Selbstverletzungen bei Jugendlichen„Ritzen ist oft ein Ausdruck von Kummer“

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Mädchen verletzen sich deutlich häufiger selbst als Jungen.

Mädchen verletzen sich deutlich häufiger selbst als Jungen.

Herr Professor Wewetzer, Experten fürchten, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen in der Corona-Krise stark zugenommen haben. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Christoph Wewetzer: Es werden definitiv mehr Kinder und Jugendliche mit akuten psychischen Krisen bei uns eingeliefert. Besonders Fälle mit Depressionen und Magersucht, aber auch Jugendliche mit Suizidabsichten. Wir haben gerade so viele magersüchtige Jugendliche wie noch nie in unserer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Aber meinen Kollegen und mir ist wichtig: Es fand und findet keine Triage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie statt. Es werden also keine Patienten, die sofort behandelt werden müssen, abgewiesen. Wer akute Hilfe braucht, bekommt sie.

Sehen Sie mehr junge Patienten, die sich selbst verletzen?

Ja. Es gibt dazu in Bezug auf die Pandemie zwar noch keine Studien, eine Erhebung aus den letzten Jahren zeigt aber schon, dass selbstverletzendes Verhalten bei Mädchen in der Pubertät um etwa elf Prozent zugelegt hat. Generell sind Mädchen viel häufiger von selbstverletzendem Verhalten betroffen als Jungen.

Welche Verhaltensweisen stufen Sie als selbstverletzend ein?

Wir sprechen von einer freiwilligen und direkten Zerstörung oder Veränderung des eigenen Körpergewebes. In Abgrenzung zu beispielsweise einem Piercing ist das Verhalten nicht sozial akzeptiert. Die häufigsten Formen sind Ritzen, zum Beispiel mit einem Geodreieck, oder Schneiden mit einer Rasierklinge oder einem Messer. Wir haben in der Klinik aber auch Jugendliche, die Batterien oder Glasscherben schlucken. Das wird gefährlich, wenn sie irgendwo im Darm hängen bleiben. Bei Batterien können innere Organe verätzt werden. Gerade behandeln wir ein junges Mädchen, das Chlorreiniger getrunken hat.

Professor Christoph Wewetzer leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln-Holweide.

Professor Christoph Wewetzer leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln-Holweide.

Warum tun die Jugendlichen ihren Körpern so etwas an?

Einem „oberflächlichen“ Ritzen liegt meistens keine psychische Störung zugrunde, sondern es ist Ausdruck von Kummer und Stress. Vielleicht hat ein Mädchen Ärger mit ihren Freundinnen oder der Freund hat sie verlassen. Gerade diese leichte Form der Selbstverletzung ist oft durch die Peer-Group oder das Internet inspiriert. Wenn es einem Mädchen schlecht geht und es gerät in ein Forum, wo sich Mädchen zum gemeinsamen Ritzen verabreden, hat das einen hohen Aufforderungscharakter.

Wann lassen Hautverletzungen auf eine psychische Störung schließen?

Wenn sich ein Mensch wiederholt so tief in die Haut schneidet, dass diese Wunden genäht werden müssen. Massive Verletzungen deuten auch oft auf eine beginnende emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ hin. Als Kinder- und Jugendpsychiater sind wir mit dieser Diagnose unter 16 Jahren noch zurückhaltend.

Wie hängen psychische Erkrankung und Selbstverletzung zusammen?

Diese Patienten haben oft ein zutiefst negatives Selbstbild und erklären ihr selbstverletzendes Verhalten damit, dass sie Druck abbauen müssen. Sie sagen: Mir geht es schlecht und so kann ich für einen Ausgleich sorgen. Oft können sie detailliert beschreiben, wie sie Entspannung spüren, wenn das Blut den Arm herunterfließt.

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Wie können Sie den Jugendlichen helfen?

Die Therapie besteht aus mehreren Bausteinen. Wir suchen nach den Ursachen für die beschriebene innere Leere. Manchmal gibt es eine Vorgeschichte, in der ein Kind Übergriffe oder sexuelle Gewalt erlebt hat. Ein weiter Teil der Therapie ist das so genannte Skill-Training. Wir versuchen dem Jugendlichen einen „Skill“, eine eigene Fähigkeit zu geben, wie er den beschriebenen Druck anders als durch Ritzen abbauen kann. Zum Beispiel auf einer Chilischote kauen oder sich ein Gummi auf die Haut flitschen. Dann spürt die Person einen extremen Reiz, verletzt sich aber nicht. Damit ist das Grundproblem nicht gelöst, aber es bilden sich keine Narben oder es ist nicht potenziell lebensbedrohlich wie das Verschlucken von Gegenständen.

Professor Christoph Wewetzer leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln-Holweide.

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Region einsetzen.

Die Spendenkonten lauten:

„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“

Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225

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