Weitere Rechte in GefahrSupreme Court: Die Revolution der radikalen Robenträger

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Richter am Supreme Court (2021).

Washington – Einst galt der ehrwürdige Supreme Court als ausgleichende Instanz im amerikanischen Politsystem. Damit ist es seit Donald Trump vorbei. Immer extremer torpedieren die ultrarechten Richter die Grundwerte der liberalen Gesellschaft. Nach Waffenverbot, Abtreibungsrecht und Klimaschutz könnten sie demnächst sogar das gleiche Wahlrecht kippen.

Auf diesen Moment hat das liberale Amerika mehr als 200 Jahre gewartet. Doch als am Donnerstag die erste schwarze Frau als Richterin am höchsten Gericht der USA vereidigt wurde, war niemandem zum Feiern zumute. Keine zwei Stunden vor der historischen Zeremonie hatte die rechte Mehrheit der Verfassungsrichter faktisch die Klimapolitik von Joe Biden beerdigt. „Eine Katastrophe“, kommentierte die linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez geschockt.

So konnte man auf dem Kapitolshügel um 12 Uhr mittags ein eigenartiges Schauspiel erleben: Während drinnen im Supreme Court die Afroamerikanerin Ketanji Brown Jackson ihre linke Hand auf eine Bibel legte und mit der rechten schwor, die Verfassung zu verteidigen, zog draußen auf der Straße vor dem strahlend weißen Säulentempel des Rechts ein lauter Demonstrationszug vorbei.

Eine Legitimitätskrise des Obersten Gerichtshofs

„Wir wollen Freiheit, wir wollen Gerechtigkeit – und zwar sofort!“, skandierten die Teilnehmer. „Fuck SCOTUS“ stand auf einigen Plakaten – eine derbe Beschimpfung des Supreme Court of the United States. „Abort the Court!“ (Treibt das Gericht ab!), forderten andere unfreundlich. „Dieser radikale Supreme Court erlebt eine Legitimationskrise, und wir dürfen ihm nicht das letzte Wort lassen“, twitterte die linke Senatorin Elizabeth Warren.

Amerika ist in Aufruhr. Und im Zentrum steht ausgerechnet jene Institution, die nach dem Willen der Gründerväter wichtige Streitfragen abschließend klären soll. In der Praxis ist der Gerichtshof schon lange politisiert. Doch seit die Demokraten vor anderthalb Jahren das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses übernommen haben, wirken die rechten Richter am Supreme Court wie eine von Ex-Präsident Donald Trump programmierte politische Schläferzelle, deren Mission es ist, das moderne liberale Amerika sturmreif zu bomben.

Demokraten und moderate Republikaner hatten sich nach den Massenschießereien von Buffalo und Uvalde gerade auf eine minimale Verschärfung des Waffenrechts geeinigt, als das Gericht am Donnerstag der vorvergangenen Woche die 100 Jahre alten New Yorker Beschränkungen für das verdeckte Tragen einer Pistole auf der Straße einkassierte. Am nächsten Tag kippte der Supreme Court das von ihm selbst 1973 eingeführte Recht auf Abtreibung und ermöglichte damit deren Verbot in 26 Bundesstaaten. Schließlich untersagten die Richter der Umweltbehörde EPA, die Emission von Treibhausgasen weiterhin effektiv zu beschränken.

Eine dringend reformbedürftige Verfassung

Waffen, Abtreibung, Klimaschutz – in gerade mal einer Woche hat der neunköpfige Gerichtshof die USA tiefgreifender verändert, als es Präsident Biden mit seinen wackligen Mehrheiten in den gesamten vier Jahren seiner Amtszeit schaffen dürfte. Und die Richter machen überdeutlich, dass sie keineswegs am Ende ihrer Ambitionen angekommen sind.

Wie kann eine einzelne, nicht gewählte Institution, die in ihrer politischen Zusammensetzung den Mehrheitswillen der Bevölkerung grob verzerrt, eine derartige Macht haben? Und weshalb ist das Gericht so erfolgreich, während der Kongress nichts zustande bringt?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, der muss ein bisschen in die Geschichte eintauchen. Genau gesagt bis ins Jahr 1789, als die von 13 Gründerstaaten beschlossene Verfassung der USA in Kraft trat. Damals konnte man mit einer Pistole einen einzigen Schuss abfeuern, das Telefon war nicht erfunden, und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 40 Jahre. Obwohl sich digsunfhige Welt seither verändert hat, wurde die Verfassung nie wirklich überarbeitet.

Politisches System zunehmend handlungsunfähig

So passt vieles nicht mehr zusammen im modernen Amerika, wo 18-Jährige eine Maschinenpistole, aber kein Bier kaufen dürfen, Wahlergebnisse manipulationsanfällig von Wahlleuten nach Washington gemeldet werden müssen, ein republikanischer Zwergstaat wie Wyoming mit 600.000 Einwohnern genauso viele Stimmen im Senat hat wie die 40-Millionen-Macht Kalifornien und jene disproportional besetzte Parlamentskammer über die lebenslange Berufung von Verfassungsrichtern entscheidet.

Gleichzeitig wirkt das politische System zunehmend handlungsunfähig, weil der Präsident und das Parlament nicht an einem Strang ziehen, die hauchdünnen Mehrheiten in beiden Kammern nur auf dem Papier stehen und vor allem die nach rechts außen gerückten Republikaner auf Obstruktion statt Kompromisse setzen. „Die Dysfunktionalität des Kongresses ist deren klare politische Strategie“, glaubt der demokratische Abgeordnete Jamie Raskin. Derweil habe die politische Rechte gezielt ihre Mehrheit am Verfassungsgericht ausgebaut. „Dadurch hat der Supreme Court nun mehr Macht als der Kongress, dort zu handeln, wo er will“, analysierte der ehemalige Rechtsprofessor in der „Washington Post“.

Wenn es einen Drahtzieher hinter dem perfiden Plan der Machtverschiebung vom Kongress zum Supreme Court gibt, dann ist es Mitch McConnell, jener stets griesgrämig blickende, knallharte Einpeitscher der Senatsrepublikaner. Drei Jahrzehnte lang waren die politischen Kräfteverhältnisse am Supreme Court halbwegs ausgeglichen gewesen.

Doch McConnell blockierte die Ernennung eines Richters durch Ex-Präsident Barack Obama, wodurch Donald Trump seinen ersten stramm rechten Richter ernennen konnte. Dann unterstützte McConnell nach dem Rückzug eines moderaten Konservativen einen weiteren Rechten und drückte nach dem Tod der Linken-Ikone Ruth Bader Ginsburg schließlich unmittelbar vor Trumps Abgang noch die ultrakonservative Amy Coney Barrett durch.

So konnte sich Trump bei seinen Unterstützern von der christlichen Rechten rühmen, am Supreme Court für Jahrzehnte eine klare rechte 6:3-Mehrheit zementiert zu haben. Das Gericht aber verlor seine innere Balance und der etwas moderatere konservative Vorsitzende John Roberts seine Rolle als Vermittler wechselnder Mehrheiten. Daran ändert die Vereidigung von Brown Jackson nichts, denn die neue liberale Richterin ersetzt nur einen anderen liberalen Richter

Wie weit sich das oberste US-Gericht radikalisiert hat, macht das Abtreibungsurteil deutlich. Die abrupte Aufhebung eines seit 50 Jahren geltenden Rechts verstößt nicht nur gegen die bisherige, auf Kontinuität und Verlässlichkeit ausgerichtete Spruchpraxis. Sie widerspricht auch dem Willen der amerikanischen Bevölkerung, die mit einer Zweidrittelmehrheit das Recht der Frauen, über ihren Körper zu bestimmen, beibehalten will. Vergeblich bemühte sich Richter Roberts um einen Kompromiss, der auf die Verkürzung der legalen Frist für einen Schwangerschaftsabbruch von 24 auf 15 Wochen hinausgelaufen wäre.

Clarence Thomas: Gleichgeschlechtliche Ehe und Verhütungsmittel verbieten

Kein einziger konservativer Kollege unterstützte ihn. Die gesellschaftlichen Realitäten sind diesen Verfassungsfundamentalisten gleichgültig. Offen merkte der ultrarechte Richter Clarence Thomas in der Urteilsbegründung an, dass nach seiner Meinung auch die gleichgeschlechtliche Ehe und Verhütungsmittel verboten werden müssen.

Inhaltlich erscheinen die Urteile des Supreme Courts durchaus widersprüchlich. So kippte das Gericht das Abtreibungsrecht, weil es nicht in der Verfassung stehe und deshalb von den Bundesstaaten zu regeln sei. Umgekehrt sprach es dem Bundesstaat New York das Recht ab, in Eigenverantwortung strengere Waffengesetze zu formulieren. Es untersagte der Umweltbehörde EPA die Begrenzung des Schadstoffausstoßes von Kohlekraftwerken, weil dies alleine die Kompetenz des Parlaments sei. Das aber wäre völlig überfordert, detaillierte Grenzwerte und Durchführungsbestimmungen zu erarbeiten. Der gemeinsame Nenner hinter den Urteilen ist alleine der rechte Kulturkampf – gegen Abtreibung, für Waffen und für die von Trumps einstigem Vordenker Steve Bannon ausgerufene „Zerstörung des Verwaltungsstaats“.

Entsprechend alarmiert sind viele Beobachter. „Das Gericht ist außer Kontrolle, und wir fühlen uns machtlos, etwas dagegen zu tun“, schreibt die Kolumnistin Maureen Dowd in der „New York Times“: „Es ist so weit gekommen, dass verantwortungslose Extremisten diktieren, wie wir leben.“ Der Supreme Court akzeptiere keine Regeln mehr, warnt auch die renommierte Historikerin Heather Cox Richardson: „Wir befinden uns in einer Verfassungskrise. Der Kongress muss dringend handeln.“

Linke Demokraten wollen neue Richter ernennen

An Forderungen mangelt es nicht: Das Abtreibungsrecht müsste in einem Bundesgesetz festgeschrieben, ebenso dringend das Wahlrecht vom Parlament kodifiziert und die Filibuster-Regelung im Senat abgeschafft werden, die wichtige Entscheidungen an eine unerreichbare 60-Prozent-Mehrheit knüpft. Eine Begrenzung der Amtszeit der Verfassungsrichter scheint angezeigt. Manche Demokraten kämpfen wie Senator Ed Markey gar leidenschaftlich für eine Aufstockung des Supreme Courts mit linken Richtern, bis „die Balance wieder hergestellt“ ist.

Das Problem: Für keine dieser Ideen gibt es bislang eine Mehrheit im Kongress.

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Derweil lässt das Trump-Gericht an seiner Agenda keinen Zweifel. In der im Herbst beginnenden Sitzungsperiode will es ernsthaft verhandeln, ob die Bundesstaaten künftig in eigener Verantwortung die Regeln für Präsidentschaftswahlen festlegen dürfen. Der Fall ist besonders pikant, da Richter Thomas mit einer rechtsextremen Aktivistin verheiratet ist, die an der Trump-Kampagne zur Manipulation des Wahlergebnisses beteiligt war. Bislang plant Thomas nicht, sich wegen Befangenheit von der Urteilsfindung zurückzuziehen.

Vor diesem Hintergrund wirkt der Hilferuf der Linken Ocasio-Cortez kaum übertrieben: „Wir sind Augenzeugen eines laufenden gerichtlichen Putsches“, warnt die Parlamentarierin: „Wenn der Präsident und der Kongress den Supreme Court nicht jetzt in seine Schranken weisen, dann wird er sich als Nächstes die Präsidentschaftswahlen vorknöpfen.“

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