wir helfen"Planet Kultur verlieh mir Flügel"
Kevin Reichmann hat Musik im Blut. Was nicht außergewöhnlich ist für einen jungen Menschen, der aus einer Sinti-Familie stammt. Der Vater: Freischaffender Musiker, dessen Familie in Köln lebt. Die Mutter: Nachfahrin einer Geigenbauer-Dynastie, die im Ruhrgebiet zu Hause ist. Weil sich die Eltern nicht für einen festen Wohnsitz bei einer der Großfamilien entscheiden können, pendeln sie während Kevins Kindheit zwischen dem Ruhrgebiet und Köln. Was den schulischen Leistungen des Jungen nicht gerade zuträglich ist. Es fehlt an Kontinuität, Konzentration, (schulischem) Karrierestreben. Zunächst.
DSDS statt Schulabschluss
Kevin paukt nicht, er tanzt. Die Eltern unterstützen ihn in seinem Talent. Jedes kostenlose Kursangebot für HipHop, klassischen Tanz, Ballett oder Modern Dance – für eine private Musikschule reicht das Familienbudget nicht aus – nimmt er begeistert wahr. Auch die Chance, bei „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) zu punkten. Kevins Ehrgeiz konzentriert sich darauf, Dieter Bohlens Jury zu überzeugen – und verpasst dadurch seinen Schulabschluss. Kevin tanzt weiter durchs Leben. Bis er sich auf einen Besuch seiner Longericher Hauptschulklasse beim Jobcenter besinnt. An die nette Dame, die ihn aus der Menge der Mitschüler herausfischte und das Gespräch mit ihm suchte – man könnte schwören, weil Kevin auf sie zu tanzte. An den Ansporn, einen Schulabschluss zu machen – um weiter tanzen, sich von der Musik ernähren zu können. An das Projekt, das sie ihm ans Herz legte – „Integration statt Parallelgesellschaft“ von Planet Kultur e.V.
Kultur trotz knappem Budget
Im Sommer 2010 bewirbt er sich, damals 19 Jahre alt, bei dem von Stunde Null an von „wir helfen“ geförderten Projekt. Und wird genommen. Ziel des Vereins ist es, Jugendlichen, deren Eltern ein knappes Budget haben, Tanz, Schauspiel und Gesang zu ermöglichen – und einen Schulabschluss. Seit 2006 bietet das „Planet Kultur“-Team unter Leitung von Lisa Mehnert bis zu 20 musisch begabten Jugendlichen, von denen einige geflüchtet, schulmüde sind oder andere ungünstige Ausgangsbedingungen haben, kostenfreien Unterricht. Am Morgen lernen sie im Rahmen des Ganztagsprojekts mit Dozentinnen und Dozenten klassische Schulfächer wie Mathe, Deutsch oder Biologie. Am Nachmittag unterrichten professionelle Künstler sie in Tanz, Gesang und Schauspiel. Gleichzeitig entwickelt das Team mit den Teilnehmern berufliche Perspektiven, vermittelt Praktika und hilft bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz.
Puck bringt Stein ins Rollen
Höhepunkt ist die Aufführung einer gemeinsam erarbeiteten Inszenierung im Schauspiel Köln – im vergangenen Jahr half die Oper aus. Kevin Reichmann, heute europaweit gefragter Musical-Star, bezeichnet die Aufführung auf einer großen Bühne rückblickend als Meilenstein seiner künstlerischen Entwicklung. „Meine Rolle als Puck brachte einen Stein ins Rollen, den niemand hätte aufhalten können“, erinnert er sich an die Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum vor sieben Jahren. Applaus und Anerkennung motivierten: Im Juli 2012 macht Kevin seinen Hauptschulabschluss an der Tages- und Abendschule Köln (TAS).
Kleinen Samen gelegt
Ohne Lisa Mehnert und ihr Team wäre Kevin Reichmann wahrscheinlich nicht so weit gekommen. „Sie sind intensiv mit mir in Arbeit gegangen, haben gerochen, dass mehr in mir steckt, als ich mir je zugetraut hätte“, sagt er, „dafür bin ich unendlich dankbar.“ „Ich habe einen kleinen Samen gelegt, indem ich Kevin an das Musical herangeführt habe, er selbst hat sich damals eher im Popbereich gesehen“, antwortet Lisa Mehnert auf die Frage nach ihrem Anteil an Reichmanns Karriere – und erinnert sich an seinen anschließenden unermüdlichen Einsatz dafür, seinen Lebenstraum „Musical-Darsteller“ Wirklichkeit werden zu lassen.
Auf Europas Musical-Bühnen
Mehnert erzählt von einer Szene, in der Kevin mit einem Stapel Noten für Musicals aus der Stadtbibliothek in den Unterricht kommt. Um sie in den folgenden Tagen lückenlos einzustudieren. Erinnert sich an Kevins Vorahnung, dass die nächste „Planet Kultur“-Inszenierung Shakespeares Sommernachtstraum sein muss, und für ihn, anders könne es nicht sein, die Rolle des Pucks vorgesehen sei. Wie das möglich ist? „Indem er Metaphern und andere Stilelemente erkannte, die im Sommernachtstraum vorkommen, und die ich unsere Dozenten bat, in den Deutsch- und Englischunterricht einfließen zu lassen“, sagt Mehnert. Kevin, doch ein Streber? „Er war eher voller Spielfreude, Neugierde und Begeisterung, als dass er durch und durch ehrgeizig gewesen sei“, sagt Lisa Mehnert, und Kevin Reichmann spielt den Ball zurück: „Weil mir Lisa und ihr Team Flügel verliehen. Ohne ihren Support wäre ich nicht da, wo ich heute bin.“ Auf Europas Musical-Bühnen.
Von wegen Phönix aus der Asche
Reichmann war mehrfach bei den „Thunerseespielen“ zu sehen, in der Oper Wuppertal, im Münchner „Werk 7“, in der Essener Grugahalle, im Rampenlicht der Stage-Entertainment-Theater Hamburg, Berlin, München, Oberhausen, Stuttgart, Wien und Zürich. Als Darsteller in „Fack ju Göhte“ (im Oktober beim Deutschen Musical Theaterpreis als „Bestes Musical“ ausgezeichnet), „Cats“, „West Side Story“ und ab Dezember in der Hauptrolle von „Yakari“. Der Weg dorthin war verbunden mit harter Arbeit, Disziplin und Ausdauer, oder um es mit den Worten Kevin Reichmanns auszudrücken: „Ich stieg ja nicht von heute auf morgen wie Phönix aus der Asche“.
Sechs harte Semester
Das „Planet Kultur“-Team hat Kevin Reichmann intensiv auf die Aufnahmeprüfungen auch von staatlichen Musicalschulen vorbereitet – in den letzten Wochen sogar mit Unterstützung der Oper Köln, die Kevin Gelegenheit gab, sein Vorsprechen zusätzlich mit Michael Ivory, einem professionellen Opern-Korrepetitor, einzustudieren. Im Herbst 2012 beginnt er eine Ausbildung zum Musical-Darsteller als Vollstipendiat bei der Hamburger „Stageart Musical School“ , einer privaten Akademie. Es folgen „sechs fordernde Semester, drei Jahre harte Arbeit und hier und da auch mal ein paar Tränen.“
Starker Wille und enorme Leidenschaft
Kevin Reichmann denkt dennoch dankbar und glücklich an diese Zeit zurück, auch wenn er dadurch in Kauf nehmen musste, weit entfernt von seiner Familie zu leben. „In meiner Hamburger und später Münchner Zeit, habe ich meine Eltern und meine beiden jüngeren Geschwister oft nur ein mal im Jahr sehen können.“ Auch diese Hürde nimmt Kevin Reichmann souverän, dank starkem Willen und enormer Leidenschaft. Ob es Zufall war, dass sein erstes großes Engagement bei den „Thunerseespielen“ ausgerechnet eine Shakespeare-Produktion war? Und Lisa Mehnert zu Gast im Publikum?
Demütig statt abgehoben
Seit 2017 ist Kevin Reichmann als staatlich anerkannter Musical-Darsteller unter Vertrag bei „Stage Entertainment“, Europas größter Musical-Produktionsfirma. Ein anderer Mensch, im Sinne von abgehoben sei er dadurch nicht geworden, eher demütig und unendlich dankbar – „Lisa Mehnert hat mir durch ihre Begleitung geholfen, zu dem zu werden, der ich heute bin“, sagt er am anderem Ende der Mobilfunk-Leitung – und steigt in den Flieger nach Köln, wo er seit mehr als zwölf Monaten nicht mehr zu Besuch war.
Das könnte Sie auch interessieren: