nicht mehr an der Wasseroberfläche auftauchte.

„Plötzlich waren alle gegen Doktor Gewalt“, erinnert sich Heiner Lassé (65), der das Spektakel als 15-jähriger Jugendlicher zunächst vor dem heimischen Fernseher in Düsseldorf bei „Hier und heute“ verfolgte und auf dem Sofa mitfieberte. Selbst die Politik mischte sich jetzt ein. Franz Meyers (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, forderte in Interviews: „Lasst den Belugawal in Ruhe“. Oppositionsführer Heinz Kühn (SPD) hielt mit „Fangt ihn und bringt ihn dorthin zurück, wohin er gehört“ dagegen. Als dann  die „Bild“-Zeitung, die täglich vom Rheinufer berichtete,  auf der ersten Seite titelte „Verhaftet Dr. Gewalt“ erkannte der Zoologe seine fatale Lage und änderte seine Jagdstrategie. Nun ließ er seinen Affenwärter Franz Schramke mit Pfeil und Bogen anrücken, um Moby Dick einen einzelnen Pfeil unter den Speck zu jagen, an dem er ein Seil mit einer orangen Boje befestigt hatte, um sich über den Aufenthaltsort des Tieres auf dem Laufenden zu halten.

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Uta Schmitz vor ihrem Schiff

Dabei hatte er die Rechnung ohne die Duisburger gemacht, die vom Ufer kistenweise Apfelsinen ins Wasser warfen, damit Jäger Gewalt vor lauter potenzieller Bojen die Übersicht verliert. Einige Tierschützer charterten  einen Hubschrauber, um Gewalts Walfang-Flotte mit Orangen zu bewerfen. Auch Reporter, die das Spektakel von oben aus einem Luftschiff beobachteten, beteiligten sich an der Apfelsinen-Schlacht. Dann tauchte der Wal ab und wurde fast einen Monat nicht  gesehen.

Bis er am 10. Juni rheinaufwärts in Düsseldorf gesichtet wurde. „Meine Eltern und ich waren  bei einem Ausflug zufällig auf Höhe der Pegeluhr, als plötzlich ganz viele Leute mit dem Finger auf den Rhein zeigten. Da zeigte sich das Riesenvieh und stieß seine Fontäne aus“, erinnert sich Heiner Lassé. Hier hielt sich Moby Dick aber auf seiner Deutschlandreise nicht lange auf, schließlich hatte er noch eine politische Mission.

Kurztrip am Kölner Dom vorbei

Über einen Kurztrip am Kölner Dom vorbei (11. Juni) steuerte der Meeressäuger zielgenau die Bundeshauptstadt Bonn an. „Ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre“, erzählt die Bonnerin Uta Schmitz, die an diesem Tag mit ihrem Passagierschiff „Stadt Beuel“ unterwegs war. „Meine Schwiegermutter und ich machten gerade die Restauration. Plötzlich auf Höhe Bad Godesberg neigte sich das Schiff, weil alle  Passagiere gleichzeitig an die Reling stürzten. Die hatten Moby Dick erblickt.“  Der habe die Ruhe weggehabt. Ein unvergesslicher Moment sei das gewesen, erinnert  sich Uta Schmitz.

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Die Wasserpolizei bei dem vergeblichen Versuch, den Wal mit einem Netz einzufangen. Alle Versuch, das Tier zu fangen, scheiterten und es entwischte - wahrscheinlich in fridliche holländische Gewässer.

Kurze Zeit später hat Moby Dick dann noch quasi als Finale seines Rhein-Ausflugs einen großen Auftritt vor der hohen Politik. Einige Zeitgeist-Forscher dokumentierten diesen Auftritt gar als  Geburtsstunde der deutschen Umweltpolitik: In der Bundespressekonferenz ging es an diesem Tag hoch her, weil Frankreich das Nato-Bündnis in Atem hielt. Präsident de Gaulle hatte den Oberbefehl über die US-Streitkräfte in seinem Land verlangt und wollte  die französischen Nato-Truppen in Deutschland seinen Generälen unterstellen. Deutschland würde so wieder ein besetztes Land, befürchtete etwa Franz-Josef Strauß. In dieser aufgewühlten Gemengelage trat Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel vor das Mikrofon, als sich plötzlich Saaldiener Karl-Heinz Schmitt durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum nach vorne drängte, um etwas mitzuteilen. „Ich erhalte soeben die Nachricht, dass Moby Dick vor dem Bundeshaus ist“, verkündete daraufhin der Pressechef durchs Mikrofon.

Der schlechte Zustand von „Vater Rhein“

Damit ist die Machtpolitik  im Hohen Hause erst mal passé: Mehr als hundert Journalisten, der Minister, der Pressechef und Abgeordnete – alle stürzten sie aus dem Raum und runter zum Rhein, um dort den schwimmenden Medienstar zu bewundern und ihn gar mit den belegten Brötchen des Bundestages näher ans Ufer zu locken.

Der Wal schwamm ruhig auf und ab und blies eine Fontäne in die Luft. Zog am Auswärtigen Amt, am Kanzleramt und am Bundespräsidialamt vorbei. Damit hatte Moby Dick seinen Auftrag erfüllt: Nämlich vor den Augen der Öffentlichkeit und im Zentrum der Bundespolitik auf den Zustand des Rheins aufmerksam zu machen. Tierfilmer und Verhaltensforscher Bernhard Grzimek hatte  zuvor schon in den Medien  dafür geworben, den Blick auf die eigentliche Tragödie zu richten: Moby Dick habe doch Glück gehabt, ein Wal zu sein. Als Fisch, der das giftige Dreckwasser des Rheins durch die Kiemen hätte atmen müssen, wäre er vermutlich eingegangen, mutmaßte Grzimek.

Fachleuten war seit Jahren bewusst, in welch schlechtem Zustand sich „Vater Rhein“ befand.  Anfang der sechziger Jahre berichteten niederländische Bauern, dass sich sogar ihr Vieh weigere, aus dem Rhein zu trinken. Das sauerstoffarme und giftige Wasser war von Zuckmücken, Würmern und Pilzen besiedelt, die einen durchdringenden Abwasser- und Schwefelgestank produzierten. Fische lebten im Rhein kaum noch.

Die Begegnung mit dem Wal bewirkte zwar noch kein sofortiges Umdenken, aber es machte die Deutschen offener dafür, den Handlungsbedarf bei dem nach Ammoniak, Moder und Schiffsdiesel stinkenden Fluss anzuerkennen. Nach seinem Bonner Auftritt machte Moby Dick kehrt und schwamm zügig rheinabwärts bis er schließlich im offenen Meer verschwand.

Uta Schmitz und ihren Mann Dieter ließ die Faszination an dem Wal auch lange danach nicht los:  „Ich bin heute noch froh, dass Moby Dick gerettet wurde. Für mich bleibt das ein Wunder, dass das Tier so lange im Rhein überlebt hat“, sagt sie. Zum Gedenken an den Wal ließ das Ehepaar ein knapp 500 Passagiere beherbergendes Schiff in Form des Meeressäugers bauen: „Moby Dick“ schippert bis heute  zwischen Bonn und Koblenz über den Rhein.