Buch für die Stadt von Nadifa Mohamed„Sprachrohr der Überhörten“

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Nadifa Mohamed (1)

Nadifa Mohamed

  • Nadifa Mohamed wurde 1981 in Somalia geboren und wanderte mit ihrer Familie nach London aus, als sie vier Jahre alt war.
  • Der Roman „Der Garten der verlorenen Seelen” spielt während des blutigen Bürgerkriegs am Ende der 80er Jahre in Somalia.
  • Ein Interview.

Köln – Nadifa Mohamed, Sie waren ein kleines Mädchen, als Sie Hargeisa mit ihrer Familie verließen, gerade einmal vier Jahre alt – haben Sie dennoch Erinnerungen an diese Zeit?

Die habe ich, die habe ich wirklich. Sie stehen sogar sehr deutlich vor mir, nicht als Geschichten, sondern als sinnliche Eindrücke: die somalischen Nachmittage, wenn man uns Kinder schlafen legte, so dass wir von der Hitze des Tages verschont blieben. Und meine Mutter, die kochte und sich dann ebenfalls schlafen legte – als ich aufwachte, war meine Mutter fort, und ich fühlte mich irgendwie hintergangen. Ich erinnere mich an Männer, die Häuser bauten, und die Geräusche, die das machte. Genau wie an das Geräusch rostigen Blechs, das in der Sonne knackte. 2008 fand ich mich durch Zufall und ohne dass ich es wusste in meinem alten Viertel wieder, ganz nah bei meinem Elternhaus, und plötzlich ahnte ich, wo ich war, allein durch den Sand unter meinen Füßen, durch diese bestimmte Art von Sand, in dem meine Füße versanken.

Das Somalia, das Sie im „Garten der verlorenen Seelen“ beschreiben, was war das für ein Land?

Ein Land auf der Kippe, es gab permanent Ausgangssperren, Leute verschwanden, wurden zur Armee eingezogen, exekutiert, Eigentum wurde konfisziert. Gleichzeitig gab sich die Regierung progressiv, glaubte an gleiche Rechte für Frauen und präsentierte sich als Vorreiter des Sozialismus. Es gab viele Flüchtlinge im Land, die vor dem somalisch-äthiopischen Krieg geflohen waren.

Und in diesem Land, im Schatten des Bürgerkriegs, verfolgen Sie die Wege dreier Frauen, die um ihre Würde kämpfen. Können Sie sich mit dieser Interpretation einverstanden erklären?

Ja, absolut. Es ist eine Geschichte über Außenseiter, über Menschen, die sich in ihren Gedanken verlieren und nach etwas zu suchen scheinen, das außer Reichweite liegt. Eine Art von Liebe, eine Art von Anerkennung, eine Art von Erlösung.

Mündliche Überlieferung, „oral history“, dies scheint eine große Bedeutung für Ihr Schreiben zu besitzen. Oft sind es Erzählungen der Familie, Ihres Vaters oder ihrer Großmutter, die Ihre Werke inspirieren.

Besonders bei meinem Debütroman ging es mir als Autorin so, dass ich nicht genau wusste, wo mich die Geschichte hinführen würde. Es brauchte seine Zeit, bis ich merkte, dass es tiefe Strömungen gibt, die mein Werk durchziehen. Deshalb ist mündliche Überlieferung, die Aufzeichnung von Lebensberichten, auch die von ganz kleinen Details, so wichtig für mich. Ich liebe den Prozess der Recherche, der Forschung, das war bereits beim Geschichtsstudium an der Universität so, aber auch, wenn ich einen Roman schreibe – es gibt mir Halt, das Leben von Menschen in der Vergangenheit zu beleuchten, und mündliche Überlieferung ist ein Weg, zu dieser großen historischen Aufzeichnung beizutragen. Insbesondere deswegen, weil Menschen wie mein Vater oder meine Großmutter sonst überhaupt nicht in dieser Geschichte vorkommen würden.

Ihre Karriere begannen Sie als Filmemacherin.

So halbwegs – der erste Job, den ich hatte, bestand tatsächlich darin, für eine Filmgesellschaft Recherchen anzustellen. Ich habe Politik und Geschichte studiert, und meine Aufgabe war zum Beispiel, junge Muslime, die sich radikalisiert hatten, zu interviewen – junge Männer, die auf der Schattenseite Englands lebten.

Gerade der Beginn des Romans „Der Garten der verlorenen Seelen“ wirkt auf mich wie Kino, mit seinen harten, schnellen, vorwärtsdrängenden Schnitten.

Das liegt sicher daran, dass ich keinerlei Erfahrung hatte, wie man einen Roman schreibt, also vertraute ich auf die anderen Fähigkeiten, die ich besaß. Ich würde meine Bücher als Filme bezeichnen, die sich in meinem Kopf bewegen, die rausmüssen, die übersetzt werden mit diesen harten Schnitten, diesen Nahaufnahmen, diesen Zooms. Ich erinnere mich, dass einer der großen Einflüsse auf „Der Garten der verlorenen Seelen“ der Film „Crash“ war, mit seiner multiplen Story von Geschichten, die alle gleichzeitig geschehen. Ein anderer Film – von Sally Potter – beschreibt das Leben von vier Charakteren, die man auf dem geteilten Bildschirm alle gleichzeitig sieht. Ich mag die Techniken des Kinos sehr, denn sie erlauben es einem, spielerischer zu sein.

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Im Verlauf des Romans gehen sie mehr und mehr zu einem Bewusstseinsstrom über – es ist weniger wichtig, was außerhalb der Figuren geschieht, sie schauen vielmehr in deren Gedanken hinein.

Es war für mich nicht einfach, diesen Roman zu schreiben. Es war schrecklich: Ich hatte keinen klaren Plot, so wie ich ihn im ersten Roman, „Black Mamba Boy“, besaß. Dieses Buch basierte auf dem Leben wirklicher Personen, so dass ich die grobe Geschichte schon hatte – das hier aber kam alles aus mir selbst heraus, und dieser Prozess, in die Gedanken der Figuren zu kriechen und dabei den Krieg um sie herum zu vergessen, die Diktatur zu vergessen, das war, als würde man im Auto einen neuen Gang einlegen. Kawsar war sehr präsent, sie war sehr real für mich – ich hätte einen eigenen Roman über sie schreiben können. Auch Deqo stand mir klar vor Augen – sie war sogar der erste Charakter, der zu mir kam. Es war Filsan, mit der ich zu kämpfen hatte.

Können Sie sich erklären, warum?

Ich wollte unbedingt über eine Frau ihres Alters in Somaliland schreiben, die in Hargeisa lebt, so wie es damals war, und in gewisser Weise den Verstand verliert, eine Außenseiterin – so wie die anderen auch, aber Filsan ist besonders. Sie kam nicht wie von selbst zu mir, sie stand nicht klar vor mir, und erst, als ich ein Gespräch mit einer Freundin hatte, die Kroatin ist und während des jugoslawischen Bürgerkriegs in Zagreb lebte, wurde mir vieles bewusst. Es ging um Krieg und um Frauen, die Gewalt anwenden. Da machte es Klick und ich merkte, dass Filsan sehr viel schuldiger werden musste als mir angenehm war.

Dennoch gab es Vorbilder für die Figuren, etwa Ihre Großmutter, nach der Sie Kawsars Charakter modellierten.

Stimmt, Kawsars Geschichte ist der Situation meiner Großmutter nachgebildet, die gelähmt war. Sie ist von einem Auto angefahren worden, sie konnte sich nicht mehr bewegen, und dann brach der Krieg aus. Alle anderen flohen aus Hargeisa, und sie musste bleiben. Sie war nicht die Einzige, es gab andere, die gehandicapt waren. Im Fall meiner Großmutter kam eine Nichte zur Hilfe, es war eine schwierige Rettung, doch sie gelang. Kawsar ist allerdings in einer anderen Situation, weil sie keine nahen Verwandten mehr hat. Doch vieles stammt aus der Wirklichkeit, etwa die Geschichte, dass sie ihren Ohrring just in der Nacht verlor, als Somalia von Großbritannien unabhängig wurde – das ist meiner Mutter geschehen. Wie gesagt, ich liebe diese kleinen Geschichten, die viele für nicht besonders wertvoll halten, weil sie nicht dramatisch sind. Meine Mutter war eine Hausfrau, sie dachte nie, dass sie eine Geschichte zu erzählen hätte, aber es war so.

Das bedeutet, Sie möchten Menschen eine Stimme geben, die sonst überhört würden?

Es klingt für mich sehr knifflig zu sagen, ich gäbe ihnen eine Stimme. Für mich geht es eher darum zuzuhören und den Stimmen ein Forum zu bieten. Da sind wir wieder bei der mündlichen Überlieferung und der Frage, warum sie so wichtig für mich ist: Eine Sache habe ich sehr schnell realisiert, als ich „Black Mamba Boy“ geschrieben habe, nämlich dass meine Fähigkeit begrenzt ist, mich in die Situation meines Vaters hineinzudenken, hineinzufantasieren. Wenn du das nicht realisierst, besteht die Gefahr, dass du beschönigst, romantisierst, bestimmte entscheidende Erfahrungen verkleinerst. Der Grund, warum „Black Mamba Boy“ ein Roman und keine Biografie ist, liegt darin, dass mein Vater mir immer sagte: Ich erinnere mich nicht, ich habe kein Gefühl dieser und jener Sache gegenüber, mich kümmern manche Dinge nicht – alles was mich kümmerte, war Essen, ein Unterschlupf, Sicherheit. Ich konnte das nicht glauben, das war so anders als das, was ich von meinem eigenen Heranwachsen kannte – ich musste Gefühle hinzufügen, denn ich konnte mir kein Kind vorstellen, auch nicht in einer krassen Situation wie der meines Vaters, dass nicht nach Liebe oder Freundschaft verlangte.

Sehen Sie das heute noch genauso?

Je länger ich drüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass mein Vater Recht hat: Du musst Deine Gedanken in einer solchen Lage fokussieren, auch wenn das eine Reduktion bedeutet. Wir kennen das von Menschen, die Konzentrationslager überlebt haben – das ist ganz ähnlich. Man ändert sich bis in seine animalischen Überlebensfunktionen hinein durch solche Extremsituationen.

„Black Mamba Boy“ ist nicht zuletzt einen Geschichte über den Kolonialismus, über Mussolinis Truppen, die im Land wüten. Wie präsent ist diese Geschichte im heutigen Somalia?

Sehr präsent! Mussolini kontrollierte nicht den Teil des Landes, aus dem ich stamme – Somaliland. Aber seine Truppen hatten ihn umschlossen, so dass es schwierig war, ihnen auszuweichen, und in der Tat ist er in das damalige Britisch-Somaliland 1941 einmarschiert und hat auch für kurze Zeit die Kontrolle über Hargeisa übernommen. Wissen Sie, Somalia gilt als „failed state“, als Ort der Gewalt – jemand sagte mir mal, sie wolle nicht nach Somalia reisen, weil dies einer von den Orten sei, wo Leben nichts zählt. Das ist aber nicht wahr – natürlich ist es nicht wahr. Das Leben zählt hier. Verheerend war die Art und Weise, wie die britischen und die italienischen Truppen vorgingen, mit dieser maskulinen Dominanz – die Briten war nicht viel besser als die Italiener, auch wenn sie mehr Erfahrung hatten, weil sie so viele Kolonien besaßen. Die Somalis hatten bereits Erfahrung mit Gewalt und Besatzern, aber Zwangsarbeit, Kidnapping, um Kinder zu Soldaten zu machen – das war etwas, das die Italiener taten. Unter dem Vorwand, die Sklaverei zu beenden, schnappten sie sich die Somalis und ließen sie auf ihren eigenen Plantagen schuften.

Sie leben in London. Wie fühlt es sich für Sie an, in einem Land zu leben, das einst führende Kolonialmacht war?

Eine überaus interessante Erfahrung! Großbritannien ist ein komischer Ort, gerade jetzt. Wir erleben eine intensive Debatte über den Kolonialismus und hören dabei: Dieses und jenes Problem muss gelöst werden; es muss eine Form der Restitution geben. Solche Fragen kommen von den Nachfahren der Kolonisatoren und von denen der Kolonisierten, ob sie Politiker betreffen, Museen oder Statuen wie der von Cecil Rhodes in Oxford. Drei Jahre bin ich daran vorbeigelaufen, als ich in Oxford studierte.

Haben Sie auch das Imperial War Museum in London besucht?

Ich war mit meinem Vater dort, als ich „Black Mamba Boy“ schrieb, und ich fand interessant, dass es doch zahlreiche Vitrinen gab über das ländliche Eritrea, wo mein Vater gelebt hat – die Briten haben dort Aufnahmen gemacht, und so haben wir uns diese alten Nachrichtenfilme angeschaut aus den 1940er Jahren, Orte, die mein Vater niemals wieder gesehen hat, seit er Afrika verließ. Es ist irgendwie unwirklich und auch unglaublich, in einer Stadt zu leben, die einem dies ermöglicht. Lebte ich in Hargeisa in Somalia, hätte ich zu diesen Informationen keinen Zugang. So erfreue ich mich an der Beute, die Großbritannien als frühere Kolonialmacht mitgebracht hat. In vielerlei Hinsicht, wissen Sie: es geht auch um die Sprache, die ich spreche, Englisch, die Ausbildung, die ich genossen habe, den Reichtum des Landes, den es nicht zuletzt dank seiner Territorien rund um die Welt aufgehäuft hat. Bei aller Kritik an dieser Historie muss ich anerkennen, welche … nun, ich würde sagen: welche Privilegien ich habe. Mein Vater kam hierher als britischer Untertan, Somalia war noch Kolonie, als er eintraf.

Spielt der aktuelle Brexit eine Rolle in der Debatte über Kolonialismus?

Ja, die Auseinandersetzung über Kolonialismus, die Frage, was Großbritannien bedeutet und welchen Platz es in der Welt einnehmen sollte, ist sehr lebendig, anders, als zu der Zeit, als ich jung war. Diese ganze Haltung, dass wie die EU nicht brauchen, weil wir so ein erstaunliches, bedeutendes, zentrales Land sind …

Läuft das auf eine Art Neo-Kolonialismus hinaus, oder ist das übertrieben?

Sie ist ja niemals verschwunden, diese Attitüde. Jetzt aber ist sie seltsamer, viel emotionaler als nur von finanziellen oder militärischen Interessen geleitet – wenn es heißt, dass wir keine Einwanderer aus der Europäischen Union brauchen, weil unsere alten Freunde aus Indien den ersten Zuschlag hätten. Boris Johnson spricht in glühenden Worten vom Empire und sagt, es sei höchst bedauernswert, dass die Briten nicht mehr Uganda kontrollierten, weil die Ugander nicht in der Lage seien, sich selbst zu regieren.

Da schlägt also die alte Mentalität der Kolonisatoren durch zu sagen, sie täten den Kolonisierten im Grunde etwas Gutes.

Aber wirklich befremdlich ist – trotz dieser Rhetorik -, dass diese Regierung Großbritannien selbst wie eine Kolonie behandelt. Es gibt Korruption, es gibt eine Clique von Mächtigen, die etwas zählt, und der Rest der Bevölkerung wird ausgenutzt. Das ist eine harte Lektion, die viele lernen müssen, denn das britische Empire war eine korrupte, gewalttätige, auf Ungleichheit basierende Einrichtung.

Wie empfinden Sie sich selbst, als britische Autorin, als somalische Autorin, oder als Vertreterin einer „New World Literature“, wie sie in Deutschland gern beschworen wird?

Ich weiß es nicht! In Wirklichkeit kämpfe ich gegen alle diese Schubladen an – ich halte es da mit Arundhati Roy. Sie erzählte immer davon, wie Indien versucht hat, sie anlässlich des Booker Prize als Symbol für das neue, kapitalismusfreundliche, Für-Geschäfte-offene-Indien zu vereinnahmen. Das war die Formulierung: offen für Geschäfte. So wird man als Symbol missbraucht, und ich möchte nicht als ein solches dienen – weder für ein angeblich multikulturelles Großbritannien noch für Somalia. Und was eine „New World Literature“ -Vertreterin sein soll, das weiß ich wirklich nicht.

Sie haben dennoch eine Position?

Ich glaube, dass Schriftsteller immer ein wenig außerhalb des Systems stehen sollten und immer einen kritischen Blick auf die Welt werfen sollten, über die sie schreiben.

Wie oft besuchen Sie Somalia?

Ziemlich oft. Ich besuche regelmäßig die Buchmesse in Hargeisa, die alle zwei Jahre stattfindet – dort veranstalte ich Workshops für kreatives Schreiben. Bei einer Reise im Jahr 2019 dachte ich, ich könne tatsächlich dauerhaft dort leben: Ich fand meine Welt, meine Leute, so wie es sein sollte in einer Stadt, in der man lebt. Künstler, Schriftsteller, Leser, die mit einem Bein auch in anderen Ländern stehen – das sind „meine“ Leute, ob in London, Berlin oder Hargeisa. Und diese Welt hat sich in Hargeisa mittlerweile etabliert. Das Leben dort ändert sich stetig, die Pflanzen, die vor Jahren gesetzt worden sind, sie blühen jetzt – die Stadt ist plötzlich viel grüner.

In Europa ist oft von der „Literatur Afrikas“ oder „afrikanischer Literatur“ die Rede. Wie finden Sie das angesichts der Vielfalt des Kontinents? Geht da nicht jeder Sinn für die Unterschiede verloren?

Natürlich, es ist ungerecht den Schriftstellern gegenüber, die in Afrika selbst arbeiten. Natürlich gibt es die Autoren, die in den USA oder in Europa leben, aber der Großteil der Literatur kommt aus den afrikanischen Ländern selbst, es gibt dort ein riesiges Potenzial, weshalb ich dort auch Schreibkurse gebe; es gibt diesen Durst und dieses Verlangen der Schriftsteller vor Ort, publiziert zu werden. Im schlimmsten Fall reproduziert dieser Begriff „Afrikanische Literatur“ das Ausbeutungsverhältnis, das die westliche Welt zu Afrika hat. Man nimmt sich Öl, Diamanten oder eben den Rohstoff der Geschichten, die man dann für den eigenen Markt poliert.

Die Matinee ist von Sonntag, 15. November, 11 Uhr an online verfügbar unter: www.ksta.de/kultur

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