Ein Jahr SturmfrisurDie Turbulenzen des Premierministers Boris Johnson im Überblick

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  • Eine Scheidung, eine Hochzeit und ein Baby: Nicht nur im Privaten, vor allem auch beruflich hat der britische Premierminister ein äußerst turbulentes Amtsjahr hinter sich. Einer der Hauptgründe für Turbulenzen ist dabei: er selbst.
  • Ein Porträt über den Politiker mit wirrem Haarschopf, der im Ruf steht, sich in seiner Arbeit mit unerfreulichen Details nur ungerne aufzuhalten – und der seinem Land einen irrsinnigen Herbst 2019 bescherte.

London – Als Boris Johnson vor einer gefühlten Ewigkeit, die tatsächlich laut Kalender aber doch nur ein Jahr dauerte, das Amt des Premierministers übernahm, trat er mit zwei Zielen an. Er werde die Briten aus der EU führen. Und das Königreich zum „großartigsten Ort der Erde“ machen. So versprach es der Chef-Optimist der Nation gewohnt unbescheiden.

Die Sache mit dem Brexit hat der konservative Regierungschef umgesetzt, am 31. Januar verließ Großbritannien offiziell die Staatengemeinschaft. Zwar streiten Brüssel und London fünf Monate vor dem Ende der Übergangsperiode derzeit erbittert um ein Freihandelsabkommen, aber Johnson steht nicht im Ruf, sich mit Details, noch dazu unerfreulichen, aufzuhalten. Vielmehr stilisiert sich der 56-Jährige gerne als Macher und Anheizer, Kritiker bezeichnen ihn dagegen eher als Unruhestifter und Clown, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Bei Alexander Boris de Pfeffel Johnson spalten sich die Meinungen – und das bis heute, auch wenn er es sich eigentlich vorgenommen hatte, die tief zerstrittene Gesellschaft zu einen.

Mit seinem zweiten großen Vorhaben, Stichwort bestes Land der Welt, sieht es gerade etwas schwieriger aus. Das Königreich gehört mit fast 46.000 positiv auf das Coronavirus getesteten Toten zu den am schwersten von der Pandemie betroffenen Staaten der Welt. Die gebeutelte Wirtschaft kommt nur schleppend aus dem Lockdown. Beobachter machen für die traurige Zwischenbilanz Johnson mitverantwortlich, der zu Beginn der Krise noch demonstrativ in Krankenhäusern Hände schüttelte, verwirrende Botschaften aussendete und mit dem Lockdown nach Wissenschaftsmeinung zu lange zögerte.

Es erwischte Johnson sogar selbst, er landete auf der Intensivstation. Doch während Kritiker das Vorgehen der Regierung anprangern und auf das marode, durch die jahrelange Sparpolitik der Tories schlecht auf die Pandemie vorbereitete Gesundheitssystem zeigen, sei es Johnson gelungen, sich von der Austerität des vergangenen Jahrzehnts zu distanzieren, sagt Anand Menon, Politikprofessor am King’s College und Direktor der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. „Er hat es so aussehen lassen, als wäre dies eine komplett neue Regierung.“ Nach Ansicht des Politologen ist es jedoch aufgrund von Corona fast unmöglich, die politische Leistung des Premiers zu bewerten. „Er genießt noch Schonzeit.“, habe gleichwohl aber ein „ziemlich ordentliches“ erstes Jahr vorzuweisen, vor allem dank Brexit.

Der jüngsten Umfrage des Instituts Opinium zufolge stehen derzeit 44 Prozent der Briten hinter den Konservativen. Die Tories führen damit acht Prozentpunkte vor der oppositionellen Labour-Partei. Johnsons Flitterwochen dürften sich erst ab Herbst dem Ende zuneigen, so Menon. Dann wenn die Arbeitslosenzahlen ansteigen, wie Prognosen andeuten. Wenn harte wie unpopuläre Entscheidungen aus der Politik erwartet werden, um die strauchelnde Wirtschaft zu stärken. Wenn die Hilfsprogramme auslaufen. „Die Folgen von Covid und Brexit sind bislang für viele Menschen noch nicht spürbar“, sagt Menon. Das werde sich in den kommenden Monaten ändern.

Irrsinniger Herbst

Am 24. Juli 2019 vollzogen Theresa May und Boris Johnson nach etlichen Krisen und Abstimmungs-Dramen im Parlament den Wechsel an der Spitze des Königreichs. Johnsons Lebenstraum hatte sich erfüllt. Für den Einzug in die Downing Street frisierte er sich sogar seine blonden Haare, sein Markenzeichen, etwas weniger wirr hin und speckte ab. Auf politischer Ebene schien es undenkbar, dass die Lage auf der Insel noch chaotischer kommen könnte.

Doch Johnson schaffte das Unmögliche, es sollte ein irrsinniger Herbst werden. Nicht nur, dass Johnson das Kabinett verbrexitisierte, indem er die Top-Jobs mit seinen loyalsten Europaskeptikern besetzte. Die Streitereien im Parlament gingen weiter, die Demonstrationen vor dem Westminster-Palast wurden zum Dauerzustand, die Rebellionen der Abgeordneten eskalierten. Damit nicht genug. Johnson suspendierte das Parlament, was wiederum den Supreme Court, das höchste Gerichts des Landes, auf den Plan rief, das den Zwangsurlaub der Abgeordneten für illegal erklärte. Es handelte sich um einen politischen Schlag für Johnson. Einerseits. Andererseits demonstrierte das in der britischen Geschichte beispiellose Urteil, dass Johnson zwar nicht über dem Recht, aber doch über den Dingen steht. Denn seiner Popularität tat all das keinen Abbruch. Bei der vorgezogenen Neuwahl im Dezember bescherte Johnson seiner Partei eine Mehrheit, die zuletzt die Tory-Legende Margaret Thatcher auf dem Zenit ihres Erfolgs erreicht hat.

Die Tories brauchten den Polit-Showmaster Boris Johnson, um solch einen Erdrutschsieg einzufahren. Gleichwohl hätte er nie gewonnen ohne den Brexit.

Und das Brexit-Votum, da sind sich alle Beobachter einig, wäre ohne den Ober-Cheerleader der EU-skeptischen Hardliner nie passiert. So schloss sich der Kreis. In der Westminster-Blase stand damals schon fest, dass der Austritt aus der Europäischen Union Boris Johnsons Amtszeit definieren würde. Doch ein Jahr ist eine Ewigkeit in der britischen Politik, nicht nur gefühlt.

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