Fußball-WM in KatarDer bislang größte Skandal der Fußball-Geschichte

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Ein Tourist fotografiert sich vor der Uhr, auf der der Countdown zur WM-Eröffnung läuft. Im Hintergrund die Skyline Dohas

  • Die Liste der unrühmlichen WM-Vergaben ist lang. 1934 propagierte Mussolini senen Faschismus bei der WM in Italien, 1978 regierte eine grausame Militär-Junta, während Argentiniens Nationalmannschaft ihren Sieg im eigenen Land feierte.
  • Mit der Vergabe der WM an Russland und Katar sorgte die Fifa aber für den bislang größten Skandal in der Geschichte des Fußballs.
  • Seit 2010 sind im Wüstenstaat 15.000 Arbeitssklaven gestorben, auf Homosexualität steht die Todesstrafe.
  • Die Fifa kümmert das wenig. Am wichtigsten bleibt für den Verband: Das Geld. Der Fußball hat das Nachsehen.

Köln – Sport und Politik sind nicht zu trennen, das gilt selbstverständlich auch für den Fußball. Schon die erste WM war eine politische, im Jahr 1930 richtete Uruguay das Turnier anlässlich der 100-Jahr-Feier seiner Staatsgründung aus. Und wurde auf Anhieb Weltmeister. Vier Jahre später war Italien an der Reihe, und Benito Mussolini nutzte die Veranstaltung, um die vermeintliche Überlegenheit des Faschismus zu propagieren. Italien wurde ebenso Weltmeister wie 1978 Argentinien, als eine grausame Junta die WM nutzte, um sich vor der Welt zu feiern. Argentinien überstand die Gruppenphase nur, weil man das bitterarme Peru mit Lebensmittellieferungen und einem Kredit erpresste, der erst freigegeben wurde, nachdem Peru 0:6 verloren hatte. Und während politische Gegner in Kerkerhaft saßen, gewann Argentinien unter dem Jubel der Straße das Turnier.

Deutsches Sommermärchen unter Verdacht

Die Liste geht weiter, bis heute ist nicht einmal vollends geklärt, auf welchem Weg die WM 2006 nach Deutschland kam. Es gab verdächtige Geldströme, die Untersuchungen dazu sind mittlerweile ergebnislos eingestellt. Immerhin fand das Turnier in Deutschland ein Gastgeberland mit stabiler Demokratie und geachteten Menschenrechten. Deutschland präsentierte sich der Welt damals als weltoffenes Land mit bemerkenswerter Infrastruktur. Die Sonne schien vier Wochen lang, die Stadien waren ausverkauft – und man überließ sogar den Italienern den Sieg.

Erste Station in Afrika

2010 gastierte der Fußballzirkus erstmals auf dem afrikanischen Kontinent. Südafrikas Bewerbung setzte sich gegen Ägypten und Marokko durch, auch damals wurden Stimmen gekauft. Südafrika hatte nicht viel vom Turnier, zu erdrückend waren die Privilegien und Konzessionen, die die Fifa verlangte. Nach dem Fußballfest blieb ein Schuldenberg, die Fifa zog mit einem Milliardengewinn weiter. Und vergab ein halbes Jahr später die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an Russland und Katar. Der bislang größte Skandal in der Geschichte des Fußballs.

Blatter_Wahl

Der Moment, der den Fußball veränderte: Sepp Blatter präsentiert Katar als WM-Gastgeber. 

2015 gab es bei der Fifa gleich zwei Razzien mit Festnahmen im feudalen Hotel Baur au Lac zu Zürich. Als die Schweizer Behörden damals im Namen US-amerikanischer Ermittler Haftbefehle vollstreckten, zeigte sich der Welt erstmals, dass die Fifa zwar ihre eigene Gerichtsbarkeit haben mag, sogar eine Ethikkommission. Aber nicht gänzlich im rechtsfreien Raum operiert. Eine wichtige Botschaft etwa an Sponsoren, die sich nun überlegen mussten, in welchem Licht sie ihr Engagement im Fußball dastehen ließ. Bei wem ihre Millionen landeten. Plötzlich sahen sich Unternehmen von Weltruf mit der Frage konfrontiert, ob sie womöglich eine kriminelle Vereinigung finanzierten. 

Seither hat sich einiges getan in der Fifa, womöglich wäre eine Vergabe wie im Dezember 2010 heute nicht mehr möglich. Doch eine Organisation aus 211 Mitgliedsverbänden ist nicht leicht zu reformieren, zumal das Geld nach wie vor verführerisch ist. Noch immer konfrontiert der Verband WM-Bewerber mit sagenhaften Forderungen. Präsident Gianni Infantino steht seinem legendären Vorgänger Sepp Blatter kaum nach. Tatsächlich treibt er die Kommerzialisierung des Sports auf die Spitze, erweitert die WM und tat sich zuletzt mit zynischen Behauptungen zu den toten Arbeitsmigranten in Katar hervor. Es ist eines der großen Themen dieser WM mit ihren sagenhaften Bauprojekten. Die Stadien sind pünktlich fertiggestellt, es sind Prachtbauten entstanden; innovativ und wunderschön. Geld hat keine Rolle gespielt, doch der Preis für die in der Wüstenglut errichteten Paläste bemisst sich nicht in Geld. Sondern offenbar vor allem in Menschenleben.

Lusail-Baustelle

Arbeiter auf der Baustelle des Lusail-Stadions, rund 20 Kilometer vor Katars Hauptstadt Doha

Die Zahlen gehen auseinander, was daran liegt, dass Katar – obwohl hochtechnisiert –  angeblich nicht in der Lage ist, nachzuhalten, woran die Gastarbeiter gestorben sind. Wer zum Arbeiten nach Katar will, muss einen Gesundheitscheck absolvieren und seinen Pass an einen Bürgen abgeben. Der Bürge muss katarischer Staatsangehöriger sein und kann anschließend die jeweiligen Arbeiter weitervermitteln an jeden, der in Katar auf Arbeitskraft angewiesen ist. Das „Kafala“ genannte System gilt zwar offiziell als abgeschafft. Doch der Markt funktioniert nach wie vor nach seinen Regeln. Wer sollte es auch ändern? Die Katarer haben kein Interesse, die internationalen Konsortien sind auf billige Arbeitskräfte angewiesen. Und die Arbeiter selbst, die aus den Armenhäusern Südasiens und Afrikas nach Katar kommen, haben keine Stimme.

Alles ist wohl organisiert, man kann den Glitzertürmen beim Wachsen zuschauen. Doch wenn ein Arbeiter stirbt, verliert sich plötzlich jede Spur. Tausende junger Männer sind in den vergangenen Jahren in Katar an vorgeblich natürlichen Ursachen gestorben. Seit der WM-Vergabe 2010 waren es 15.000. Nicht alle haben an den WM-Stadien gebaut, nicht jeder war direkt mit der WM befasst. Doch 15.000 Tote bedeuten eine gewaltige Zahl. Infantino nannte zuletzt eine andere; der Fifa-Chef bezifferte die auf den WM-Baustellen gestorbenen Arbeiter auf: drei.

Beckenbauers historischer Satz

Das Fußball-Establishment ist traditionell zu jedem Schauspiel bereit. Legendär ist Franz Beckenbauers Satz, er habe keinen einzigen Sklaven gesehen in Doha. Was daran gelegen haben könnte, dass der spätestens seit seiner ungeklärten Rolle in der deutschen WM-Bewerbung entthronte Kaiser wohl weder auf einer Baustelle noch in einem der Elendsquartiere der Arbeiter war. Es hat sich in den vergangenen Jahren einiges verbessert für die Arbeitsmigranten in Katar. Unerträglich ist die Lage nach wie vor. Tatsächlich hängen ganze Volkswirtschaften der ärmsten Länder der Welt von den Überweisungen aus der Wüste ab. Doch bleibt es ein System, das die Bedürftigsten ausnutzt.

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Zeitweise scheint es allerdings, als werde bei der Beurteilung Katars auch die Hybris des Westens bloßgestellt, der den Anspruch in die Welt posaunt, den einzig wahren Lebensstil zu führen. Katar argumentiert dann mit der lokalen Kultur einer muslimisch geprägten Gesellschaft, die es zu respektieren gilt. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Doch finden die entscheidenden Debatten über Katar nicht im Korridor kulturellen Ermessens statt.

Dazu zwei Beispiele: In Katar ist öffentlicher Alkoholkonsum nicht erlaubt, Alkohol gehört nicht zur Kultur. Ebenfalls nicht erlaubt ist gleichgeschlechtlicher Sex. Es drohen bis zu fünf Jahre Haft sowie körperliche Züchtigung. Nun kann man darüber streiten, ob die Alkoholkultur des Westens die Welt erobern sollte. Wie man seine sexuelle Orientierung auslebt, ist dagegen ein Menschenrecht. Das steht sogar in den Fifa-Statuten. „Jegliche Diskriminierung aufgrund von (…) sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund ist unter Androhung der Suspendierung oder des Ausschlusses verboten“, heißt es in Artikel 4.

Gelöst wurden die Angelegenheiten dann so: Die Fifa wird das Bier ihres Sponsors selbstverständlich in Katar verkaufen dürfen, wer würde sich eine solche Einnahme entgehen lassen. Schon 2014 in Brasilien war Alkoholausschank in den Stadien grundsätzlich verboten, dennoch fand man einen Weg, weil man immer irgendwie einen Weg findet, Geld zu verdienen. Homosexualität allerdings bleibt in Katar verboten. So viel zu den Werten, wie die Fifa sie lebt.

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Die Hauptstadt Doha wird für die WM geschmückt. 

Die Bewerbung und das „Bidbook“, die Broschüre, mit der Katar damals seine Bewerbung illustrierte, soll die mit Abstand schlechteste gewesen sein. Doch Inhalte haben nie eine Rolle gespielt. Objektiv war Katar nicht in der Lage, der WM den geforderten Rahmen zu bieten. Denn die Ausschreibung sah ein Turnier im Sommer vor. In Monaten, in denen man in Katar der Hitze wegen praktisch nicht auf die Straße gehen kann. Das Wetter auszublenden, war bei der Vergabe 2010 ein starkes Stück. Dass es weitere fünf Jahre dauerte, bis sich die Fifa dazu durchgerungen hatte, das Turnier in den Nordwinter zu verlegen, spricht Bände.

Die Südhalbkugel freut sich

Dass den Mitteleuropäern nun das sommerliche Public Viewing abhandenkommt, ist noch das geringste Übel: Die Menschen in Südafrika, Argentinien oder Australien werden sich freuen, die Weltmeisterschaft ausnahmsweise im Südsommer erleben zu können. Aber die Vergabe hat den Kalender des Weltsports durcheinandergewirbelt. Das Resultat: Acht Tage nach dem WM-Finale wird die englische Premier League wieder spielen, um am zweiten Weihnachtstag ihren weltweit vermarkteten Boxing Day abzuhalten. Die Bundesliga dagegen beginnt erst wieder am 20. Januar. Zwischen dem letzten Spiel vor der Pause und der ersten Partie im neuen Jahr werden dann 68 Tage gelegen haben. Und der unsäglich verdichteten Hinrunde wird nach der Pause eine beispiellose Hatz durch die Rückrunde folgen.

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Außenansicht des Lusail-Stadions, in dem am vierten Advent das WM-Endspiel stattfinden wird.  

Immerhin hat Katar zwar vielleicht keine Vereinskultur wie die großen Fußballnationen. Doch die Nationalmannschaft ist mittlerweile konkurrenzfähig. Im Jahr 2019 gewann man die Asienmeisterschaft. Die Spieler stammen überwiegend aus der Aspire-Akademie, die in Doha seit 2004 für Sporthelden sorgen soll, nicht nur im Fußball. Mit viel inländischem Geld und ausländischem Know-how ist dort Gewaltiges bewegt worden. Dennoch sind die meisten Nationalspieler nach wie vor Kinder von Arbeitsmigranten – beinahe 90 Prozent der knapp drei Millionen Bewohner Katars sind Gastarbeiter, das ist Weltrekord. Chancen auf die katarische Staatsbürgerschaft haben auch die im Land geborenen Kinder der zweiten oder dritten Generation nicht. Ob Nationalspieler oder nicht.

Katars Engagement im Sport hat dabei weniger zum Ziel, das Land ins bessere Licht zu rücken oder etwa die einheimische Bevölkerung bei Laune zu halten. Die Gastarbeiter haben ohnehin keine Zeit, ins Stadion zu gehen. Und wenn einem der 300.000 Katarer der Sinn nach Fußball steht, kann er jederzeit nach Paris reisen, um PSG anzusehen, das im Besitz des katarischen Staatsfonds steht. Der Emir hat so direkten Zugriff auf die Weltstars Neymar, Messi und Mbappé. Es geht auch nicht um grundsätzliche Eitelkeiten. Das Volk schlendert still durch die Einkaufszentren und zeigt geringe Ambitionen, sich der Welt zu präsentieren. Die Bürger zahlen keine Steuern, leben mietfrei und haben praktisch keine Fixkosten. Man lebt frei von finanziellen Zwängen und hat kein sonderliches Interesse daran, die Welt bei sich zu Gast zu haben.

Stadion_Innen

Das Finalstadion von innen

Allerdings liegt Katars Macht ausschließlich in seinem Reichtum. Wie auf dem Präsentierteller liegt die kleine Halbinsel im Persischen Golf, eingerahmt von Saudi-Arabien und dem Iran. Beide Länder könnten sich das Emirat und seine Schätze im Vorbeigehen einverleiben. Ewig ist das Trauma beim Gedanken an Kuweit, das im August 1990 vom Irak überfallen wurde.

Wer vor dem Verschwinden geschützt sein will, muss sich bekanntmachen, nicht anders verfuhr der russische Oligarch Roman Abramowitsch, als er im Jahr 2003 den FC Chelsea kaufte und auf einen Schlag berühmt wurde. Anders als viele andere reiche Russen verschwand Abramowitsch nicht. Katar will auf geopolitischer Ebene einen ähnlichen Effekt. Und hat neben dem Sport auch über die Felder Kultur und Bildung hilfreiche Verbindungen in alle Welt geknüpft – ganz abgesehen von den riesigen wirtschaftlichen Beteiligungen. Und auch den Luftwaffenstützpunkt Al Udeid hat man den USA gern zur Verfügung gestellt. So bleibt man im Gespräch.

Ein ausgefeilter Plan

Die WM-Ausrichtung fügt sich damit in den Plan, den die Herrscher Katars seit Jahrzehnten verfolgen, um ihrer Heimat einen Stammplatz auf der Weltkarte zu verschaffen. Das Problem ist daher weniger Katar. Es ist die Fifa, die sich nur zu gern kaufen ließ. Und den Fußball einmal mehr für politische Ziele verhökerte. Der Fußball wird in den kommenden Wochen schwer darunter zu leiden haben. Die Fifa, die sich stets als Hüter des Spiels dargestellt hat, ist ihrer Rolle nicht gerecht geworden. Und tatsächlich werden derartige Skandale nur dann zu verhindern sein, wenn die Welt der Fifa unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie mit der Vergabe des Turniers in Länder mit zweifelhafter Menschenrechtssituation ihr Geschäft schädigt. Denn solange das Geld fließt, wird sich in der Fifa-Welt nichts ändern. Und in Katar schon gar nicht.

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