Eine komplexe AbwägungWarum ich mein Kind off-label gegen Corona impfen ließ

Lesezeit 12 Minuten
Kleines Kind wird geimpft

Ein kleines Mädchen wird gegen das Coronavirus geimpft (Symbolbild).

Bisher sind Impfstoffe gegen das Coronavirus noch nicht für unter Fünfjährige zugelassen. Entscheiden sich Eltern für eine Impfung, müssen sie verschiedene Aspekte berücksichtigen. Ein Familienvater erklärt seine persönliche Abwägung – und warum er seine zweieinhalbjährige Tochter dennoch off-label gegen Corona impfen ließ.

Meine zweieinhalbjährige Tochter kommt neben meinen Schreibtisch gekrabbelt und ruft „Ich bin jetzt ein armes Kätzchen“. Es ist ein vertrautes Spiel, ich hebe sie hoch, wenn sie das sagt, und nehme sie auf den Arm. Heute drücke ich sie dabei besonders fest. Gerade habe ich erfahren, dass wir einen Termin für eine Impfung gegen das Coronavirus haben. Off-label, das bedeutet ohne Zulassung, denn den Impfstoff gibt es noch nicht für Kinder unter fünf Jahren. Meine Frau hat den Termin gemacht, und ich bin davon ein bisschen überrumpelt. Jetzt habe ich Angst um meine Tochter, ja. Sollen wir das wirklich machen?

Vor Kurzem noch war ich unangenehm berührt von den Eltern, die in den sozialen Medien posteten, dass sie ihre Kinder off-label gegen Covid-19 impfen lassen. Denn in ihren kurzen Texten las ich so gar nichts von einer schwierigen Abwägung. Es sprach daraus eine absolute Gewissheit, das Richtige zu tun. Vielleicht tue ich diesen Menschen Unrecht. Ich jedenfalls habe diese Gewissheit nicht.

Alles zum Thema Universitätsklinikum Köln

Viele Fälle bei kleinen Kindern

In den vergangenen Wochen aber hatte sich die Situation drastisch verschlechtert. Die Infektionszahlen explodieren besonders bei den Kindern, dort liegt die Inzidenz bei über 3000 Fällen auf 100.000 Menschen. Die Omikron-Variante verbreitete sich schneller als alles, was wir bis jetzt in dieser Pandemie gesehen haben. Die einzige Alternative zur Impfung ist – die Infektion. Und das sehr schnell. Kaum ein Kind wird vermutlich verschont bleiben in diesem Winter.

Wie gefährlich ist Omikron für Kinder? Am Anfang kamen in Südafrika ungewöhnlich viele Kinder ins Spital, die sich damit infiziert hatten, im Dezember dann im Vereinigten Königreich. Inzwischen zeigen Daten aus England, dass sich die Hospitalisierungen nicht wesentlich unterscheiden zwischen Delta und Omikron, ein etwas höherer Anteil von Kindern unter fünf Jahren wird mit Omikron eingewiesen, mit Delta kamen ältere Kinder öfter ins Krankenhaus.

Neue Studien aus den USA zeigen, dass unter der Omikron-Welle die Zahl der Kinder nach oben schoss, die Atemwegssymptome (Husten bis zur Atemnot) hatten. Dies betrifft Kinder zwischen einem halben bis zu drei Jahren. Grund ist wohl, dass sich Omikron im Gegensatz zu vorherigen Varianten eher in den oberen Atemwegen vermehrt. Diese sind bei kleineren Kindern anfälliger, weil feingliederiger.

Der Versuch, rational zu entscheiden

Mit der Impfung auf die Empfehlungen der Stiko zu warten hat sich für mich nicht bewährt, um die Gesundheit meiner Familie zu schützen. Monate zu spät empfahl die Stiko, dass Schwangere geimpft werden sollten – während meine Frau und ich ein Kind erwarteten. Im März ließ sie sich die erste Covid-Impfung geben, als Risikopatientin quasi off-label unter Verschweigung der Schwangerschaft (niemand impfte damals Schwangere ohne die Stiko-Empfehlung). Die zweite Spritze dann im April nach großem Kampf mit den Ärzten im Impfzentrum, die sich auf die fehlende Empfehlung beriefen.

Wir hatten uns für die Impfung entschieden, denn in den USA und Israel wurde diese Schwangeren längst gegeben. Die Daten zeigten, dass die Impfung sicher für Mutter und Baby war – und andererseits war zu dem Zeitpunkt klar, dass Schwangere von schweren Verläufen viel häufiger betroffen waren als gleichaltrige Frauen, die kein Kind erwarteten. Mittlerweile ist unser Sohn gesund und munter vier Monate alt – und gegen Covid-19 wohl noch geschützt durch Antikörper, die er durch die Plazenta erhalten hat, und diejenigen, die er nach Booster über die Muttermilch weiterhin bekommt.

Aber nur weil die Off-Label Impfung einmal richtig war, muss sie es natürlich jetzt nicht noch einmal sein. Wie viele Menschen neige ich dazu, emotional zu werden, wenn es um den Schutz der eigenen Familie geht. Ich habe Angst, mit der Impfung meiner Tochter zu schaden. Ihr Patenonkel schreibt: „Wir lassen lieber den Lauf der Dinge entscheiden, als selbst Entscheidungen zu treffen, weil es einfacher ist – aber ist das vernünftig? Objektiv gesehen, sehe ich nicht, was gegen eine Impfung sprechen sollte.“ Nun hat er zwar in Psychologie promoviert, aber das qualifiziert ihn nicht für einen medizinischen Rat.

Bei Kindern ist Covid-19 meist harmlos

Ich will versuchen, rational zu entscheiden. Was gegen die Impfung spricht: Bei Kindern ist es genau umgekehrt wie bei Schwangeren. Bei ihnen ist Covid-19 meist eine harmlose, oft asymptomatische Erkrankung. Allerdings gibt es da auch noch den Albtraum aller Eltern: plötzlich sehr hohes Fieber, Entzündungen in inneren Organen – PIMS, („Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome“) auch MIS-C („Multisystem Inflammatory Syndrome in Children“ für „Multisystemisches Entzündungssyndrom bei Kindern“) genannt. Meistens tritt das drei bis sechs Wochen nach überstandener Sars-CoC-2-Infektion auf. Auch wenn ein Kind keine Symptome hatte, kann es diese Komplikation entwickeln. In Deutschland wurden bislang etwa 700 Fälle in dem entsprechenden Register gemeldet, wahrscheinlich gibt es etwas mehr betroffene Kinder. Etwa die Hälfte davon muss auf die Intensivstation. Betroffen sind vor allem Kinder ohne Vorerkrankung, zuletzt stieg die Zahl der Fälle zumindest in einzelnen Regionen parallel zu den Fallzahlen.

Die Impfung schützt vor PIMS – kann es aber in seltenen Fällen auch auslösen

Auch wenn in Deutschland an PIMS wohl kein Kind gestorben ist – das Krankheitsbild ist ein Horror, den wohl alle Eltern ihren Kindern gern ersparen würden. Es wäre ein guter Grund für eine Impfung. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2019 257 und 2020 138 Fälle schwerer Meningokokken-Infektionen – und dagegen lassen die meisten Eltern ihre Kinder impfen. Die Pädiater waren anfangs skeptisch gegenüber der Covid-Impfung für Kinder, weil noch nicht klar war, ob diese tatsächlich PIMS verhindert. Das zeigt sich nun aber immer deutlicher. In der ersten, aus Frankreich bereits: Von 107 Kindern mit PIMS war keines zuvor doppelt geimpft gewesen, sieben Kinder hatten erst eine Impfung hinter sich. Eine Auswertung der US-Seuchenbehörde CDC ergab, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer (der einzige, der für Kinder momentan zugelassen ist), zu 91 Prozent Zwölf- bis 18-Jährige vor PIMS schützt (zum Zeitpunkt der Datenerhebung war die Impfung für Jüngere noch nicht zugelassen).

Damit ist auch eine vermeintliche Gefahr ausgeräumt, auf die ich bei der Recherche gestoßen war: dass die Impfung selbst PIMS auslösen könne. Ich erwähne das nur, weil andere Eltern ebenfalls auf entsprechende Publikationen aufmerksam werden könnten. Unmöglich erscheint es nicht, denn bei PIMS spielt anscheinend das Immunsystem verrückt – und durch eine Impfung wird dieses natürlich ebenfalls getriggert. Aber ich habe mir die Studienlage dazu mal genauer angesehen – es gibt bei Millionen Impfungen sechs gemeldete Fälle in Europa und nur zwei fundiert aufgearbeitete und dokumentierte Fälle, beide bei jungen Männern, einer in Dänemark und einer in Deutschland.

Vielleicht ist es allerdings auch nur einer – in der Fallbeschreibung aus Deutschland tritt PIMS zehn Wochen nach der Impfung auf (was ein großer Abstand wäre), und die Autoren untersuchten nicht einmal, ob der Patient sich zwischen Impfung und dem PIMS mit Sars-CoV-2 infiziert hatte (obwohl das mittels Antikörpertest jeder Hausarzt gekonnt hätte).

Den einzig publizierten plausiblen Fall aus Dänemark hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) untersucht. Sie ist, auch unter Einbeziehung der restlichen der EMA bekannten Fälle, zu dem Schluss gekommen, dass der mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer weiterhin uneingeschränkt bei Jugendlichen angewendet werden kann. Die EMA erklärt, dass zwei bis sechs Fälle von PIMS bei Kindern und Jugendlichen pro Jahr und hunderttausend Kindern auch vor Corona schon aufgetreten sind. Also dies erscheint mir kein Grund zu sein, auf die Impfung zu verzichten. Immunologen gehen übrigens davon aus, dass PIMS durch die Impfung verhindert werden kann.

Die Sache mit Long Covid

Dann ist da noch Long Covid. Wie viele infizierte Kinder längerfristig dadurch gehandicapt sein werden, ist noch nicht klar. Die Definition ist unscharf, meistens fehlt den Studien eine Kontrollgruppe von Kindern, und die Symptome psychischer Belastung durch die Pandemie überlappen mit denjenigen von Long Covid, die nicht infiziert waren. Aber es gibt Studien, die von 2 Prozent und bis 13 Prozent ausgehen. Um die Studienergebnisse wird gestritten. Welche Zahl auch immer stimmt – als Vater ist mir die Gefährdung zu hoch. Warum riskieren, dass aus einem Kind voller Energie und Lebensfreude eines wird, das sich zu nichts mehr aufraffen kann?

Dass die Impfung vor Long Covid schützt, ist naheliegend – viele werden durch den Impfschutz gar nicht erst infiziert, und bei denen, die sich trotzdem anstecken, kann der Erreger sich im Körper weniger stark ausbreiten. Daten – von Erwachsenen – aus Israel unterstreichen das. Die Studie zeigte eine Abnahme der Symptome um 60 Prozent – Symptome wie Müdigkeit und Erschöpfung seien damit bei doppelt Geimpften auf dem gleiche Niveau wie in Menschen, die nicht infiziert waren.

Kaum schwere Nebenwirkungen beim Mittel von Biontech/Pfizer bekannt

Das Präparat von Biontech/Pfizer – das einzige, das bislang für Kinder zugelassen ist – hat laut Phase-III-Studie eine 90-prozentige Wirksamkeit gegen eine symptomatische Infektion mit Sars-CoV-2. 1517 Kinder zwischen fünf und elf Jahren bekamen für die Untersuchung den Impfstoff, das sind viel zu wenige, um seltene Nebenwirkungen registrieren zu können. Zum Vergleich: Bei jungen Erwachsenen tritt die seltene Komplikation „Herzmuskelentzündung“ zusätzlich bei einem Menschen pro Million Geimpfter auf. Wobei man auch wiederum einschränken muss: Der Vergleich kann bei einem so hohen Infektionsgeschehen wie jetzt nicht mehr sein „keine Impfung“ gegen „keine Infektion“, sondern: Impfung gegen Infektion. Und da ist die Rate der Herzmuskelentzündung deutlich höher als bei Geimpften.

Das könnte Sie auch interessieren:

Mittlerweile sind in den USA mehr als acht Millionen Impfdosen Kindern zwischen fünf und elf injiziert worden – schwere Nebenwirkungen gab es kaum. Die Direktorin der US-Seuchenschutzbehörden CDC, Rochelle Walensky, sagte im US Fernsehen auf die Frage nach der möglichen Herzmuskelentzündungen: „Wir haben nichts dergleichen gesehen.“ Eine Auswertung von 8,7 Millionen Impfungen bei Fünf- bis Elfjährigen aus den USA ergab – nahezu keine schweren Nebenwirkungen. Schon bei den Zwölf- bis 20-Jährigen war das Risiko einer Myokarditis bei den mit Sars-CoV-2 infizierten männlichen Kindern (vor allem sie waren betroffen) sechsmal höher als nach einer Impfung. Bei den jüngeren Kindern ist das Risiko noch mal um 90 Prozent verringert.

Die Stiko ermöglicht seit Dezember die Impfungen für alle Kinder zwischen fünf und elf Jahren – wenn meine Kinder in diesem Alter wären, würde ich sie impfen lassen. Die geringere Dosis hilft bestimmt: Während Erwachsene und Jugendliche 30 Mikrogramm mRNA gespritzt bekommen, sind es zehn Mikrogramm bei Kindern zwischen fünf und elf. Und in den bisherigen Studien mit Jüngeren wurde nicht einmal ein Drittel dieser Dosis (drei Mikrogramm) injiziert. Entsprechend zeigten sie keinerlei schwerwiegende Nebenwirkung, eine Studienärztin erklärte gar, es sei den Eltern nicht möglich gewesen zu unterscheiden, ob ihr Kind in der Placebo- oder in der Impfstoffgruppe gewesen sei.

Klar, der Off-Label-Einsatz ist nicht komplett ohne Risiko. Aber alle Eltern nehmen mit ihren Kindern an einem großen Versuch teil, wie auch immer wir entscheiden: Infektions- oder Impfexperiment (wobei Letzteres höchstens noch für die Kleinsten gilt). Am Ende muss man hoffen, dass sowohl in der Gruppe Kinder, die infiziert werden, als auch in der, die geimpft werden, wenig langfristige Folgen auftauchen werden. Spätfolgen, die erst lange Zeit nach Impfungen auftreten, sind bislang allerdings nicht bekannt – solche nach Infektionen durchaus. So impfen wir unter anderem deshalb gegen Masern, weil das Erregervirus Jahre nach der Infektion noch eine tödliche Entzündung des Gehirns auslösen kann. Dass fremde RNA in Kinderzellen gelangt, ist übrigens absolut üblich und kein Grund zur Besorgnis. Das passiert bei jeder Infektion mit einem Virus – und bei den Impfungen mit Lebendimpfstoffen, wie Mumps-Masern-Röteln.

Nicht alle Mediziner sind von der Off-Label-Impfung überzeugt

Ich hätte mir gewünscht, dass wir Eltern nicht vor diese Wahl zwischen zwei solcher Risiken gestellt worden wären – aber die Durchseuchungsstrategie, die bei den Kindern gefahren wurde, hat das unmöglich gemacht. Wäre in Kindergärten und Schulen konsequent auf Infektionsschutz geachtet worden – womöglich hätte uns Eltern das so viel Zeit verschafft, das schon genügend Daten zur Sicherheit der Kinderimpfung vorgelegen hätten.

Ich will nicht verschweigen, dass die organisierten Kinderärzte sich gegen die Off-Label-Impfung aussprechen. „Ich rate von Off-Label-Impfung von unter Fünfjährigen ab, weil wir keine Studiendaten haben und nicht mal die richtige Dosis kennen“, sagt Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Uniklinik Köln. „Aber ich verurteile niemanden, der sein Kind off-label impfen lässt. Es ist sehr schwierig für Eltern, im Moment die richtige Entscheidung zu treffen – wir Kinderärzte helfen, egal was passiert. Und meistens passiert zum Glück nichts.“ Wir haben einen Kinderarzt, der impft und dem ich vertraue.

Was mich am Ende von der Off-Label-Impfung für meine Tochter überzeugt: Kurz vor Weihnachten war sie auf dem vierten Geburtstag einer Freundin eingeladen. Die beiden sind zusammen in die Kita gegangen, jetzt geht die Freundin in den Kindergarten, eine andere Einrichtung. Die beiden sehen sich seit einem halben Jahr nur noch selten – aber wenn, dann umarmen sie sich, kreischen, lachen. Es ist rührend mit anzusehen, wie diese kleinen Menschen schon Freundschaften knüpfen. Dabei ist meine Tochter ein Kind der Pandemie, zwei Drittel ihres Lebens hat sie in diesem Leben verbracht, das wir Erwachsenen noch als seltsam empfinden.

Diese Einladung zu einem Geburtstag ist die erste in ihrem Leben – verdammt, es tut weh, aber wir Eltern haben abgesagt. Zu groß erschien uns das Risiko, dass wir uns kurz vor Weihnachten noch Corona einfangen und meine Tochter mit uns in Quarantäne muss, anstatt die Festtage bei den geliebten Großeltern verbringen zu können. Wie schön wäre es, wenn wir uns solche Sorgen nicht mehr machen müssten? Klar, durch Omikron wird auch der Impfschutz wieder schlechter, aber vor schweren Verläufen schützt sie sogar die Älteren zuverlässig. Außerdem sieht es im Moment so aus, als ob Omikron-Infektionen alleine keine ausreichende Immunität gegen andere Sars-CoV-2-Varianten bewirken könnten – im Gegensatz zur Impfung.

Wir erhoffen uns etwas mehr Normalität durch die Impfung. Wenn meine Tochter die Injektion in den Arm bekommt, werde ich sie auf dem Arm halten, fester als bei allen Impfungen davor. Sie wird etwas weinen und kurze Zeit später mit dem bunten Pflaster auf ihrem Arm angeben. Und dann wird hoffentlich alles – ja vielleicht noch nicht gut, aber besser.

Frederik Jötten ist Biologe und hat seine Diplomarbeit über Impfstoffentwicklung geschrieben. Er lebt als freier Journalist in Frankfurt. Seine Tochter hat beide Impfungen ohne erkennbare Nebenwirkungen überstanden.

KStA abonnieren