Corona-PandemieEine Bilanz des schwedischen Sonderwegs

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Schweden Café Corona

Menschen sitzen im April 2020 in Stockholm vor einem Eiscafé.

Stockholm – Die Sonne scheint auf Stockholm. 17 Grad. Sommer im Anmarsch. In der Aarstabucht auf Södermalm glitzert in diesen Tagen das Wasser verträumt vor sich hin. Noch ist es zu kalt zum Baden. Aber auf der Wiese am Wasser drängen sich mal liegende, mal sitzende Menschen. Gut gelaunt und dicht an dicht genießen sie am Ufer ganz selbstverständlich den Sommer. Ohne Abstand. Ohne Masken. Wer ein eindrückliches Bild vom schwedischen Sonderweg in der nun bereits weit mehr als ein Jahr andauernden Pandemie sucht, ist an dieser Bucht genau richtig.

Die 27-jährige Paulina blickt von der Brücke nach Liljeholmen auf die Menschen auf der Liegewiese hinunter. „Es ist so, als gäbe es kein Corona in Schweden. So war das fast die ganze Zeit“, sagt die Stockholmer Psychologiestudentin. Es schwingt Verwunderung in ihren Worten mit, aber auch etwas Stolz. „Nur vor Weihnachten war die Angst spürbar. Im Supermarkt machten die Leute auf einmal größere Bögen umeinander. Aber ohne Masken. Man wollte die Eltern nicht anstecken. Zum Osterbesuch war die Vorsicht dann wieder weg“, sagt Paulina.

Bis heute keine Maskenpflicht in Schweden

Tatsächlich haben sich die Schweden in der Zeit der größten Krise einen besonderen Ruf erworben. Bis heute gab es in Schweden keine Maskenpflicht, auch einen härteren Lockdown hat es in dem skandinavischen Land – anders als im Rest Europas – bisher nicht gegeben. Es gab auch keine Hamsterkäufe, keinen Klopapiermangel wie im Rest Europas, kein apokalyptisches Lebensgefühl. Fitnessstudios, Kinos, Kindergärten und Schulen bis einschließlich neunter Klasse blieben geöffnet. Und freilich auch die Friseure. In denen ließen sich ausländische Lockdownflüchtlinge „gleich nach der Ankunft die Haare schneiden“, erinnert sich Ewa Karlgren (41) vom Salon Hargänget in Södermalm amüsiert.

Auf deutschen „Querdenken“-Demos wehen deshalb regelmäßig schwedische Fahnen. „Wir Schweden haben nicht richtig verstanden, wie groß das alles in der ganzen Welt gespielt wird“, räsoniert Taxifahrer Nisse Olsson (68), der seine Gäste zu den Beatles aus dem Radio transportiert. Natürlich ohne Mund-Nasen-Schutz oder gar Plexiglasscheiben vor der Fahrerkabine.

Zum 1. Juni nun fallen weitere Beschränkungen. Schweden macht sich noch lockerer. Und das trotz Inzidenzen von aktuell über 140 Infektionen pro hunderttausend Einwohner – so viel also wie in Deutschland vielerorts inmitten der dritten Welle. Insgesamt sind in Schweden mit 1430 Menschen pro einer Million Einwohner deutlich mehr Menschen gestorben. In Deutschland waren es mit 1050 (pro Mio. Einwohner) viel weniger.

Was überwiegt: Licht oder Schatten?

Was also ist nun, nach mehr als einem Jahr Corona-Epidemie und ihrem hoffentlich baldigen Ende, von dem schwedischen Sonderweg zu halten? War es tatsächlich das riskante und mitunter tödliche Experiment, das „russische Roulette“, als das es seine Kritiker beschreiben? Oder ist es letztlich in Wahrheit doch ein Lehrstück für freiheitliche Gesellschaften und Eigenverantwortlichkeit der Bürger, als das es die Bewunderer sehen? Oder ist es ein Mittelding aus Licht und Schatten?

Verantwortlich für den ungewöhnlichen Kurs ist Schwedens Chefepidemiologe Anders Tegnell. Der Wissenschaftler ist nicht nur Ratgeber der Regierung, er ist vergleichsweise direkt für die Corona-Bekämpfung zuständig. Er hat durchaus wahrgenommen, dass sein Kurs im Ausland viel Kopfschütteln hervorgerufen hat. „Der schwedische Weg stellt die jeweils eigene Strategie anderer Länder infrage. Das wollte ein Teil der Auslandspresse vermeiden, so zumindest meine Vermutung“, sagt Tegnell.

Die Bevölkerung zumindest steht in der großen Mehrheit hinter dem Epidemiologen. Schweden habe Corona im Griff und sei die richtige Strategie gefahren, sagen die meisten Menschen in Umfragen. Dies trotz hoher Inzidenz und des schwedischen Königs Carl XVI. Gustaf, der die Strategie für „gescheitert“ erklärte.

Altenheime zu spät geschützt

Allerdings hat sich das Bild in den vergangenen Monaten zunehmend differenziert. So ist man auch in Schweden mittlerweile der Meinung, dass das konsensorientierte Land in einem Punkt tatsächlich versagt hat. Und zwar ganz am Anfang. Die Regierung schützte die Altenheime zu spät. Allein in Stockholm gelangte das Virus zeitweise in über ein Drittel aller Heime und brachte über infiziertes Pflegepersonal den Tod über die Bewohner. Insgesamt lebte rund die Hälfte aller 14.500 Covid-Toten Schwedens in Altenheimen. Viele von ihnen starben in der ersten Phase. Als dann endlich Masken für Pfleger besorgt worden waren, verweigerte die Gewerkschaft zunächst ihre Zustimmung. Wegen verschlechterter Arbeitsbedingungen.

In Schwedens Altenheimen liegen besonders alte, besonders schwache Menschen. Der Wohlfahrtsstaat ermöglicht den Bürgern durch viel Unterstützung das Zuhausebleiben so lange wie nur möglich. Zudem sind Altenpfleger oft nicht fest angestellt und werden pro Stunde bezahlt. Sie kamen zum Pandemiebeginn auch mit leichten Symptomen oft ungeschützt zur Arbeit. Oftmals sind sie aus der ärmsten Gesellschaftsschicht, haben Migrationshintergrund und wohnen mit vielen auf engem Raum. In dieser Gruppe hatte sich das Virus zeitweise besonders stark ausgebreitet, laut Gesundheitsamt.

Tegnell verteidigt liberalen Weg

WHO-Nothilfechef Michael Ryan hält es aber für falsch, Schwedens Grundstrategie mit der anfänglich hohen Anzahl der Toten in den Altenheimen zu verbinden. Länder mit scharfen Verboten und Lockdowns hätten ähnliche Probleme gehabt: „So wie viele andere Länder in Europa wurde auch Schweden von einer Ansammlung von Erkrankungen in der Altenpflege getroffen. Das ist tragisch, aber nicht einzigartig. Eine Reihe von Ländern haben das Gleiche erlebt. Das muss genau untersucht werden. Die Alten sterben in ganz Europa.“

Anders Tegnell afp

Anders Tegnell

Staatsepidemiologe Tegnell verweist ebenfalls auf die Schwachstellen in den Altenheimen und verteidigt im Grundsatz den liberalen Weg. „Der Grund für die vielen Toten waren punktuelle Schwachstellen zum Beginn der Pandemie beim Infektionsschutz in Altenheimen“, sagt er. In der Tat stehen Schwedens zumeist privatisierte Altenheime seit Langem wegen schlechter Bedingungen in der Kritik. Das soll sich laut Parlament nun mit mehr Geld ändern.

Tegnell erklärt, man habe an dem liberalen Weg festgehalten und heute eine minimale Covid-19-Ausbreitung in Altenheimen. „Und die Ausbreitung in Altenheimen verschwand bereits, bevor die Ausbreitung in der Gesellschaft im Großen sank. Das sind klare Indizien dafür, dass auch die schwedische Strategie die Ausbreitung in Altenheimen verhindern kann. Ohne Lockdown. Zudem hatten einige europäische Länder relativ zur Gesamtbevölkerung höhere Todesraten als wir – trotz harten Lockdowns“, betont Tegnell.

„Es zirkuliert ein Mythos, dass Schweden besonders hart getroffen wurde“

Ein Vergleich der Universität Stockholm zur Übersterblichkeit in Europa für 2020 gibt Tegnell eher recht. Demnach hatten zwei Drittel aller europäischen Länder bedeutend höhere Übersterblichkeitsraten zu verzeichnen als Schweden – trotz deren harter Lockdowns. „Es zirkuliert ein Mythos, dass Schweden besonders hart getroffen wurde. Das stimmte für den Mai 2020. Aber jetzt nicht mehr“, sagt Studienleiter Fredrik Ljungqvist. Andere Länder, inklusive Deutschland, hätten leider stark bei Todeszahlen aufgeholt. Übersterblichkeit gilt als robuster Indikator, er zeigt, wie viel mehr Menschen im aktuellen Jahr gestorben sind im Vergleich zu den vergangenen vier Jahren.

Auch im Pandemieverlauf sind die Unterschiede zum Lockdown-Europa überraschend gering. Zum letzten Sommer sanken die relativen Covid-Werte für Tote und Intensivstationspatienten auch in Schweden deutlich ab. Genauso wie in Lockdownländern. Wie im Rest Europas stiegen sie dann wieder zur zweiten Welle Richtung Weihnachten an. Derzeit sind die Pandemiewerte landesweit wie auch in Lockdownländern rückläufig.

Doch schon seit Mitte August 2020 liegt Schwedens wöchentlich hinzukommende Totenanzahl (pro eine Million Einwohner) laut „Our World in Data“ zumeist gleichauf mit der deutschen Rate. Seit Anfang Februar sterben demnach in Schweden pro Woche sogar weniger Menschen (aktuell 1,2 je eine Million Einwohner) als in Deutschland (1,9).

Schweden profitiert von Impfrate und mehr Homeoffice

Wie ist das möglich? Vor allem die fortgeschrittene Impfung hat offenbar zur Entspannung beigetragen. 45 Prozent des Volkes haben ihre erste Dosis bekommen. 17 Prozent die zweite. Zudem ist Schweden viel dünner besiedelt als Deutschland. Vor allem jüngere Schweden erkranken nun, zumeist ohne gefährliche Symptome. „Bis zu 40 Prozent“ des Volkes haben laut Tegnells Schätzung Corona gehabt und seien immun. Das Gesundheitsamt spricht vom Ansatz einer Herdenimmunität, die in vielen Ländern als unrealistisch angesehen wird.

Außerdem gibt es auch ohne Lockdown viele freiwillige Vorsichtsmaßnahmen. So befand sich im Januar etwa jeder vierte Deutsche im Homeoffice. In Schweden waren es laut einer Umfrage mehr als die Hälfte (21 Prozent in Teilzeit, 32 Prozent in Vollzeit Arbeitende). Unterm Strich ist der Sonderweg also an einigen Stellen im Ergebnis gar nicht so sonderbar. Nur dass es in Schweden offenbar mehr Einsicht und dafür weniger staatliche Verordnungen gab.

In Schweden hielten sich in der Pandemie die Politiker aller Parteien von Anfang an sehr zurück. Die Zeitung „Expressen“ feierte Schwedens Herangehensweise, weil Fachmann Tegnell und nicht beliebtheitsabhängige Politiker entschieden. In der Tat: Die Experten des Gesundheitsamtes übernahmen fast vollständig das Steuerrad und orientierten sich teilweise am Management von früheren Epidemien, etwa in Afrika. „Ich glaube insgesamt nicht an Verbote“, sagte Schwedens Gesundheitsamtschef Johan Carlson. Seine Amtskollegen in anderen EU-Ländern würden hinter vorgehaltener Hand ähnlich denken und nicht glücklich über die Strategien ihrer Politiker seien, fügte er an.

Selbstmordrate zurückgegangen

Auch der 65-jährige Tegnell sieht seine Strategie nicht als gescheitert an. „Es gibt generell sehr wenig Evidenz für Maßnahmen gegen Pandemien. Es wurde oft unterstellt, dass Schwedens Modell noch weniger evidenzbasiert sei als die Lockdown-Modelle. Aber die Wahrheit ist, dass es auch für Effekte von Lockdowns kaum ordentliche, wissenschaftliche Erfahrungen gibt“, sagt er. Zwangsmaßnahmen für das ganze Volk seien „schwierig“.

Man müsse auf die gesamte Volksgesundheit schauen, nicht nur auf Corona. „Beispielsweise auf die Selbstmordrate, oder auch auf die Folgen, wenn schwer kranke Menschen wegen eines Lockdowns nicht zum Arzt gehen. Für Menschen ist es zudem gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden“, sagt Tegnell. Tatsächlich scheint Schweden hier besser gefahren zu sein. Die Selbstmordrate etwa ist im Jahr 2020 laut Statistikamt sogar zurückgegangen. Auch die Binnenwirtschaft brach nicht so stark ein.

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Bisherige Daten zeichnen auch ein nicht ganz so negatives Bild vom Verlauf der Pandemie in Schweden, wie es in manchen Berichten dargestellt wird. Das Hauptziel zumindest erreichte Schweden: Das Gesundheitswesen war nie überlastet.

Das Land konzentrierte sich zudem auf andere Indikatoren als Deutschland mit seiner inzwischen alles entscheidenden Inzidenzrate. „Man muss bei der Corona-Entwicklung auf die aktuelle 14-Tage-Rate der neuen Toten und der neuen Intensivstationspatienten schauen. Das sind verlässliche Indikatoren im Gegensatz zum Neuinfektionswert, der Inzidenz“, sagt Tegnell.

Die auf Testbereitschaft und Testmöglichkeiten basierende Inzidenz sei hingegen seiner Meinung nach „kaum aussagekräftig“. Sie variiere zu stark – je nach Testbereitschaft und Testzugänglichkeit. Deshalb schafft Schweden ab 1. Juni einen Teil der wenigen Restriktionen ab – trotz der hohen Inzidenz.

„Habt ihr keine Angst?“

Schon in den vergangenen Tagen allerdings waren nicht nur die sonnigen Ufer, sondern auch die Bars durchaus belebt. Die jungen Leute zeigen nicht besonders viel Furcht vor dem Virus. Zwar beherzigen die Schweden durchaus die Hygieneregeln. Und auch die Bitten, Menschenansammlungen zu vermeiden, befolgen viele. So waren U-Bahnen, Busse und Stadtzentren tatsächlich in all der Zeit deutlich leerer als sonst.

Und doch gibt es eben auch wieder Barleben, ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen – und ab dem 1. Juni auch wieder bis in den späten Abend. In der hippen Bar Tjoget etwa ist es am Freitagabend nicht gerade leer. Gläser klirren, Stimmengewirr, ein schrulliges Kichern von irgendwo. Am Fenster sitzen, wegen der lauten Musik dicht aneinander gedrängt, Ebba (32), Tove (28) und Agens (32) in Schlaghosen, dreistreifigen Turnschuhen und Dr. Martens. Die Neunziger sind zurück.

Habt ihr keine Angst? „Ach, jüngere Leute werden ja kaum krank vom Virus“, sagt Ebba und nippt an ihrem Whisky Sour, in dem ein einziger, fast das ganze Glas ausfüllender Eiswürfel schwimmt. Dann fügt die 32-Jährige hinzu: „Und der Staat hätte das hier ja verboten, wenn es gefährlich wäre.“ Genau das ist die strittige Frage.

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