SPD-Chef Klingbeil im Interview„Wir müssen raus aus dem Dornröschenschlaf“

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Lars Klingbeil, SPD-Bundesvorsitzender schaut bei einer Pressekonferenz ins Publikum

SPD-Chef Lars Klingbeil

SPD-Chef Lars Klingbeil will Deutschland eine Radikalkur bei der Modernisierung der Infrastruktur verordnen. In der neu aufgeflammten Atomdebatte mahnt er die FDP.

Ihre Parteispitzen treffen sich von Sonntag bis Montag zur Jahresauftaktklausur. Mit welcher Botschaft soll die Kanzlerpartei ins Jahr 2023 starten?

Lars Klingbeil: Im Jahr 2023 geht es darum, für unser Land eine Agenda zu formulieren, die auf neue ökonomische Kraft setzt, die unsere Gesellschaft zusammenhält und für ein starkes Europa wirbt.

Wie wollen sie die neue ökonomische Kraft erzeugen?

Wir wollen in Deutschland die modernste Infrastruktur schaffen. Wir sehen, dass es da erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Eine funktionierende Infrastruktur ist die Grundlage für eine erfolgreiche Wirtschaft. Es geht um einen Rundumschlag – angefangen bei Mobilitätsnetzen wie Straße und Schiene. Es geht weiter über Energienetze, in die wir massiv investieren müssen – Strom und Wasserstoff. Und es geht auch um digitale Netze, um Bildung und um eine intakte Gesundheitsversorgung.

Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob wir in zehn Jahren noch ein wirtschaftlich starkes Land sind.
Lars Klingbeil, SPD-Chef

Müssten sich FDP und Grüne dann nicht erst einmal auf das Bürokratieabbaugesetz einigen, um Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen?

Wir müssen raus aus dem Dornröschenschlaf, in dem das Land in den letzten Jahren lag. Irgendwie lief ja alles, aber das reicht nicht mehr. Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ist ein wichtiger Knoten, den wir durchschlagen müssen. Für den Bau von Windkraftanlagen, für die schnelle Genehmigung von neuen Straßen und Schienen sowie für den Ausbau von Stromnetzen brauchen wir einen erheblichen Schub. Da müssen jetzt alle Konflikte umgehend beendet werden. Wenn wir es als Ampel ernst meinen, dass wir unser Land modernisieren und stark halten wollen, dann muss alles getan werden in den Ministerien, dass schnell genehmigt wird. Deutschland muss in den nächsten Jahren den Schritt nach vorne schaffen.

Wie?

Wir haben gesehen, dass in Niedersachsen ein LNG-Terminal mit einer neuen Deutschland-Geschwindigkeit in nur 200 Tagen fertiggestellt wird. Das zeigt: Es geht, wenn die Notwendigkeit und der politische Wille da sind. Ich erwarte, dass eine solche Geschwindigkeit jetzt auch bei der Modernisierung unserer Infrastruktur in allen Bereichen aufgenommen wird. Es gibt keine Ausreden mehr, weil wir gezeigt haben, dass es mit dem Bau von LNG-Terminals in Wilhelmshaven geht. Wir brauchen diese neue Deutschland-Geschwindigkeit auf allen Feldern.

Dann fehlen noch Fachkräfte und Baumaterial, um diese neue Geschwindigkeit umzusetzen ...

Wir werden Leitmärkte definieren müssen, in die wir bevorzugt investieren. Wasserstoff gehört dazu. Digitalisierung gehört auch dazu. Und richtig: Wir brauchen auch die Arbeitskräfte, die das umsetzen können. Deshalb haben wir ja auch ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht.

Dass trotz der drei Entlastungspakete noch nicht alle zum Zuge gekommen sind, wie Studierende oder die neuen Wohngeldberechtigten, liegt ja nicht an fehlendem Geld, sondern an den mangelnden Fähigkeiten der Behörden beim Auszahlen – sprich an der Unterdigitalisierung unseres Staats. Sie waren doch mal digitalpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion. Warum funktioniert so vieles immer noch nicht?

Die Antwort ist eigentlich recht simpel: Machen! Es gibt in Deutschland leider eine Verkantung der Ebenen von Landkreisen über die Länder bis zum Bund. Und es gibt sehr viel Angst in der Verwaltung, die Dinge umzusetzen, weil eine Mentalität vorherrscht, sich immer abzusichern und nichts falsch machen zu wollen. Wenn wir erfolgreich sein wollen, dann müssen wir raus aus der Mentalität des Angsthabens hin zu einer Mentalität des Machens. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob wir in zehn Jahren noch ein wirtschaftlich starkes Land sind.

Für die Energieversorgung ohne russisches Gas und russisches Öl musste die Kohlekraftwerke wieder hochgefahren werden. Nun hinkt Deutschland seinen eigenen CO₂-Zielen hinterher. Wie sehen Sie die Frage der Einsparungen: Sollte man bei dem Plan bleiben, dass jeder Sektor, seine Einsparungen liefern muss, also auch das Verkehrsressort?

Wir müssen insgesamt besser werden beim Einsparen von CO₂ und das bedeutet, dass jeder Sektor besser werden muss. Daran müssen alle mit Hochdruck arbeiten.

Die Liberalen machen schon wieder die Debatte um die Atomkraft auf. Werden die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke am 15. April tatsächlich endgültig abgeschaltet?

Der Kanzler hat ein Machtwort gesprochen. Der Kanzler hat entschieden. Diese Entscheidung haben alle akzeptiert. Es gibt keinen Grund, die Debatte erneut zu führen. Ich kann nur dazu raten, dass wir unsere politische Energie darauf verwenden, Deutschland stark zu halten, und diese Stärke liegt im Ausbau der Erneuerbaren. Nicht im Zurück in die Vergangenheit.

Einer der Hauptgründe für den Streckbetrieb war, dass Frankreich große Probleme mit seinen AKW hatte und die Meiler reihenweise ausgefallen sind. Wenn die Franzosen ihre Probleme nicht in den Griff bekommen, könnten die deutschen Kraftwerke dann doch länger laufen?

Die politische Energie muss darauf liegen, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren vorantreiben. Mit schnelleren Verfahren auch wirklich in die Umsetzung kommen. Die Windräder nicht nur jahrelang planen, sondern auch aufstellen und in Betrieb nehmen. Das ist der richtige Weg, und das erwarte ich von allen. Wir können nicht wieder Entschuldigungen dafür suchen, dass wir energiepolitisch nicht vorankommen.

Keine deutschen Alleingänge bei Panzern

Deutschland hat sich doch entschieden, Marder-Panzer an die Ukraine zu liefern. Was wird das aus Ihrer Sicht ändern?

Russland hat in den letzten Wochen mit massiven Angriffen auf die Infrastruktur den Krieg abermals eskaliert. Amerika, Frankreich und Deutschland gehen jetzt gemeinsam den nächsten Schritt, die Ukraine in der Verteidigung ihrer territorialen Integrität zu unterstützen. Die Lieferung von Schützenpanzern ist ein Signal, dass das westliche Bündnis eng abgestimmt agiert und der Ukraine weiter den Rücken stärkt. Ich bin mir sicher, dass das Jahr 2023 für den Verlauf des Krieges entscheidend wird.

Die Bundesregierung und vor allem der SPD-Teil darin, haben monatelang wortreich erklärt, warum Lieferungen von Kampf- und Schützenpanzern keine Option sind. Die Argumente lauteten unter anderem: Die Ukrainer können die westliche Technik nicht bedienen, die Wartung ist zu aufwändig, die Marder werden für den Ringtausch gebraucht, man wolle nicht riskieren, dass Nato-Technik in die Hände der Russen fällt. Zählen alle diese Argumente jetzt nichts mehr?

Mein Argument in den vergangenen Monaten war immer, dass wir eng abgestimmt mit unseren Partnern agieren und es keine nationalen Alleingänge gibt. US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz sind in permanentem Austausch, diesen Krieg zu bewerten und zu beraten, wie wir unterstützen können. Der Ringtausch war erfolgreich, jetzt folgen weitere Schritte. Es kommt nicht von Ungefähr, dass unsere beiden Länder die größten Unterstützer in Menge und Umfang für die Ukraine sind.

War der Ringtausch rückblickend ein Fehler – 40 Marder nach Griechenland zu geben, die wiederum veraltete russische BMP-Panzer an die Ukraine liefern? Jetzt braucht es ja doch Ausbildung und Logistik für die nun kleinere Zahl an Mardern, die Deutschland noch liefern kann.

Der Ringtausch hat ermöglicht, dass Panzer sowjetischer Bauart, die sofort einsetzbar waren, geliefert werden konnten. Sie haben der Ukraine bei der Verteidigung gegen Russland schnell geholfen. Jetzt kommen Schützenpanzer aus Deutschland, Frankreich und den USA dazu. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden dafür im Schnellverfahren an den Panzern ausgebildet – das wird etwa acht Wochen in Anspruch nehmen.

Experten sagen, dass der Schützenpanzer Marder idealerweise mit dem Kampfpanzer Leopard gemeinsam eingesetzt wird. Muss nun auch die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern vorbereitet werden?

Wie ich die Reaktionen aus der Ukraine wahrnehme, sind sie sehr froh, dass sie jetzt den deutschen, den französischen und den amerikanischen Schützenpanzer geliefert bekommen.

Was sagt denn die Art der Kommunikation über diese Lieferungen über das deutsch-französische Verhältnis aus – Macron war vorgeprescht, Deutschland ging mit seiner Entscheidung einen Tag später an die Öffentlichkeit?

Ich finde es richtig, dass der amerikanische Präsident und der deutsche Kanzler telefoniert haben und die Entscheidung gemeinsam öffentlich kommuniziert haben. Dieser Weg ist der Lage angemessen. Warum Frankreich das anders gehandhabt hat, kann ich nicht sagen.

Wenn man darauf schaut, dass sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer unter den Soldaten, Reservisten und Ungedienten im vergangenen Jahr verfünffacht hat, fragt man sich, ob die Bundeswehr überhaupt in der Lage ist, der Zeitenwende angemessen zu begegnen?

Es ist das gute Recht eines jeden, eine Gewissensentscheidung zu treffen und den Dienst bei der Bundeswehr zu verweigern. Es zeigt, wie groß in der Bevölkerung die Sorgen über den Krieg in Europa sind. Zugleich ist es seit vielen Jahren die Realität der Soldatinnen und Soldaten, dass sie auch in Auslandseinsätze gehen – Afghanistan, Mali, Kosovo. Wir haben eine Truppe, auf die wir sehr stolz sein können. Sie funktioniert. Trotzdem hat der 24. Februar den Fokus stärker auf die Landes- und Bündnisverteidigung gelenkt. Die Armee muss jetzt auch in der Lage sein, die Landesgrenze zu verteidigen und die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dafür sind die 100 Milliarden Euro Sondervermögen ein wichtiger Baustein.

Zum Jahreswechsel hat die Verteidigungsministerin auf ihrem privaten Instagram-Account ein Video veröffentlicht, das als unangemessen bis peinlich wahrgenommen wurde. Wie fanden Sie es?

Ich bewerte die Arbeit der Verteidigungsministerin nicht anhand von Videos, sondern anhand dessen, was sie fachlich tut. Christine Lambrecht hat die Aufgabe, die Bundeswehr nach Jahren des Kaputtsparens wieder auf Vordermann zu bringen. Sie hat zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Vergabeverfahren in der Truppe effizienter und schneller werden. Das tut sie. Und da hat sie meine Unterstützung.

Ihr Vater war Berufssoldat, in Ihrem Wahlkreis liegt der größte Heeresstandort Munster. Kommt Ihnen da keine Kritik an der Ministerin zu Ohren?

Ich nehme erst mal Unterstützung dafür wahr, dass die SPD-geführte Bundesregierung mit 100 Milliarden Euro die Bundeswehr stärkt. Und es wird gesehen, was Christine Lambrecht als Ministerin tut, das umzusetzen – zum Beispiel indem sie den Kommandeuren vor Ort mehr finanzielle Handlungsmöglichkeiten gibt.

Auch eine weitere wichtige SPD-Ministerin, Nancy Faeser, macht Schlagzeilen, weil ein möglicher Wechsel nach Hessen diskutiert wird, wo in diesem Jahr ein neuer Landtag gewählt wird. Kann sie Innenministerin sein und zugleich einen Wahlkampf als Spitzenkandidatin in Hessen führen?

Ich bin mir sehr sicher, dass die hessische SPD eine sehr kluge Entscheidung über die Spitzenkandidatur und alle damit verbundenen Fragen fällen wird.

Falls auf Bundesebene eine Kabinettsumbildung nötig werden sollte, muss dann auch eine Neubesetzung paritätisch erfolgen?

Das ist alles doch sehr theoretisch. Klar ist, der Bundeskanzler hat durchgesetzt, dass sein Kabinett paritätisch besetzt ist. Dabei habe ich ihn unterstützt, und das werde ich auch weiterhin tun.

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