Waschbären & Co im GartenWenn die Wildnis immer näher kommt

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Illustration: Wildtiere laufen über eine Straße in einem Wohngebiet.

Menschen sind in den Lebensraum von Tieren vorgedrungen – und die Tiere suchen sich nun ihren Platz auch in bewohnten Orten. Oft entstehen Konflikte.

Waschbären und Wildschweine rücken dem Menschen immer näher. Andere Arten, die zuvor ausgerottet waren, kehren zurück. Haben wir eigentlich genug Platz für Bär, Elch und Luchs? Und wie gehen wir mit ihnen um, wenn es Konflikte gibt?

Der Waschbär

Es gibt wenige Tiere, die so polarisieren wie Waschbären. Die einen finden sie süß, die anderen ärgern sich über durchwühlte Mülltonnen. Zudem steht immer ein Vorwurf im Raum: Die Einwanderer aus Nordamerika bedrohen auch heimische Arten.

Ein Waschbär vor Waldillustration auf weißem Hintergrund

Am Waschbären scheiden sich die Geister.

Aber stimmt das überhaupt? Und was sind das überhaupt für Tiere? 2012 schrieben britische Zeitungen von einer Invasion der Nazi-Waschbären. Ihre Behauptung: Hermann Göring habe die kleinen Bären aussetzen lassen, die sich nun in ganz Europa ausbreiten.

Ist da etwas dran? Die nordamerikanischen Kleinbären wurden tatsächlich zur Nazi-Zeit in Deutschland angesiedelt, nämlich 1934. Doch verantwortlich dafür war nicht Göring, sondern Wilhelm Sittich Freiherr von Berlepsch, der das Forstamt in Vöhl am Edersee leitete. Ein Züchter aus der Umgebung bot von Berlepsch damals zwei Waschbärenpaare an. Dieser sah am Edersee den idealen Lebensraum.

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Der Forstamtsleiter bat in Berlin bei der Jagdbehörde um Erlaubnis, die Tiere auszusetzen, die Hermann Göring unterstand. Noch bevor von Berlepsch die schriftliche Bewilligung erhielt, ließ er die Tiere am Edersee frei. Heute gilt Kassel als Metropole der Tiere. Tatsächlich machen die Tiere in der Stadt immer wieder Schlagzeilen. Ein Waschbär zerstörte zum Beispiel 2019 die Einrichtung einer Autowerkstatt.

Der Schaden belief sich auf rund 10.000 Euro, wie der Besitzer der Werkstatt mitteilte. Ihren Ruf als Waschbärenhauptstadt hat die nordhessische Stadt zu Recht: Es gibt im Schnitt 100 Waschbären auf 100 Hektar Fläche, wie der Landesjagdverband schätzt. Anderswo seien es durchschnittlich nur vier Tiere auf der gleichen Fläche. Sie breiten sich immer weiter aus.

Amphibien wie die seltene Sumpfschildkröte werden durch den Waschbären besonders bedroht
Andreas Kinser, Deutsche Wildtierstiftung

Bundesweit wurden 2009 knapp 50.000 Waschbären erlegt, 2020 mehr als 200.000. Und was ist nun mit den heimischen Arten? Expertinnen und Experten diskutieren heiß darüber, ob Waschbären hier ansässige Tiere verdrängen. So essen Waschbären gerne Amphibien und Eier. Beides kann Tiere treffen, die bedroht sind.

Andreas Kinser von der Deutschen Wildtierstiftung erklärt: „Amphibien wie die seltene Sumpfschildkröte werden durch den Waschbären besonders bedroht.“ Auch die Eier des Schreiadlers können von Waschbären erbeutet werden. Schutzprojekte würden durch den Kleinbären gefährdet.

Die Wildtierstiftung findet es daher richtig, Waschbären zu jagen und den Bestand zu regulieren, um andere Arten zu schützen. Jägerinnen und Jäger dürfen Waschbären ganzjährig erlegen, mit Ausnahme von Schonzeiten, die es in einigen Bundesländern gibt. Milena Wurmstädt


Der Luchs

Er ist ein selten gesehener Einzelgänger, der seit Jahrtausenden durch die Wälder Europas streift. „Über den Luchs existieren keine Schauermärchen, keine Fabeln“, sagt Marco Heurich, Professor für Wildtierökologie und Naturschutzbiologie an der Universität Freiburg. Während der Wolf die Gemüter erhitzt, ist der Luchs bei einem Großteil der Bevölkerung beliebt. Dennoch wurde er in Deutschland vor mehr als 100 Jahren ausgerottet. Warum? Der Wolf hat es meist auf große Beutetiere abgesehen, die für ihn keine Herausforderung darstellen.

Ein Luchs (Lynx lynx) vor Wald-Illustration auf weißem Hintergrund.

Der Luchs ist das viertgrößte Landraubtier in Europa.

Der Luchs dagegen ist ein Einsiedler, greift mit seinen 17 bis 22 Kilogramm Gewicht meist Rehe an. Nur wenn es sich anbietet, ist er nicht wählerisch. Dann frisst er auch mal ein Schaf. Durch den Rückgang der Beutetiere wie Rehe reduzierten sich auch die Luchsbestände. Die verbliebenen Exemplare jagte man, um das wenige Wild nicht mit ihnen teilen zu müssen.

So verschwand die Raubkatze aus deutschen Wäldern - vorerst. Der Luchs ist das viertgrößte Landraubtier in Europa - nach dem Braunbären, dem Wolf und dem Persischen Leoparden, der in Aserbaidschan, Georgien und Armenien vorkommt. Ein Luchsweibchen durchstreift ein Revier von mindestens 10.000 Hektar, eine Fläche etwas größer als die Insel Sylt. So sehr der Luchs in den Märchen und Fabeln fehlte - anderswo machte er eine ganz besondere Karriere: in den Wissenschaften.

„In der frühen Neuzeit bewunderte man den Luchs für einen scharfen, die Natur durchdringenden Blick“, erklärt Heurich. So wurde er zum Wappentier einer naturwissenschaftlichen Weltsicht. Galileo Galilei habe sich den Spitznamen „der Luchs“ verliehen. Und die erste europäische Gesellschaft zur Förderung der Naturwissenschaften trägt ihn im Titel: „Accademia Nazionale dei Lincei“, die „Nationale Akademie der Luchsartigen“.

Mittlerweile kehrt der Luchs zurück. Seit den ersten Wiederansiedlungen im Bayerischen Wald 1970 leben rund 130 erwachsene Luchse in Deutschland. „Die Luchspopulation konzentriert sich auf den Böhmerwald im Grenzbereich Deutschland-Österreich-Tschechien, den Pfälzer Wald und seit 2000 auch auf den Harz“, sagt Professor Heurich.

Wir haben viele gewilderte oder vergiftete Luchse gesehen, manche wurden stranguliert
Marco Heurich, Professor für Wildtierökologie und Naturschutzbiologie an der Universität Freiburg

Nicht jeder freue sich über die Rückkehr des Luchses: Rund 10 bis 15 Prozent der Tiere sterben aus unbekannten Gründen. Wilderei? „Wir haben viele gewilderte oder vergiftete Luchse gesehen, manche wurden stranguliert“, erinnert sich Heurich. Vielleicht wegen der Konkurrenz zwischen Jägern und dem Luchs. Global sei das Tier nicht bedroht. In Deutschland schon.

Menschliche Normen werden auf Tiere angewendet, sie werden wie ein Mitglied der Familie behandelt, ihr Geburtstag wird gefeiert und sie werden professionell bestattet. Timm Lewerenz


Der Elch

 Bert war lange Zeit in Deutschland einzigartig. Seit 2018 streift er durch die Wälder und Wiesen Brandenburgs, gesellt sich im Winter zu Rinderherden auf den Weiden. Zu erkennen ist er auch an seinem gelben Halsband mit einem Peilsender. So lässt sich jeder seiner Schritte genau verfolgen. Bert ist Deutschlands einziger heimischer Elch.

Ein Elchbulle mit Wald-Illustration vor weißem Hintergrunf.

Ist der Elch hier nun auf dem Vormarsch?

Im Naturpark Nuthe-Nieplitz im Südwesten des Bundeslandes ist er eine echte Berühmtheit: Er hat sogar ein eigenes Verkehrsschild, das die Menschen darauf hinweist, dass er jederzeit die Straße überqueren könnte. Mittlerweile ist Bert nicht mehr allein: Wie „National Geographic“ berichtet, sind Elche seit 2015 in allen Landkreisen Brandenburgs gesehen worden. 147 Sichtungen habe es gegeben.

Ist der Elch hier nun auf dem Vormarsch? „Wir haben es in Deutschland bis dato nicht mit einer etablierten Elchpopulation zu tun“, stellt Frank-Uwe Fritz Michler, Wildtierbiologe von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, klar. Dass es sich um 147 verschiedene Tiere handelt, ist unwahrscheinlich. Es handele sich um Einzeltiere, sagt Michler. Sie seien von Polen nach Deutschland gekommen und nach wenigen Wochen wieder zurückgewandert.

Polen ist seit Jahrzehnten ein Elchgebiet. Allerdings wurden die Tiere dort in der Vergangenheit wegen ihres Fells, ihres Geweihs und ihres als Delikatesse geschätzten Fleisches gejagt. Die Bestände gingen zurück. Auch in Deutschland waren Elche bis ins frühe Mittelalter weit verbreitet, bis schließlich die vermehrte Jagd dazu führte, dass die Tiere aus der Landschaft verschwanden.

Seit 2001 erholt sich der Elchbestand in Polen. Dass die Populationen dort zunehmen, ist dem Jagdverbot zu verdanken. Und dass Elche wieder häufiger in Deutschland gesichtet werden, hat damit zu tun, dass die Tiere auf der Suche nach Artgenossen sind, um sich fortzupflanzen. „Reproduktionspartner finden sie in Deutschland allerdings aktuell nicht“, weiß der Elch-Experte.

Wir werden hier nie große Elchpopulationen in Brandenburg haben
Fritz Michler, Wildtierbiologe von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde

Deshalb kehren die Tiere in den allermeisten Fällen Deutschland irgendwann wieder den Rücken. „Wir werden hier nie große Elchpopulationen in Brandenburg haben“, ist der Wildtierbiologe überzeugt. Aber es gebe definitiv Lebensraum für kleinere Populationen mit zehn bis 15 Tieren. Laura Beigel


Das Wildschwein

Wildschweine sind nicht nur borstig und wehrhaft, sondern vor allem schlau und anpassungsfähig. Das macht sie zu den Gewinnern in unserer Kulturlandschaft. Die Bachen haben ihre Population in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht.

Wildschwein mit Wald-Illustration vor weißem Hintergrund

Konflikte zwischen Wildschwein und Mensch häufen sich.

Dadurch nehmen die Konflikte mit Menschen zu. In Wuppertal schwimmt ein Wildschwein in der Wupper, in Heide läuft ein verirrter Keiler durch ein Optiker-Geschäft. Die Beispiele zeigen, wie Wildschweine ins Stadtbild vorrücken. „Wildschweine sind nicht nur Allesfresser, sondern auch Alleskönner“, sagt Oliver Keuling, Biologe am Institut für Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover.

Wildschweine sind extrem anpassungsfähig und dazu auch noch schlau
Oliver Keuling, Biologe am Institut für Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

„Sie sind extrem anpassungsfähig und dazu auch noch schlau.“ Zudem fänden sie bei uns optimale Bedingungen vor: milde Winter, reichlich Futter auf den Feldern - oder in den Vorgärten. „Ist die Nahrung gesichert, steigert das automatisch die Vermehrungsrate. Eine Bache kann um die acht Junge großziehen“, sagt Keuling. „Und die Frischlinge werden dann oft schon nach einem halben Jahr geschlechtsreif.“

Die Reproduktionsrate liege derzeit bei fast 300 Prozent. „Genau genommen leben wir seit Jahrtausenden mit Wildschweinen zusammen“, sagt Magnus Wessel vom Bund für Umwelt und Naturschutz. Dass sich die Tiere zunehmend auch in urbanen Gebieten heimisch fühlen, wundert ihn nicht. „Den Tieren sollte man auf jeden Fall mit Respekt begegnen - vor allem, wenn sie Junge haben.“

Er habe bei einem kritischen Zusammentreffen zum Glück sein Fahrrad dabeigehabt. Wildschweine können für Menschen gefährlich werden. Im Wald hielten die Wildschweine normalerweise einen Abstand von mehr als 200 Metern, in der Stadt ließen sie die Menschen aber oft schon bis zu zehn Meter an sich ran, erklärt Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverbands (DJV). „Hat aber die Bache gerade Frischlinge im Gebüsch, fühlt sie sich schnell bedroht und greift dann auch an.“

Ein hausgemachtes Problem, meint Reinwald. „Vor allem, weil es immer wieder Leute gibt, die die Wildschweine füttern.“ Rückgängig machen könne man die Entwicklung nicht. Nach Angaben des DJV wurden in der Jagdsaison Jahr 2021/2022 in Deutschland mehr als 711 400 Wildschweine erlegt, 2011/2012 waren es rund 402 500. „Das ist viel zu wenig“, sagt Biologe Keuling. Um die Population zu kontrollieren, müsse man zwingend mehr Tiere abschießen.  Timm Lewerenz


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