LebensgefahrÄrzte verschreiben zu viele und falsche Medikamente

Lesezeit 3 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Tabletten, Kapseln und Pillen in verschiedenen Farben

Berlin – Eine grüne Pille, eine gelbe, eine kleine runde Tablette, eine Kapsel und einige Tropfen - das ist Alltag bei vielen Menschen in Deutschland. Jeder fünfte Bundesbürger nimmt fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig ein. Das ergibt sich aus dem neusten Arzneimittel-Report der Barmer Krankenkasse, der am Donnerstag vorgestellt wurde. Der Report, der sich auf die realen Verordnungsdaten der fast 10 Millionen Barmer-Versicherten stützt, zeigt, wie problematisch diese sogenannte Polypharmazie ist: Zehntausende Patienten bekamen danach Medikamentenkombinationen, die zu erhöhten Gesundheitsrisiken oder gar zum Tode führen können. Jeder vierte Versicherte über 65 erhielt Arzneimittel, die in diesem Alter eigentlich gar nicht mehr verschrieben werden sollten.

„Angesichts der Sicherheitslücken in der Arzneimitteltherapie geht es nicht um Schuldzuweisungen in Richtung Ärzte“, versicherte Barmer-Chef Christoph Straub bei der Vorstellung des Reports. Es müsse aber darum gehen, die Patienten besser vor diesen Risiken zu schützen, forderte der Kassenchef.

Grund für das Verschreiben vieler Medikamente: Bundesweit leiden rund 5,4 Millionen Menschen an drei chronischen Erkrankungen, bei 23,3 Millionen Menschen sind es sogar fünf oder mehr. Zwei Drittel der Barmer-Versicherten mit einer Polypharmazie wurden im Jahr 2016 durch drei oder mehr Ärzte medikamentös behandelt.

Barmer-Versicherte werden insgesamt mit 1860 verschiedenen Arzneimittelwirkstoffen behandelt.

Wie schwierig es ist, den Überblick zu behalten, zeigen die Daten aus dem Report: Danach wurden die Barmer-Versicherte 2016 mit insgesamt 1860 verschiedenen Arzneimittelwirkstoffen behandelt. Erstmalig wurde ermittelt, wie viele unterschiedliche Kombinationen von zwei Arzneimitteln dabei aufgetreten sind. Genau 454.012 solcher Kombinationen mussten von Ärzten daraufhin beurteilt werden, ob sie mit besonderen Risiken verbunden sind und im Extremfall sogar schweren Schaden bringen konnten.

Die Klassiker unter den unerwünschten Wechselwirkungen: Nimmt eine Frau die Pille, um zu verhüten, und gleichzeitig Johanniskraut gegen Depressionen, kann sie ungewollt schwanger werden. Auch ein akutes Nierenversagen oder plötzlicher Herztod kann durch eine ungeeignete Kombination von Arzneimitteln ausgelost werden. Je mehr Medikamente die Patienten einnehmen müssen, desto mehr Risiken birgt ihre Arzneimitteltherapie.

Neuer Inhalt (1)

Ein Arzt hält ein Stethoskop in der Hand.

Die Autoren des Reports ermittelten beispielsweise, dass mehr als 45.000 Patienten eine Kombination von Blutdrucksenkern mit einem bestimmten Antibiotikum bekamen, die zu einem erhöhten Risiko eines plötzlichen Herztodes führt. Ein weiteres Beispiel ist Methotrexat, ein Arzneistoff für die Krebs- und Rheumatherapie. Mehr als 1500 Barmer-Versicherte erhielten das Mittel, obwohl es bei diesen Patienten wegen gleichzeitig stark eingeschränkter Nierenfunktion nicht eingesetzt werden dürfte.

Medikationsfehler sind keine Seltenheit

Medikationsfehler seien keine Seltenheit, sondern Teil des täglichen Behandlungsgeschehens, sagte Kassenchef Straub. Teil des Problems sei die Unübersichtlichkeit möglicher Varianten bei der Arzneimitteltherapie. „Ohne Hilfe ist es für Ärzte kaum noch möglich, den Überblick zu bewahren“, betonte er. Studienautor Daniel Grandt vom Klinikum Saarbrücken sagte, Hausärzte müssten alle verschriebenen Medikamente im Blick haben, auch die von Fachärzten verordneten Arzneimittel. „Dass der Arzt hier die Risiken ohne Hilfsmittel immer korrekt einschätzen kann, ist schlichtweg nicht realistisch“, meinte er.

Patienten mit mindestens drei verordneten Medikamenten haben seit Oktober 2016 Anspruch auf einen Medikationsplan, in dem alle einzunehmenden Arzneimittel aufgeführt sind. Dieser Plan beantwortet aber noch nicht die Frage, ob Präparate geeignet sind und untereinander keine gefährlichen Wechselwirkungen haben. Dazu hat die Barmer zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe eine Software entwickelt, die unter anderem auf potenzielle Risiken hinweist. Ziel sei es, das Projekt in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen, damit die bundesweit 20 Millionen Polypharmazie-Patienten davon profitieren könnten, so Studienautor Grandt.

KStA abonnieren