Lobby für MädchenMädchen mit Behinderungen werden häufiger Opfer von Gewalt

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Frauenschützerinnen wünschen sich mehr barrierefreie Schutzräume.

Frauenschützerinnen wünschen sich mehr barrierefreie Schutzräume.

Köln – Kinder werden häufiger Opfer von Misshandlungen und sexueller Gewalt als Erwachsene. Weil sie oft wehrlos sind. In Abhängigkeit leben. Niemandem haben, dem sie sagen können, was ihnen angetan wird. All das trifft auf eine Gruppe noch stärker zu: Mädchen mit Behinderungen. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2012 belegte, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen allen Formen von Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt sind als Frauen ohne Behinderungen. Sie erleben in der Kindheit und Jugend zwei- bis dreimal häufiger sexuellen Missbrauch.

Seit der Veröffentlichung der Studie vor acht Jahren hat sich wenig verändert. Immer noch fehlen die im Fazit geforderten „niedrigschwelligen und barrierefreien Schutz- und Unterstützungsangebote“. Ja, es gibt Hilfsangebote für Frauen, die geschlagen oder misshandelt werden. Doch nur wenige davon sind barrierefrei. Zum Beispiel die Frauenhäuser: Sie bieten Menschen in akuten Gewaltsituationen Schutz und eine Unterkunft. In NRW gibt es 73 solcher Einrichtungen, keine davon ist komplett barrierefrei.

Ein Aufzug reicht nicht

Acht Frauenhäuser sind rollstuhlgerecht, eins davon ist zusätzlich für Frauen mit einer Hörbehinderung geeignet. Aber es geht nicht nur um die sichtbaren Barrieren wie Treppen, sagt Beatrice Braunisch, Geschäftsführerin der „Lobby für Mädchen“ in Köln. Es seien auch die inneren Barrieren, die abgebaut werden müssen. „Wir brauchen die Bereitschaft, den Mädchen ein Angebot zu machen. Die Mädchen wahrzunehmen und sie mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen ernst zu nehmen.“

„Lobby für Mädchen“ bietet Kölnerinnen bis 27 Jahren nach eigener Aussage Hilfe in allen Lebenslagen an. Das Angebot wird seit vielen Jahren von „wir helfen“ unterstützt. Der Verein informiert außerdem über die Lebenssituationen von Mädchen und macht Mädchenpolitik. Für alle Mädchen? „Wir müssen zugeben, dass junge Frauen mit Behinderungen derzeit noch nicht von den vielen Hilfsangeboten in Deutschland profitieren“, sagt Braunisch. „Wir möchten sie aber unbedingt erreichen.“ Zwar sei beispielsweise das neue Mädchenzentrum im Eigelstein-Viertel barrierefrei, „doch nur der Fakt einen Aufzug oder eine rollstuhlgerechte Toilette zu haben, reicht nicht.“

Mit Piktogrammen Gefahren erklären

Die Jugendhilfe sei da ihrer Meinung nach in der Pflicht. „Lobby für Mädchen“ hat im letzten Jahr bereits einen ersten Schritt geschafft: Sie stellt zwei Pädagogen ein, die aus der Behindertenarbeit kommen. Damit es gelingt, an dieser Stelle die Jugend- und Behindertenhilfe zu verschmelzen. Eine davon ist Anna Rustler. Gemeinsam mit ihrer Kollegin hat sie einen Workshop für Förderschulen mit geistiger Entwicklung zum Thema Gewaltschutz konzipiert. Durch die Präventionsarbeit soll den Mädchen nicht nur Wissen vermittelt werden, sie sollen auch wissen, dass sie bei der „Lobby“ Hilfe kriegen.

Anna Rustler und Beatrice Braunisch bemühen sich bei der „Lobby für Mädchen“ um Inklusion.

Anna Rustler und Beatrice Braunisch bemühen sich bei der „Lobby für Mädchen“ um Inklusion.

Ziele im Workshop: über die eigenen Rechte sprechen, lernen, wo man Hilfe holen kann, Selbstbestimmung und Selbstbehauptung stärken sowie die Sexualität und sexuelle Aufklärung thematisieren. Dafür arbeiten die Pädagoginnen zum Beispiel mit Piktogrammen. Das sind grafische Darstellungen, die Inhalte vereinfacht vermitteln. Sie stellen verschiedene Situationen dar, wie Hilfe rufen, verschiedene Gewaltformen oder unterschiedliche Gefühle. „Die Mädchen verstehen die Situationen sofort. Das hilft immens in der Kommunikation“, sagt Rustler.

Experten warnen vor hoher Dunkelziffer

Die Piktogramme werden immer wieder im Workshop eingesetzt: Nach welchen Situationen soll man sich Hilfe holen bei der „Lobby für Mädchen“? Wie kann ich Stopp sagen? Bringt das Bild ein gutes oder schlechtes Gefühl? „Wenn wir beispielsweise die Darstellungen von Gewalt zeigen, wissen die Mädchen: Das ist nicht in Ordnung und sie können das äußern. Mit Piktogrammen von einem Telefon, Computer, einer Beratungssituation oder einer polizeilichen Befragung besprechen wir verschiedene Hilfsmöglichkeiten.“

Die Lobby für Mädchen spürt: Der Bedarf ist da. „Dass Mädchen mit Behinderungen öfter Gewalt erfahren, war schon vor der Studie bekannt. Sie hat es nur belegt“, sagt Rustler. Es kommt öfter zu psychischer und körperlicher Gewalt durch die eigenen Eltern. Zum anderen gibt es Fälle von sexualisierter Gewalt von anderen Erwachsenen. Mit Blick auf die Studie muss beachtet werden: Es kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine große Dunkelziffer hinzu.

Rustler fasst es so zusammen: „Die Menschen, die am schutzlosesten sind, erfahren die meiste Gewalt.“ So seien die Mädchen mit schweren Mehrfachbehinderungen überdurchschnittlich oft betroffen, genauso wie Mädchen mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen. Sie sind eben hilfloser. Können sich körperlicher noch schlechter wehren und sich verbal nicht gut mitteilen. Dass Täter gerade diese Schwäche ausnutzen, um Mädchen sexuelle Gewalt anzutun, scheint vielen undenkbar. Das Tabu wiederum gebe Tätern Sicherheit. „Machtmissbrauch lässt sich an Mädchen mit Behinderungen besonders gut begehen.“

Menschen mit Behinderungen sind auf ihr Umfeld angewiesen

Deshalb möchte „Lobby für Mädchen“ das Angebot ausbauen: Wie kann man den Mädchen auch nach dem Workshop helfen? Wer kann an einem Mädchengesprächskreis teilnehmen? Wer benötigt individuelle Hilfe? Längerfristig soll für Mädchen mit schweren geistigen und/oder körperlichen Behinderungen die Prävention mit der Beratung gekoppelt werden.

Auch Aufklärungsveranstaltungen für das nähere Umfeld sollen stattfinden. Die Umgebung, aber auch die Öffentlichkeit, müsse für das Thema sensibilisiert werden. Sexualisierte Gewalt findet nach Studien überwiegend im persönlichen Umfeld statt: Verwandte, Freunde, Nachbarn. Für jede gewaltbetroffene Frau und auch jeden Mann ist es schwer die Vorfälle zu thematisieren. Doch Menschen mit Behinderungen sind meist massiv auf die Menschen in ihrem persönlichen Umfeld angewiesen. Die Abhängigkeitsverhältnisse sind noch komplexer.

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Um Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen mit diesen Themen zu erreichen, muss die Jugend- und Behindertenhilfe zusammenkommen, so der Wunsch von Braunisch. „Beim Gewaltschutz haben wir unsere Kompetenzen. Deshalb möchten wir die Behindertenhilfe gerne unterstützen.“ Nur so können die Mädchen lernen, sich zu wehren.

Geschichte der „Lobby für Mädchen“

Der Verein „Lobby für Mädchen“ ist in Köln eine Anlaufstelle für Frauen bis 27 Jahre. Bereits 1987 ist aus einem Fachkongress zum Thema sexueller Missbrauch die Initiative für ein Mädchenhaus entstanden. Heute berät der Verein junge Frauen und führt Präventionsarbeit an Schulen durch. Sie informieren unter anderem über Liebe und Lust, Essstörungen, Ausgrenzungen sowie sexualisierte Gewalt im Netz.

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