Wilfried Stegemann fremdelte mit den Prinzipien der Leistungsgesellschaft – und fand in Köln-Mülheim eine Alternative.
„Sozialistische Selbsthilfe“Wie ein Kölner Arbeit und Leben ohne Leistungsdruck fand

Wilfried Stegemann von bei der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim fand eine Heimat und Arbeit, die ihm entspricht.
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„Ich muss nicht glücklich sein, aber froh kann ich sein“, sagt Wilfried Stegemann. „Und ich bin froh, dass ich vor 21 Jahren hier gelandet bin.“ Hier, das ist die Sozialistische Selbsthilfe in Mülheim, eine selbstverwaltete Gemeinschaft. Sie entstand 1979 bei einer Hausbesetzung einer ehemaligen Schnapsfabrik in der Düsseldorfer Straße 74 in Mülheim. Dank ihres sozialen Engagements ist sie längst eine über Weltanschauungsgrenzen hinweg geachtete Kölner Institution.
Zwischen 15 und 30 Menschen leben und arbeiten seitdem in wechselnder Zusammensetzung hier: Junge und Alte, Menschen mit und ohne Behinderung, ehemalige Obdachlose, Psychiatriepatienten und Menschen, die sich im normalen Erwerbsleben nicht zurechtgefunden haben.
Wilfried Stegemann spricht leise und bedacht, er hatte sich vor dem Gespräch ein wenig Zeit erbeten, um seine Gedanken zu sortieren. „Es ist ja nicht ohne, öffentlich über sein Leben zu erzählen.“ Zumal dann, wenn es nicht so geradlinig verläuft, wie es gesellschaftlichen Vorstellungen und Schubladen entspricht. Er habe wohl versucht, geradlinig zu sein, sagt der 61-jährige Kölner auf einer Sitzbank im Schatten des von hohen Bäumen umgebenen Hofs. Die Hauptschule sei „der Horror“ für ihn gewesen, als melancholischer und sensibler Typ habe er sich unter rauen Jungs und autoritären Lehrern verloren gefühlt. Trotzdem machte er seinen Abschluss.
Wir sollten nicht mehr nur arbeiten, sondern uns auch für unser Unternehmen begeistern, denken und wetteifern wie Unternehmer selbst
Er arbeitete als Fach- und Lagerarbeiter, in einem Textilkonzern habe er als junger Mensch „die ganze Tristesse der Arbeitswelt“ erlebt. Er brach nach sechs Wochen ab, wollte aber nicht stempeln gehen und heuerte beim nächsten Unternehmen an. Als Facharbeiter gab es Urlaubsgeld, Kündigungsschutz und Jahressonderzahlungen, „fast gutbürgerlich“ sei das gewesen. Anfang der 1990er Jahre dann „machten neue Unternehmenskonzepte die Runde, mit denen ich sehr gefremdelt habe“: Es ging jetzt um Eigenverantwortung und flachere Hierarchien, Boni für Ideen und Corporate Identity. „Wir sollten nicht mehr nur arbeiten, sondern uns auch für unser Unternehmen begeistern, denken und wetteifern wie Unternehmer selbst.“ Er schüttelt den Kopf.
Prinzip der Leistungsgesellschaft als „Hölle auf Erden“
Das alles sei geschickt verkauft worden – „aber mir war klar, dass damit vor allem die Solidarität der Arbeitnehmer gesprengt werden sollte – wir sollten zu Einzelkämpfern gemacht werden“. Nur noch um Ego und Wettbewerb sei es gegangen. Mit sich selbst, sagt Stegemann, habe er als „depressiv veranlagter Mensch“ genug zu tun gehabt – er wollte arbeiten, um zu leben – und nicht leben, um zu arbeiten. Und sich „nicht länger in das Heer der Konformisten einreihen“, wie er in einem Artikel für ein Jubiläumsheft der SSM schrieb.
Das Prinzip der Leistungsgesellschaft – „hemmungslos Geld verdienen, um hemmungslos abzufeiern“ – stelle er sich „als Hölle auf Erden vor“. Dazu gepasst hätten Sendungen wie „TV total“, „da hat sich Stefan Raab jeden Abend über hilflose Menschen lustig gemacht. Ich fand das sehr abstoßend, es passte aber gut in die Zeit: Nachdenklichkeit, Skepsis und Rücksichtnahme galten in den 90er Jahren nur noch als Charakterfehler“.
Wilfried Stegemann schmiss die Arbeit, um auf der Abendschule das Abitur nachzuholen. Er schaffte es, und begann in Köln das Studium des Übersetzers, weil ihn Sprachen interessierten. Das Studium habe ihn, den Jungen „aus einer Familie ohne Bücher, in der viele meine Fragen ans Leben unbeantwortet blieben“, allerdings überfordert, er begann wieder, zu arbeiten, fand sich im Hamsterrad wieder. „Alkohol kam dazu, ich habe gemerkt, dass mir das Leben entgleitet.“
Sammelsurium von Typen bei der Sozialistischen Selbsthilfe
Dass er bei der Sozialistischen Selbsthilfe landete, verdankt er einem Artikel im „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Da wurde über das selbst organisierte Arbeiten und Leben dort geschrieben, dass die Arbeiten immer neu verteilt werden. Weil der Sozialismus mit seinen Vorstellungen vom befreiten Menschen und einer humaneren Gesellschaft mich immer schon angesprochen hatte, bin ich da mal hingefahren.“ Es war ein Moment, der seinem Leben eine entscheidende Wendung geben sollte.
Die heile Welt des Miteinanders habe er an der Düsseldorfer Straße nicht gefunden – im Gegenteil. „Ich hatte mir Selbstverwaltung, Basisdemokratie und Harmonie vorgestellt, fand aber viele problematische Persönlichkeiten, einen sehr ruppigen Ton und straffe Hierarchien.“ Auf die Bank gegenüber hat sich während des Gesprächs Freddy gesetzt, der seit Mitte der 1980er Jahre hier lebt. Er dreht sich eine Zigarette und fängt an, einen Monolog zu halten.
„Du bist jetzt nicht dran, Willy, geh mal woanders hin.“ – „Ich habe eh keine Zeit, muss weiter“, sagt Willy und redet weiter. Als Stegemann ihn nochmal freundlich, aber bestimmt bitte, aufzuhören, trollt Freddy sich. Es habe gedauert, bis er sich an das Sammelsurium von Typen hier gewöhnt habe, sagt Stegemann. „Aber es ist schön, dass der Mensch hier nicht als Leistungsmaschine angesehen wird, sondern mit seinen Stärken und Schwächen angenommen wird und jeder seinen Platz hat.“
Einmal haben wir einen Siebdruck von Gerhart Richter bei einer Wohnungsauflösung gefunden und für 5000 Euro bei Ebay verkauft
Seit März 2004 lebt Wilfried Stegemann auf dem Gelände. Er hat eine schöne Wohnung mit hohen Decken, sein Rückzugsgebiet, und Arbeit, die er sinnvoll findet. Jede Woche treffen sich die Bewohnerinnen und Bewohner, um anstehende Arbeiten, Ideen und Probleme zu besprechen. Die Aufgaben wechseln, doch Stegemann – längst durch sein Wissen und sein Alter eine Autorität – kümmert sich seit mehr als zehn Jahren vor allem um den Online-Verkauf aus dem Second-Hand-Laden.

Stegemanns Reich ist ein Trödelladen der Sozialistischen Selbsthilfe. Er hat den Online-Shop aufgebaut, stellt Gebrauchsgegenstände zum Verkauf ins Netz, verkauft und verschickt sie.
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Die SSM verkauft auf verschiedenen Plattformen im Netz alles, was ihr bei Wohnungsauflösungen in die Hände fällt – vom Elektroherd und Waschmaschinen über Möbel, Geschirr und Lampen bis zu Porzellan und Büchern. „Einmal haben wir einen Siebdruck von Gerhard Richter bei einer Wohnungsauflösung gefunden und für 5000 Euro bei Ebay verkauft“, erinnert sich Stegemann. Noch heute staune er oft, wenn eine verstaubte Eisenbahn von Märklin zum Vorschein kommt oder eine Briefmarkensammlung mit seltenen Exemplaren. „Da werden Kindheitsträume wach.“
Es drohen weder Degradierung noch Kündigung
Der Trödelladen mit seinem Onlineverkauf ist Wilfried Stegemanns Werk – „das war so ein weißes Blatt, auf dem ich mich austoben konnte“, sagt er. „Hier habe ich Freiheiten, von denen ich in den meisten normalen Jobs nur träumen könnte.“ Er treffe bei der SSM nicht jeden Morgen Vorgesetzte, nie drohten Degradierung oder Kündigung. Verantwortung übernehmen heißt zum Beispiel, den Laden als wichtigste Einnahmequelle am Laufen zu halten.
Der Mensch wird hier nicht als Leistungsmaschine angesehen, sondern mit seinen Stärken und Schwächen angenommen
Seine Geschwister haben einen normalen Berufsweg eingeschlagen. Ein Bruder ist leitender kaufmännischer Angestellter, eine Schwester arbeitet bei einer Stiftung. „Ich hätte das nicht 40 Jahre machen können.“ Die SSM sei für ihn weder eine Ergänzung zum offiziellen Arbeitsmarkt noch ein Auffanglager für Bedürftige und Gescheiterte. „Für mich ist es eine echte und praktische Alternative zum bürgerlichen Verständnis vom Leben und Arbeiten.“
In einer Zeit, „in der es immer mehr auf Wettbewerb ankommt und die Menschen im Internet vereinsamen, werden Gemeinschaften wie hier attraktiver“, glaubt Wilfried Stegemann. „Das Leben ist hier nicht rosarot, man wird auch nicht unbedingt glücklicher. Aber ich bin froh, hier zu sein.“