Kommentar zu Joe Biden100 Tage US-Präsident: Von wegen „Sleepy Joe“

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Joe und Jill Biden 25. April

Jill und Joe Biden

Sleepy Joe? Von den vielen Fehleinschätzungen, die Donald Trump von sich gegeben hat, erweist sich diese als die dümmste. Tag für Tag wird sie widerlegt: Nichts und niemand wirkt derzeit schläfrig in Washington.

Joe Biden legt reihenweise die Hebel um, in verblüffend hohem Tempo. Billionen-Programme sollen die USA aus der Krise heraus- und gleich auch in neue Zeiten hineinführen: „Build Back Better“ könnte allen Ernstes zum Signum eines Epochenwechsels werden. Beim Klimaschutz wollen die USA neuerdings an die Spitze, in der Wirtschaft ist von der von Trump vorhergesagten „Biden-Depression“ nichts zu sehen. Und nach ihrer sensationellen eigenen Impfkampagne reichen die USA jetzt endlich auch anderen Staaten die Hand, Indien etwa und den Lateinamerikanern.

In den USA leuchtet wieder ein Licht der Hoffnung. Hat jemals ein Präsident in den ersten 100 Tagen so viel bewegt? Sogar die Fans von Barack Obama kommen da ins Grübeln.

Joe Bidens Erfolgsgeheimnisse

Ja, Joe Biden ist 78. Und ja, die große Show, die flammende Rede, kriegen andere besser hin als dieser Präsident, der als Kind gestottert hat. Aber Biden hat seine ganz eigenen Stärken. Und die liegen quer zum Klischee vom starken Mann. Erstens: Biden will keine Entertainment-Bedürfnisse bedienen, sondern ein Land regieren. Nie würde es ihm einfallen, wie Trump nach den Einschaltquoten seines jüngsten Fernsehauftritts zu schielen. Für ihn ist entscheidend, was über ihn im Geschichtsbuch stehen wird.

Zweitens: Biden hat eine weltpolitische Mission. Er will zeigen, dass die Demokratie nicht in der Defensive ist, sondern auch in Zukunft immer an der Herrschaft von Autokraten nagen wird, sei es in China, Russland oder Myanmar.

Drittens: Führen ist für Biden ein Dienst an der Gesellschaft. Dazu gehören für ihn die Bereitschaft zum Zuhören und Demut vor der Aufgabe. Das macht ihn zeitweise weniger sichtbar als andere, die stets lautstark und mit ausgefahrenen Ellenbogen daherkommen – bewahrt ihn aber davor, Dinge aus dem Augenblick heraus zu entscheiden.

Biden schafft Klarheit

Viertens: Biden hat exzellente, extrem loyale Leute um sich herum, bis hinein in die dritte Reihe. Dass der Präsident ihnen vertraut und sie machen lässt, gibt ihnen Kraft, Motivation – und eine eigene Autorität.

Fünftens: Biden schafft Klarheit. Er war es, nicht Obama, der jetzt den türkischen Völkermord an den Armeniern einen Völkermord nannte, egal, was Recep Tayyip Erdogan dazu sagt. Wann immer Biden in den vergangenen hundert Tagen etwas Wichtiges sagte, markierte dies nicht den Beginn, sondern das Ende von Diskussionsprozessen. Dieser Stil, den auch Ronald Reagan pflegte, steigert die Autorität des Weißen Hauses – übrigens sogar unabhängig davon, ob der Präsident auch schon mal einen Mittagsschlaf einlegt.

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