Olympia in Antwerpen vor 100 JahrenHymne unauffindbar, Gold fürs Dichten

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Leichtathletik-Wettkampf im Olympiastadion von Antwerpen

  • Ende April 1920 starteten die Olympischen Sommerspiele in Antwerpen – mit Eiskunstlaufen und Eishockey.
  • Die Wettbewerbe dauerten – kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs – bis zum 12. September.
  • Ein Rückblick auf Olympia vor 100 Jahren. Es gab viele Unterschiede, aber auch einige Parallelen.

Köln – Die Welt des organisierten Sports war vor 100 Jahren noch dabei, sich zu sammeln und zu entwickeln, Olympische Spiele  verbreiteten damals daher noch den Charme eines beschaulichen Sportfests, in diesem Fall mit Teams aus 29 Ländern. Das ist der eine große Unterschied zur kommerziellen Jetztzeit, der die Veranstaltung von Antwerpen im Jahre 1920 betrifft. Der andere ist das gerade erst überstandene Unheil, das mit dem  Austragungszeitpunkt   zusammenhängt. Der Erste Weltkrieg war erst seit 1918 beendet, die seelisch belastendenden Erinnerungen an das furchtbare Morden, gerade auf flandrischen Feldern unweit von Antwerpen, das selbst Teil dieser belgischen Region ist, war  noch sehr präsent. Und so zierte den Triumphbogen des Olympiastadions nicht etwa ein klassischer Diskuswerfer, sondern ein belgischer Soldat, der gerade dabei ist, eine Handgranate zu werfen.

2561 Männer, 65 Frauen

Eine dritte, in der heutigen Zeit undenkbare Variante der Spiele der VII. Olympiade war die Länge ihres Austragungszeitraums. Sie begannen an diesem Montag vor 100 Jahren, also Ende April, und zwar – ebenfalls skurril klingend – mit den Wintersport-Disziplinen Eiskunstlaufen und Eishockey. Dort gewann Kanada. Beendet waren sie erst am 12. September. In dieser Zeit bewarben sich 2626 Athleten um 156 olympische Siege, darunter waren auch 65 Frauen, die für die Disziplinen Schwimmen, Wasserspringen, Tennis   und Eiskunstlaufen  zugelassen waren. Die Tennis-Titel im Einzel und Mixed gewann die Französin Suzanne Lenglen, in jener Zeit ein Star der Szene. Sie siegte in ihrer Laufbahn bei zwölf Grand-Slam-Turnieren.

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Die Eröffnungsfeier im Olympiastadion

Nicht mit dabei waren in Antwerpen die geschlagenen Mittelmächte des Ersten Weltkriegs – Deutschland, die Türkei, Ungarn und Österreich. Russland verzichtete wegen der Wirren des Bürgerkrieges, der sich im Anschluss an die Oktoberrevolution von 1917 ergab, auf die Entsendung einer Delegation. Teilgenommen haben dafür die neuen europäischen Staaten Finnland, Irland, Estland, Lettland und Litauen.

Vor der offiziellen Eröffnungsfeier im Olympiastadion im Stadtteil Kiel am 14. August – die Wettbewerbe auf dem Eis waren gewissermaßen ein Vorspiel – gab es einen Gottesdienst in der Antwerpener Liebfrauenkirche. Kardinal Mercier sagte dabei, der Sport habe „vor 1914 zur Vorbereitung auf den Krieg gedient“, heute sei er „die Vorbereitung auf den Frieden“. Doch die  Vorstellung vom Sport als Friedensengel klang in einer Welt absurd, deren Sportler den Ausbruch des Krieges zuvor vielfach mit  Begeisterung aufgenommen hatten.

Olympische Ehren für Dichter

Das IOC berichtet, man habe sich auf einer Sitzung Anfang 1919 für Antwerpen als Austragungsort der Spiele entschieden, um das Belgien für das Leid und die vielen Opfer  während des Krieges zu entschädigen. Der britische Olympiahistoriker David Goldblatt berichtet hingegen, dass die Spiele 1913 nach Antwerpen vergeben wurden.  Rom, Budapest und Amsterdam waren die ausgeschiedenen Mitbewerber.

Goldmedaillen  gab es 1920 nicht nur für herausragende sportliche Leistungen, sondern auch für künstlerische Darbietungen auf 18 Gebieten – dazu zählten städtebauliche Entwürfe, Plastiken, Malerei und Grafik, Literatur oder Dichtung jeder Art sowie Musik.

Eid und die Ringe-Flagge

Der Zuschauerzuspruch bei der  Eröffnungsfeier im August war eine Enttäuschung. Die belgische Zeitung „De Standaard“ schrieb: „Die Haupttribüne ist voll, aber die Ränge sind vorwiegend leer.“ Die Bekanntmachung der Termine für einzelne Wettkämpfe war schlecht organisiert, zudem waren die Kosten für die Tickets sehr hoch. Auch das Wetter spielte nicht mit – Goldblatt berichtet, es sei während der gesamten Dauer der Wettkämpfe durchweg  miserabel gewesen.

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Der belgische Fechter Victor Boin spricht den Olympischen Eid.

Bei der Eröffnungszeremonie wurden zwei Neuerungen eingeführt, die bis heute stark mit Olympischen Spielen in Verbindung gebracht werden: Der olympische Eid wurde erstmals aufgesagt. Diesen Auftrag erhielt der belgische Fechter Victor Boin, den Text dazu hatte Pierre de Coubertin geschrieben, der die Spiele wiederbelebt hatte und nun dem Internationalen Olympischen Komitee vorstand. Boin gewann später Silber mit der belgischen Degenmannschaft. Zudem wurde die olympische Fahne mit den fünf ineinandergreifenden Ringen als Innovation gezeigt und als Erkennungszeichen für die Spiele etabliert. Entworfen hatte die Flagge de Coubertin, der dazu schrieb: „Ihre Gestalt ist symbolisch zu verstehen. Sie stellt die fünf Erdteile dar, die in der olympischen Bewegung vereint sind. Ihre sechs Farben entsprechen denen sämtlicher Nationalflaggen der Welt.“

Die Wettkämpfe

In der Leichtathletik, im Schwimmen und Rudern dominierten die von den USA entsandten Athleten, die auch die Medaillenwertung mit 41 Goldmedaillen klar vor Schweden, Großbritannien und Finnland (19 bzw. jeweils 15 Siege) für sich entschieden.  In der Leichtathletik brillierten die Läufer des erst seit 1917 als eigenständiger Staat registrierten Finnland. Den Marathon gewann  Hannes Kolehmainen.  Der 23-jährige Paavo Nurmi siegte in drei Rennen – über 10000 Meter sowie im Einzel und mit dem Team im Crosslauf. Nurmi, der das Etikett „Wunderläufer“ erhielt, erlief sich noch sechs weitere Goldmedaillen, fünf im Jahre  1924 in Paris  und eine vier Jahre später in Amsterdam.

Der Star der Spiele jedoch war der italienische Fechter Nedo Nadi, der  fünf  von sechs Wettbewerben gewann. Mit seinem Bruder Aldo Nadi sicherte er sich  drei Mal Gold in den Team-Wettbewerben. Schon 1912 war der damals 18-jährige Nedo Nadi im olympischen Florett-Wettkampf von Stockholm der Beste. Zur Siegerehrung der Nadis lief gleichwohl nicht die italienische Nationalhymne, die für die Organisatoren nicht auffindbar war. Stattdessen erklang   „O sole mio“.  Noch erfolgreicher in Antwerpen war nur der US-Schütze Willis Lee mit fünf Siegen und jeweils einem zweiten und einem dritten Platz.

Bei den Frauen dominierte die US-Schwimmerin Ethelda Bleibtrey, damals 18 Jahre jung,  die alle drei Schwimmwettbewerbe der Frauen gewann. Mit den Vorwettkämpfen schwamm sie insgesamt fünf Mal in Antwerpen und stellte dabei jeweils einen Weltrekord auf. Die Wettkampfstätte der Schwimmer, das „Stade Nautique“, wurde dabei  ganz unterschiedlich bewertet. De Coubertin würdigte es als „das Beste, das die Olympischen Spiele bis dahin zustande gebracht hatten“. Die US-Delegation jedoch bezeichnete die Anlage „als einen Graben mit einem Damm, gefüllt mit schwarzem kalten Wasser“.

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Gold-Gewinner: Kanadas Eishockey-Team

Für Furore sorgte überdies der Ruderer John B. Kelly,  Vater der Schauspielerin Grace Kelly und Großvater des Fürsten Albert von Monaco. Damals war Rudern gespalten zwischen Gentlemen-Amateuren der Privatuniversitäten und - klubs auf der einen und einer Arbeitertradition aus Bootsrennen auf der anderen Seite. Der Maurer Kelly wurde zuvor von der prestigeträchtigen Henley-Regatta auf der Themse ausgeschlossen, eine Teilnahme von Handwerkern war nicht gestattet.  In Antwerpen, wo in einem trüben Abwasserlauf mit Blick auf Staubecken, Öltanks und schmutzigen Fabrikmauern gerudert wurde, gewann Kelly schließlich Gold im Einer und im Doppelzweier – diesen Erfolg wiederholte er vier Jahre später in Paris.

Die Spiele  fuhren ein erhebliches Defizit ein, die Rechnung hatte das Olympische Komitee Belgiens zu begleichen, die sie an ihre Regierung weiterleitete. Die wiederum leitete die Kosten  auf den belgischen Steuerzahler um. Auch wenn die Spiele von Antwerpen vor 100 Jahren noch wie ein Relikt der Belle Époque wirkten, so waren sie in Hinsicht auf Verschwendung und der Überziehung eines Etas durchaus zukunftsweisend.

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