„Jedes Augenmaß verloren“Anwalt kritisiert Kölner Nizza-Ermittlungen

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nizza

Prügelei im Stadion „Allianz Riviera“.

  • Nach den Ausschreitungen beim Spiel des 1. FC Köln in Nizza gab es fünf Festnahmen.
  • Von den fünf Tatverdächtigen sind drei wieder auf freiem Fuß.
  • Ein Rechtsanwalt kritisiert die Ermittlungen scharf.

Köln – Die Ermittler lassen keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen an jenem Mittwochmorgen (5. Oktober). Bei 16 Männern klingeln die Polizisten, durchsuchen Wohnungen und Häuser, stellen unter anderem Handys sicher. Von „Schwerkriminellen“ spricht Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn einige Stunden später bei einer Pressekonferenz im Polizeipräsidium.

Denn: Die 16 Männer sollen beteiligt gewesen sein an den Gewaltexzessen am Rande des Fußball-Conference-League-Spiels des 1. FC Köln in Nizza am 8. September. Gegen fünf der 16 Männer werden Haftbefehle vollstreckt, vier wegen Wiederholungsgefahr, einer wegen Fluchtgefahr. Letzterer kommt noch am selben Tag unter Auflagen frei, die anderen vier müssen in Haft – vorerst. Eine gute Woche später ist davon deutlich weniger übrig als noch am Mittwoch vergangener Woche zu erahnen war.

Krawalle beim Spiel des 1. FC Köln in Nizza: Festgenommene wieder frei gelassen

Inzwischen nämlich sind zwei weitere der zunächst fünf Verhafteten wieder auf freiem Fuß. Die beiden 31-Jährigen durften ihre Zellen in Ossendorf verlassen. Die Anwälte hatten Beschwerde gegen die Inhaftierung eingelegt. Der in beiden Fällen derselbe Richter am Amtsgericht gab dem statt und setzte die Vollstreckung des Haftbefehls zunächst aus. Unter Auflagen allerdings, etwa dass sie sich regelmäßig bei den Behörden melden und dass sie sich 24 Stunden vor und nach den Spielen des 1. FC Köln nicht in der Nähe des Stadions aufhalten.

Die Haftbefehle der beiden Kölner wegen gefährlicher Körperverletzung und eines besonders schweren Falls von Landfriedensbruch bleiben formal bestehen. Auch die beiden in diesem Komplex noch verbliebenen Inhaftierten haben Beschwerden eingelegt. Gegen sie wird unter anderem ermittelt, weil sie brennende Bengalo-Fackeln in eine Menschenmenge geworfen haben sollen.

„Ausschreitungen von Nizza waren keine Schwerkriminalität“

Die jüngsten Entwicklungen in diesem Fall nimmt Rechtsanwalt Tobias Westkamp zum Anlass, Generalkritik an den Ermittlungen zu üben. Westkamp, der den am Mittwoch aus der Untersuchungshaft entlassenen Kölner vertritt, sagt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, die Ermittlungsbehörden hätten „in der Aufarbeitung der Ereignisse von Nizza jedes Augenmaß verloren“.

Wie man von „Schwerkriminalität“ sprechen könne, könne er „nicht ansatzweise nachvollziehen“, sagt Westkamp. „Jeder Strafrechtler weiß, was Schwerstkriminalität ist. Was im Stadion von Nizza passiert ist, gehört nicht dazu. Da müssen wir die Kirche auch mal im Dorf lassen.“

Dass sein Mandant unter Auflagen freigelassen wurde, ist für ihn ein Zeichen eines funktionierenden Rechtsstaats. „Zum Glück darf hier niemand einfach festgenommen werden, weil die Stimmung in der Stadt sagt ‚hängt sie höher!‘. Es müssen immer die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt werden.“

Diese aber hielten die Richter zunächst für gegeben, um die vier Beschuldigten am 5. Oktober in Untersuchungshaft zu schicken. Dass diese dann wenige Tage später ausgesetzt wird, kommt zwar nicht täglich an Kölner Gerichten vor, ist im deutschen Strafrecht aber durchaus vorgesehen und nicht unüblich.

Staatsanwalt Ulf Willuhn bleibt bei seiner Bewertung der Ereignisse von Nizza

Die Staatsanwaltschaft legte daher auch keine Beschwerde gegen die Verschonungsbeschlüsse vor. „Wir akzeptieren, wenn ein Haftrichter mildere Mittel für ausreichend hält, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen. Auch daran sieht man, dass wir eigentlich eine gemäßigte Linie fahren, aber auf das reagieren, worauf zu reagieren ist“, sagt Oberstaatsanwalt Willuhn im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, bleibt jedoch insgesamt bei seiner bisherigen Bewertung der Ereignisse von Nizza.

„Wenn jemand mit Wucht und Anlauf wie ein Martial-Arts-Kämpfer auf andere eintritt oder mit einem Betonpoller auf einen am Boden liegenden Menschen einschlägt, habe ich Schwierigkeiten, das anders zu nennen als Schwerkriminalität“, sagt Willuhn.

Was in Nizza geschehen ist, sei „eine Dimension der Gewalt im Fußballstadion, die wir so noch nicht gesehen haben“. Das gehe „weit über die üblichen Fanauseinandersetzungen hinaus“, sagt Willuhn – und wird deutlich: „In Nizza ist ein Mensch durch den Sturz von der Tribüne fast gestorben. Wer das – auch nach Ansicht der Bilder und Videos – als Folklore unter Fußballfans abtun und mit Fahnenklau oder Kabbeleien gleichsetzen will, kann das tun. Ich tue das nicht.“

Bis zu 50 Beteiligte an Krawallen von Nizza

Bei den Ausschreitungen auf den Tribünen des Allianz Riviera Stadions von Nizza waren bisherigen Erkenntnissen zufolge 40 bis 50 Menschen beteiligt, darunter nicht nur Anhänger der Klubs aus Köln und Nizza, sondern auch Mitglieder anderer Ultra-Gruppierungen.

16 mutmaßliche Täter aus Köln wurden identifiziert und bekamen nun Besuch von der Polizei. Dass einige davon nun in Untersuchungshaft sitzen, habe es in Deutschland im Kontext mit Fußballfan-Gewalt zuvor noch nicht gegeben, berichtet Willuhn.

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Rechtsanwalt Westkamp hält das für überzogen. „Fußball-Hooligans nur wegen Wiederholungsgefahr zu verhaften, schießt deutlich über das Ziel hinaus. Es kann ja nicht sein, dass ein Mensch bis zum Ende der Gruppenphase im November in Untersuchungshaft sitzen muss, obwohl nur an vier Tagen überhaupt noch ein Conference-League-Spiel stattfindet“, sagt er. „Die restliche Zeit sitzt er dann in Ossendorf rum und zählt die Kacheln. Da muss die Justiz jetzt korrigierend eingreifen.“

Die Wiederholungsgefahr ist – im Gegensatz zur Fluchtgefahr – tatsächlich ein vergleichsweise weicher Haftgrund. Eine Inhaftierung muss in Anbetracht der zu erwartenden Strafe verhältnismäßig sein und ist nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.

So müssen die Beschuldigten einschlägig vorbestraft sein und die Taten dürfen nicht zu lang zurückliegen. In den Fällen der beiden noch in U-Haft sitzenden Beschuldigten könnte letztgenannter Grund vorliegen, weshalb sich die Staatsanwaltschaft hier einen Widerspruch vorbehalten könnte, sollten die beiden Verdächtigen Anfang der Woche ebenfalls von der Haft verschont werden.

Für den Haftrichter wird das persönliche Umfeld der Verdächtigen mitentscheidend sein. Dass es sich um sozial weitgehend integrierte Menschen handelt, könnte ein Grund für eine Haftverschonung sein. „Es sind ja nicht nur sozial Randständige darunter. Auch die Betroffenen haben Familien und gehen sozialversicherungspflichtigen Berufen nach. Einer ist selbstständiger Unternehmer. Da ist Freiheitsentzug ein unverhältnismäßiger Wirkungstreffer“, sagt Westkamp.

Und Willuhn stellt klar: „Es macht uns ja keinen Spaß, Menschen aus dem Leben zu reißen und einzusperren, wenn es auch anders geht. Aber wir haben uns an Gesetze zu halten.“ 

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