Philipp Kaß (40) hat den sogenannten „CoachPass Algorithmus“ entwickelt. Jetzt hat der promovierte Sportwissenschaftler ein Buch geschrieben und mit dem provokanten Titel „Die Nachwuchslüge“ versehen. Der Autor verspricht 209 Seiten voller Sprengstoff.
Philipp Kaß„Die Jugendarbeit in den Leistungszentren produziert mehr Trauma als Talent“

Die U 19 des 1. FC Köln wurde im Mai Deutscher Meister. Für die Nachwuchsarbeit des Klubs findet Philipp Kaß lobende Worte.
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Herr Kaß, der Buchtitel „Die Nachwuchslüge“ scheint geeignet, einen Shitstorm loszutreten. Wie waren die ersten Reaktionen nach der Veröffentlichung?
Philipp Kaß: Es gab keine Empörungswelle – sondern sehr viel Zustimmung von Kollegen, Trainern, Verantwortlichen und auch aus den Vereinen. Das zeigt: Die Protagonisten in den Fußball- Nachwuchsleistungszentren (NLZ) wissen längst, dass im Nachwuchsleistungssystem etwas fundamental schiefläuft. Vielleicht haben sie nur darauf gewartet, dass es jemand ausspricht – ungeschönt und ohne Karrierefilter.
„Wie die deutschen Profifußballclubs ihre Talente vernichten“ lautet der Untertitel. Das ist ein gewaltiger Vorwurf. Haben Sie dafür Belege?
Wahrscheinlich mehr als genug. Ich habe mehr als 15 Jahre lang Nachwuchsleistungszentren entwickelt, beraten und zertifiziert, Trainer ausgebildet, Eltern und Spieler begleitet – vom ambitionierten Klub bis zur Akademie eines Bundesligisten. Das System produziert sehr viel mehr Trauma als Talent. Und es tut das systematisch. Wie lassen sich sonst die geringen Prognosewahrscheinlichkeiten im unteren einstelligen Prozentbereich erklären, ob jemand Profi wird oder nicht? Ich belege das im Buch mit Zahlen, Zitaten, Insiderberichten und eigenen Erlebnissen.

Philipp Kaß ist promovierter Sportwissenschaftler.
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In jedem einzelnen Kapitel legen Sie unverblümt den Finger in die Wunde und versprechen konkrete Lösungsansätze. Ein Beispiel bitte.
In einem Kapitel geht es um den Traum „Profivertrag“. Es zeigt, wie Spieler, Eltern und Trainer einer Illusion aufsitzen, die sich mit der Realität nicht deckt. Die Lösung? Frühzeitige Aufklärung, echte Bildungswege, mentale Schutzräume, ein „Safety Net“ (Sicherheitsnetz; d. Red.) für Talente. Ich fordere einen Perspektivwechsel – von der Selektionslogik hin zu einer echten Entwicklungslogik. Die heutige Jugendarbeit erinnert eher an Hochleistungs-Schach mit Menschenkindern. Das ist absurd – und gefährlich.
Der 1. FC Köln hat im Mai die Deutsche Meisterschaft der A-Junioren gewonnen. Wie würden Sie den Klub, für den Sie ebenfalls tätig waren, in seinem Umgang mit Talenten bewerten?
Ich habe den FC erst kürzlich in einem Linkedin-Beitrag dafür gelobt, dass trotz der verbesserungswürdigen Infrastruktur am Geißbockheim in diesem Klub echte Ausbildung gelebt wird. Ich gönne dem Klub den Titel von Herzen – da steckt viel engagierte Arbeit der handelnden Personen dahinter. Der FC hat viele kluge Leute in der Akademie und ich bin tatsächlich zuversichtlich, dass der FC ein Klub sein kann, der dem strukturellen Zwang zur Selektion und kurzfristigen Ergebnisorientierung widerstehen kann.
Sie haben für den Deutschen Fußball-Bund Nachwuchsleistungszentren zertifiziert und in Akademien in leitender Funktion gewirkt. Mit dem Innenleben sind Sie also bestens vertraut. Wo genau hakt es Ihrer Ansicht nach?
Es beginnt beim Menschenbild. Viele Vereine sehen im Spieler einen Rohdiamanten – den man schleifen, schleifen, schleifen muss. Aber vor allem Kinder und Jugendliche sind keine Diamanten. Sie sind keine Objekte der Formung, sondern Subjekte ihrer Entwicklung. Es fehlt zum Beispiel an der Kompetenz, Raum für Fehler zuzugestehen, an echter Diversität, was Sichtweisen und Standpunkte auf Basis von Argumenten angeht – und an einem langfristigen Plan B für jeden Einzelnen. Die Durchlässigkeit in den Profibereich fällt in Deutschland im Vergleich zu allen anderen Top-Nationen wie England, Frankreich, Italien und Spanien deutlich geringer aus. Das sagt im Grunde alles und trotzdem wird weiter gesiebt, gedrillt, sortiert. Das ist ein Irrweg.
Wer sollte „Die Nachwuchslüge“ unbedingt lesen, wer besser die Finger davonlassen?
Eltern, die glauben, ihr Kind müsse nur hart genug trainieren, dann klappt das mit der Karriere – sollten es unbedingt lesen. Trainer, die glauben, sie seien Teil eines humanen und liberalen Systems, auch. Wer lieber in der Filterblase bleiben will, sollte es meiden. Dieses Buch ist unbequem. Es will nicht gefallen, sondern aufrütteln. Und es fordert ein Umdenken – nicht nur im Fußball, sondern im gesamten Talentverständnis.
Zur Person
Philipp Kaß (40) ist promovierter Sportwissenschaftler. Er war Professor für Fußballmanagement und ist Vater von vier Kindern, die allesamt in Köln geboren sind. Kaß hat als Führungskraft und Trainer jahrelang in Nachwuchsleistungszentren gearbeitet, DFB-Zertifizierungen durchgeführt und gilt als renommierter Experte im Bereich der Organisationsentwicklung von NLZ und im Feld der Trainerforschung. Tätig war er unter anderem für den 1. FC Köln, Fortuna Köln, Austria Wien, Alemannia Aachen, SC Paderborn und Arminia Bielefeld. Bis Ende Oktober war er Leiter der Nachwuchsabteilung des FC Ingolstadt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Stuttgart und in Köln. „Die Nachwuchslüge“ ist sein siebtes Buch.