Arzt im türkischen Erdbeben-Gebiet„Ganze Städte sehen aus wie in einem Horrorfilm“

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Einen Monat nach dem Erdbeben werden immer noch Menschen vermisst, sehr viele sind obdachlos geworden.

Einen Monat nach dem Erdbeben werden immer noch Menschen vermisst, sehr viele sind obdachlos geworden.

Traumatisierte Menschen, zertrümmerte Städte: Ein deutscher Arzt erzählt von seinem Einsatz in einem Zeltdorf der türkischen Stadt Antakya.

Die Erdbeben in der Türkei und in Syrien wirken noch immer nach: Etliche Menschen sind obdachlos, haben Angehörige verloren, sind traumatisiert. Wjahat Waraich aus Hannover hat als Arzt in einem Zeltdorf der türkischen Stadt Antakya Erdbebenopfer versorgt. Im RND-Interview berichtet er vom Einsatz, der auch Helferinnen und Helfer an ihre Belastungsgrenzen bringt.

Der Sonnenschein sei zurzeit das einzige Schöne an diesem Ort, sagt Wjahat Waraich. Er steht inmitten eines Zeltdorfs in der türkischen Stadt Antakya, als wir am vergangenen Dienstag per Video verbunden sind. Hinter ihm ragen schmale Strommasten empor, auf dem sandigen Boden stehen weiße Zelte, vor denen Menschen auf Plastikstühlen sitzen, sich unterhalten, oder vor denen sie ihre Wäsche trocknen. Ihr letztes Hab und Gut. Waraich trägt an diesem Tag eine blaue Warnweste, um seinen Hals hängt ein Stethoskop, auf dem Kopf hat er eine Käppi mit der Aufschrift „Humanity First“. Es ist der Name der Hilfsorganisation, für die er tätig ist. Noch bis Samstag wird der 35-Jährige aus Hannover ehrenamtlich als Arzt in dem Zeltdorf arbeiten, wo er Menschen versorgt, die wegen der Erdbeben vor mehr als einem Monat ihr Zuhause verloren haben.

Herr Waraich, was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie in Antakya angekommen sind?

Wjahat Waraich: Die ersten Eindrücke waren schon katastrophal und verheerend. Ganze Städte sind zerstört – und zwar nahezu vollständig. Sie sehen aus wie in einem Horrorfilm. Leere Städte, nur noch Schutt und Trümmer, in denen jetzt erste Bauarbeiten stattfinden. (Hinter ihm fährt ein Bagger vorbei.) Viele Menschen haben alles verloren, sind obdachlos geworden, mussten beerdigt werden. Das ist eine sehr schlimme Situation, auch eine sehr traurige.

Wie ist das für Sie, diese Not vor Ort zu sehen und mitzuerleben?

Ich bin seit 13 Jahren mit der Hilfsorganisation Humanity First bei verschiedenen internationalen Einsätzen gewesen – in Afrika oder zuletzt an der polnisch-ukrainischen Grenze, um den Kriegsgeflüchteten zu helfen. Das waren jedes Mal schlimme Eindrücke. Aber dies ist sicherlich einer der traurigsten Orte, an dem ich je gewesen bin. Selbst wenn man hier vor Ort ist, ist es schwer zu fassen, was die Erdbeben angerichtet haben, welche Dimensionen und Wucht sie hatten. Ich habe gerade einen Patienten in der Ambulanz versorgt, der zwölf Familienangehörige bei den Erdbeben verloren hat. Zwölf. Das sind sehr traurige Geschichten, die einen natürlich nicht kaltlassen. (Eine Sirene heult auf.) Und trotzdem muss man professionell bleiben.

Wie genau helfen Sie den Menschen vor Ort?

Meine Aufgabe ist es, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die Menschen haben zum Teil Schnitt- und Wundverletzungen, die versorgt werden müssen. Gerade ist es sonnig und warm, aber nachts kühlt es schon ziemlich herunter. Wenn man ständig dieser Kälte ausgesetzt ist, ist man anfälliger für Krankheiten, vor allem Kinder. Deshalb müssen wir auch Atemwegserkrankungen behandeln. Und es gibt chronisch Kranke, die Medikamente seit Wochen nicht nehmen konnten. Ich hatte gestern … Entschuldigung, jetzt kommt hier wieder ein Bagger vorbei. (Ein Bagger fährt hinter ihm entlang.) Ich hatte gestern einen Diabetespatienten, der eigentlich immer gut eingestellt war mit seinen Medikamenten, aber seit den Erdbeben einen hohen Blutzuckerspiegel hat. Das zeigt, dass diese Stresssituationen, diese Traumata gerade bei chronisch Kranken dazu führen, dass sich die Grunderkrankungen verschlechtern. Wir kommen jetzt zunehmend in die Phase, in der die psychischen Traumata immer mehr hervortreten, weil die Menschen aus dieser anfänglichen Schockstarre erwachen.

Das heißt, die Erdbeben haben nicht nur physische Verletzungen hinterlassen, sondern auch psychische.

Absolut. Die Menschen sind größtenteils traumatisiert. Alle, die in dem Zeltdorf untergekommen sind, haben alles verloren, sind obdachlos. Viele haben immer noch die Hoffnung, dass ihre Angehörigen in den Kliniken – die wenigen, die es noch gibt – erfolgreich behandelt werden. Man muss sagen, die emotionale Bindung der Menschen zu Antakya ist sehr groß. (Ein Kind schreit im Hintergrund.) Niemand will aus dieser Region wegziehen, weil sie wissen, hier stand mein Haus, hier hatte ich ein Leben. Sie gehen teilweise, in der Hoffnung, dass sie noch etwas retten können, zu ihren Häusertrümmern und versuchen, mit bloßen Händen die Steine wegzuräumen, um noch irgendetwas an Hab und Gut zu finden. Erst gestern habe ich wieder gesehen, wie ein Mann und seine Frau in den Trümmern gewühlt haben.

Können Sie diese psychologische Betreuung, die die Menschen jetzt brauchen, überhaupt leisten?

Die türkische Regierung hat Städte und Universitäten damit beauftragt, Psychologen und Psychotherapeuten zu entsenden, die dann hier ein paar Tage vor Ort sind. Das funktioniert, aber es ist nach wie vor zu wenig. Dabei wird die psychologische Betreuung immer wichtiger. Gerade jetzt, wo vermehrt Menschen über ihre Schicksale sprechen wollen und auch müssen, um sie zu verarbeiten.

Was unterscheidet diesen Einsatz von den anderen, die Sie bisher absolviert haben?

Bei Kriseneinsätzen ist das Leid der Menschen immer groß und immer unmittelbar zu spüren. Meine Aufgabe als Arzt ist es, den Menschen in ihrer Not mit meinen Fähigkeiten und mit meinem Wissen so gut zu helfen, dass zumindest die gesundheitlichen Leiden die Seele nicht zusätzlich belasten. Aber es ist schon ein Unterschied, ob man an der polnisch-ukrainischen Grenze Kriegsgeflüchtete versorgt oder in ein akutes Erdbebengebiet kommt, wo auf einen Schlag – die Beben dauerten wenige Minuten – so viel Trauer ist und zusätzlich die Landschaften so aussehen, wie es den Menschen geht. Das in Kombination macht dieses Erdbebengebiet sehr belastend.

Ist das Ihr erster Einsatz in einem Erdbebengebiet?

Ja, ist es. Und es gibt immer noch Nachbeben. Gestern Nacht waren es drei Stück. Die spürt man auch. Es sind keine Beben, bei denen man stürzt. Sie sind schwach, aber trotzdem bin ich in der ersten Nacht durch ein solches Beben aufgewacht. Ich dachte erst mal, das Zelt fliegt weg. Das sind noch einmal ganz neue Eindrücke und Erfahrungen, die ich hier sammele. Für Menschen, die in Deutschland leben, wo Erdbeben fast gar keine Rolle spielen, lässt sich die Situation in der Türkei kaum nachvollziehen. Aber es ist wichtig, dass auch die Menschen in Deutschland über die Dimensionen des Erdbebens Bescheid wissen.

Warum?

Weil wir als eine der reichsten Industrienationen einen wichtigen Beitrag leisten können, das Leid der Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien zu lindern. Wir sollten uns mit den Betroffenen solidarisch zeigen und sie – so gut wir können – unterstützen. Dabei geht es nicht um eine Pflicht, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen. Die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland stellen die größte Minderheit. Sie sind seit Jahrzehnten ein wichtiger Teil Deutschlands und unserer Gesellschaft. Viele haben Angehörige in der Türkei verloren. Es gibt daher eine menschliche, politische, aber auch gesellschaftliche Dimension, die uns auffordert, Unterstützung zu leisten. Insbesondere der Staat muss hierbei seiner Verantwortung gerecht werden. Im Fußballstadion von Antakya gibt es eine Essensausgabe und da habe ich Köche getroffen, die zwei Wochen Urlaub genommen haben, um die Menschen mit Essen zu versorgen. Auch ich habe für diesen Einsatz Urlaub genommen. Die deutsche Politik muss endlich handeln, denn die deutsche humanitäre Hilfe baut zum großen Teil auf ehrenamtliche Helfer. Während humanitärer Einsätze sollte daher ein gesetzlicher Anspruch auf Lohnfortzahlung bestehen. Sonst muss man den Einsatz als Urlaub geltend machen, der in Deutschland als gesetzlicher Erholungsurlaub gilt. Und ich behaupte mal, dass das hier keine Erholung ist.

Wie lange, glauben Sie, wird die Notlage in der Türkei noch andauern?

Ich kann Ihnen sagen, es ist nicht damit getan, den Schutt und die Trümmer aufzuräumen und die Häuser neu zu bauen, sondern es braucht auch eine neue Infrastruktur. Das Ganze ist nicht in zwei, drei Wochen vorbei, sondern die Katastrophe wird die Türkei sicherlich mehrere Jahre beschäftigen. Von daher braucht es langfristige Hilfe. Jetzt geht es erst mal um die Grundversorgung. Wie die Situation langfristig aussehen wird, wird man sehen. Aber viele Menschen sind schon jetzt hoffnungslos. 

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