Verkauf von GoldreservenRussland droht der wirtschaftliche Absturz in „unvorstellbare Armut“

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Eine Frau geht in Russland Ende Januar mit ihren Habseligkeiten auf einer Straße. Bei vielen Russen wächst die Angst vor Armut.

Eine Frau geht in Russland Ende Januar mit ihren Habseligkeiten auf einer Straße.(Symbolbild) Bei vielen Russen wächst die Angst vor Armut.

Russland musste im Januar Devisenreserven und Gold verkaufen. Der Harvard-Ökonom Ken Rogoff glaubt, Russland stürze in eine Armut, ähnlich wie Nordkorea.

Anton Siluanow hat den derzeit vermutlich schwersten Job der gesamten Kremlführung. Der 59-Jährige ist russischer Finanzminister und sah sich im abgelaufenen Januar einem Loch im Staatshaushalt in Höhe von 1,77 Billionen Rubel, umgerechnet rund 23,1 Milliarden Euro, gegenüber.

Bereits im ersten Monat des Jahres macht das damit 60 Prozent des Fehlbetrages aus, den Russland eigentlich für das gesamte Jahr eingeplant hat. Was nur bedeuten kann: Es muss eisern gespart oder das Tafelsilber muss verkauft werden.

Russisches Finanzministerium verkauft Devisen und Gold aus der staatlichen Reserve

Weil sich Sparen und das Führen eines Krieges nachgerade ausschließen, hat sich der Kreml dazu entschlossen, an die Ersparnisse zu gehen. Und so vermeldete die russische Nachrichtenagentur Tass unkommentiert unter Berufung auf das russische Finanzministerium, man habe im Januar 2,27 Milliarden chinesische Yuan (umgerechnet rund 309 Millionen Euro) am Devisenmarkt verkauft.

Dazu kämen 3,6 Tonnen Gold aus der staatlichen Reserve. Das entspricht rund 200 Millionen Euro. „Die dadurch erzielten Mittel wurden zur Deckung des Defizits auf das Konto des Staatshaushalts überwiesen“, so die Mitteilung.

Rückgang der Öl- und Gaseinnahmen um 46 Prozent

Die Haushaltslücke war entstanden, weil die Einnahmen aus Erdöl- und Erdgasverkäufen im Vergleich zum Vergleichsmonat des Vorjahres drastisch zurückgegangen sind – und zwar um 46 Prozent. Insgesamt nahm der russische Staat 35 Prozent weniger ein als im letzten Friedensmonat 2022.

Was einerseits bedeutet, dass die Sanktionen greifen und dem russischen Staat allmählich das Wasser abgraben. Was aber andererseits heißt, dass Russlands Militärmaschine weiterläuft, solange sie aus den Reserven geschmiert werden kann. Nach Darstellung des russischen Finanzministeriums verfügt das Land derzeit über Reserven in Höhe von 10,4 Milliarden Euro, 307,4 Milliarden Yuan und 551,2 Tonnen Gold. Das wäre erheblich weniger als noch im November 2022 gemeldet (siehe Grafik).

Ausgaben steigen, während Einnahmen einbrechen

Die finanzielle Situation für den Aggressor wird also zunehmend ungemütlicher. Dabei sollen die Ausgaben für das Militär 2023 noch einmal um 71 Milliarden US-Dollar steigen, wie das russische Wirtschaftsportal RBK berichtet. Auch die Ausgaben für Posten wie „nationale Sicherheit“, zu der unter anderem die Polizei gehört, sollen um dieselbe Summe klettern. Größere Ausgaben werden zudem für Soldaten, ihre Familien, Rentnerinnen und Rentner sowie Mindestlöhne fällig, um so den sozialen Frieden zu wahren. Wie geht das, bei sinkenden Staatseinnahmen?

Glaube nichts, was die Russen sagen, wenn es um Zahlen geht.
Ken Rogoff, Harvard-Ökonom

Der Harvard-Ökonom Ken Rogoff sagte jüngst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, er „glaube nichts, was die Russen sagen, wenn es um Zahlen geht“. Das betrifft zum Beispiel das offiziell nur um knapp über 3 Prozent geschrumpfte Bruttoinlandsprodukt.

Auch die Weltbank geht im laufenden Jahr von einer lediglich um 3,3 Prozent geschrumpften russischen Wirtschaft aus. Doch Stimmen von Ökonomen und detaillierte Wirtschaftsdaten lassen eine andere Bewertung realistisch erscheinen.

Russische Ökonom Sergej Gurijew bezeichnet Sanktionen als effektiv

„Das Bruttoinlandsprodukt ist in Kriegszeiten kein aussagekräftiges Instrument“, erklärte der angesehene russische Ökonom Sergej Gurijew Ende Januar bei der „Global Economy Lecture 2023″ an der österreichischen Nationalbank in Wien laut „Handelsblatt“.

Das BIP habe keine Aussagekraft über die wirkliche wirtschaftliche Lage im Krieg, weil die Rüstungsproduktion drastisch hochgefahren werde, sagt Gurjiew, Vorstand der Pariser Elitehochschule Sciences Po, der 2013 aus Russland geflohen ist. So entstehen zwar zahlreiche Güter, diese landen allerdings nie auf dem für alle zugänglichen Markt. Die westlichen Sanktionen gegen Russland bezeichnete Gurijew als effektiv.

Potemkin-Indikatoren

Der aus Russland geflohene frühere Vizeenergieminister Wladimir Milow nennt die offiziellen Daten über das BIP oder über eine Erholung des Rubel-Kurses „Potemkin-Indikatoren“. Sie wären ein Indikator für die tatsächliche wirtschaftliche Situation. Aussagekräftiger seien dagegen der Rückgang des privaten Konsums 2022 um fast 10 Prozent oder der um 7,5 Prozent geringere Wasserverbrauch im Land. Dieser ist für die Industrieproduktion und Ölförderung wichtig.

Rogoff prophezeit dem Land daher eine Welle „unvorstellbare Armut“, verglichen mit dem jetzigen Lebensstandard: „Schauen Sie sich den Iran an, schauen Sie sich Nordkorea an, schauen Sie sich Venezuela an, schauen Sie sich Kuba an. Darauf steuert Russland zu“, so der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds.

Das wird die Transformation der russischen Wirtschaft: sie gehen zurück vom 21. ins 20. Jahrhundert.
Sergej Gurijew

„Das wird die Transformation der russischen Wirtschaft: sie gehen zurück vom 21. ins 20. Jahrhundert. Das ist sehr traurig, aber das ist, was man auch in Kuba, im Iran und in Nordkorea sehen kann“, berichtet auch der russische Ökonom Gurijew in der „Tiroler Tageszeitung“.

Neben dem Verkauf von Devisen- und Goldreserven scheint der Kreml zunehmend Pensionskassen zu plündern. Bereits 2022 soll Siluanow laut Bloomberg etwa 30 Milliarden Dollar entnommen und dem Haushalt zugeführt haben, sodass der sogenannte Wohlfahrtsfonds nur noch 148 Milliarden Dollar stark sei. Der Wohlfahrtsfonds wurde 2008 gegründet und investiert in Aktien und andere Anlagen, um das russische Pensionssystem zu finanzieren.

Zudem werden die Rücklagen der Staatsunternehmen geplündert – in Form höherer Dividenden (mehr als 50 Prozent der Gewinne) und zu leistender Einmalzahlungen.„Danach bleiben noch die Sozialausgaben. Die Armutsquote in Russland wird sicher deutlich steigen. Irgendwann wird Russland wieder so aussehen wie die Sowjetunion, ein graues Land mit autoritärem Militär und einer unterdrückten Bevölkerung“, prophezeite der Militärökonom Marcus Keupp, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich, im Magazin „Capital“.

Gazprom hat als „Cashcow“ ausgedient

So mussten bereits 2022 Aktionäre des Staatskonzerns Gazprom trotz eines Rekordjahres „freiwillig“ auf ihre Dividende in Höhe von 20 Milliarden Euro verzichten. Der Hauptaktionär, der russische Staat, ließ auf der Hauptversammlung abstimmen. Ergebnis: Kraft seiner Mehrheit von 50,3 Prozent der Aktionäre verzichteten alle auf die Auszahlung der Dividende. Der Betrag wurde angesichts der „militärischen Spezialoperation“ dem Staatshaushalt zugeführt. Doch zumindest das wird sich nicht wiederholen: Gazprom hat angesichts des Embargos längst als „Cashcow“ ausgedient.

Ohne diese Plünderungen hätte das russische Staatsdefizit bereits im letzten Jahr 64 Milliarden Dollar betragen – trotz der guten Einnahmen für Öl und Gas aufgrund astronomisch hoher Gaspreise. Dieses Jahr wird es dem Kreml schwerfallen, die Löcher kreativ zu stopfen. Die Ausgaben für einen zunehmend totalitär geführten Krieg werden steigen und die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft werden kollabieren.

Mangel an Arbeitskräften wird zum Problem für Russland

Ein weiteres, für die russische Wirtschaft elementares Problem ist der Mangel an Arbeitskräften: „Schätzungsweise fehlen der russischen Wirtschaft jetzt eine Million qualifizierte Arbeitskräfte. Neben den Mobilisierten sind auch die 700.000 Menschen eingerechnet, die geflohen sind“, so der Militärökonom Keupp.

„Der Arbeitskräftemangel trifft Moskaus Wirtschaft empfindlich. Gerade der Finanz- und Dienstleistungssektor ist in Russland sehr IT-intensiv. (…) Diese langfristigen Folgen darf man nicht unterschätzen. Sollte Putin eine zweite, dritte oder vierte Mobilisierungswelle starten, wird die Wirtschaft schnell zugrunde gehen“, glaubt Keupp.

Inzwischen bereitet die EU ihr zehntes Sanktionspaket gegen Russland vor – dieses Mal soll es auch um Strafmaßnahmen gegen die mächtige Atomindustrie des Landes gehen. Uran, Brennstäbe und Nukleartechnik durften bislang ungehindert importiert werden. Das soll sich ändern.

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