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Kölner Integrationsrat„Wir hoffen auf eine Migrantenquote in der Stadtverwaltung“

Lesezeit 9 Minuten
Tayfun Keltek (2)

Tayfun Keltek, Vorsitzender des Integrationsrats

Köln – Tayfun Keltek (71), aufgewachsen in der Türkei, kam 1970 nach Köln und promovierte an der Sporthochschule. Keltek ist Vorsitzender des Kölner Integrationsrats und des Landesintegrationsrats. Er ist Mitglied des Migrationsrates vom Landesvorstand der SPD und des WDR-Rundfunkrats.

Es wird viel über Integration geredet gerade –  zuletzt wurde aus einem Foto von zwei deutschen Nationalspielern mit dem türkischen Präsidenten eine kleine Staatsaffäre. Sie kommen aus der  Türkei, leben seit 50 Jahren in Deutschland und engagieren sich seit 30 Jahren für Integration. Was heißt Integration für Sie?

Die Debatte um die Herren Özil und Gündogan ist ein gutes Beispiel: Man kann ja sagen, dass das Verhalten der Spieler nicht richtig war. Aber unangemessen war es auch, daraus eine riesige Sache zu machen. Die Berichterstattung, auch das Treffen der Spieler mit dem Bundespräsidenten, hat ein banales Ereignis unglaublich überhöht. Für mich heißt Integration auch Gleichberechtigung – und die sehe ich so in vielen Bereichen noch nicht.

Immerhin haben sich mit den Nationalspielern Menschen, die öffentliche Vorbilder sind und Repräsentanten, mit einem Autokraten gezeigt, der willkürlich Unschuldige einsperren lässt.

Mich stört vor allem das Ausmaß der Berichterstattung, das dazu führt, dass Migranten, in diesem Fall türkische, die eh auf der Kippe stehen, sich weiter isolieren. Es wird in Deutschland von vielen noch nicht akzeptiert, wo Menschen herkommen, dass die Türkei oder Syrien genauso zur Identität der Menschen gehört wie Deutschland. Wenn über Migranten geschrieben wird, geht es meistens um eine auffällige Gruppe, Straftäter, Islamisten, die nur einen winzigen Prozentteil der Menschen ausmachen. Der Diskurs ist stark defizitorientiert. Das führt zum Rückzug.

Jüngst hat die Stadtverwaltung angekündigt, bis Jahresende ein neues Amt für Integration zu gründen – nicht nur, aber auch für das Thema Migration. Sie haben lange dafür gekämpft. Was erhoffen Sie sich?

Es gibt nur einen sehr geringen Anteil von Migranten in der Verwaltung – ich hoffe, dass das Amt hilft, das zu ändern – mit einer Migrantenquote für die Stadtverwaltung. Ausländer aus bestimmten Ländern werden mit bestimmten Problemen assoziiert. Gegen solches Klischeedenken auch in der Verwaltung muss das neue Amt angehen. Wenn Menschen, die nach Köln kommen, um sich anzumelden, auf Distanz oder Ablehnung stoßen, ist das schlecht. Allgemein geht es darum, den Zuzug aus anderen Ländern wieder positiv zu besetzen.

Wie kann das gelingen?

Indem man mit dem Klischee vom Flüchtling als Schmarotzer aufräumt, zum Beispiel. Fakt ist, dass Migranten überdurchschnittlich viel in die Sozialsysteme einzahlen – weil sie im Schnitt viel jünger sind. Deutschland braucht ja auch deswegen Zuzug, um die Renten zu sichern. Es gibt also ganz praktische Gründe, das Fremde als Chance zu sehen, nicht nur kulturelle. So ein Denken institutionell zu verankern, dauert sehr lange.

Sie sind seit 30 Jahren in Integrationsräten in Köln und auf Landesebene aktiv. Wo sehen Sie Fortschritte?

Wir haben eine Struktur, dass Ratsmitglieder und Mitglieder des Integrationsrats zusammensitzen und etwas beschließen. Wir treffen also ähnlich wie ein Ausschuss Entscheidungen. In Köln haben wir uns jüngst zum Beispiel auf das NSU-Mahnmal für die Opfer des Nagelbombenattentats in der Keupstraße geeinigt. Oder auf den Straßennamen für Ali Kurt, der ein Mädchen rettete, aber bei seiner Rettungstat selber ertrank.

Die Standortfrage für das NSU-Mahnmal ist weiter strittig. Muss es unbedingt vom Anschlagsort aus zu sehen sein?

Es braucht eine Beziehung zum Anschlagsort. Wenn wir das Mahnmal irgendwo aufstellen, wo es keiner sieht, hat es keinen Sinn. Ich akzeptiere den Wunsch der Opfer, das Denkmal möglichst nah am Anschlagsort aufzustellen. Dort kommen wir miteinander ins Gespräch, und darum geht es.

Warum reden wir immer noch so wenig miteinander? Warum haben nur wenige Deutsche türkische oder arabische Freunde?

Es geht darum, diese komischen unbekannten Menschen mit ihren unbekannten Eigenschaften zu akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, igeln die Fremden sich ein und bleiben fremd. Das ist ein wechselseitiger Prozess. Leider ist es in Deutschland manchmal so, dass Andersartigkeit geleugnet werden muss, damit man ganz akzeptiert wird.

Die Deutschen wünschen sich also Assimilierung?

Man kann sich nicht seine bisherige Identität ablegen, das funktioniert nicht. Ich habe eine Lebens- und eine Herkunftsrealität. Ich stehe zu beidem, fühle mich aber als Deutscher. Ich bin dem Grundgesetz treu und der Verfassung. Ich bin vollständiger deutscher Bürger. Mein Rucksack ist meine Herkunft, die Kultur, aus der ich stamme – es wird von vielen erwartet, dass ich diesen Rucksack ablege, aber das kann und will ich nicht.

Wie ließe sich die Erwartungshaltung ändern?

Wenn es in den Schulen gelingen würde, Zweisprachigkeit zu fördern und mehr fremdsprachigen Unterricht anzubieten, würde es einfacher. Schon Kindern wird oft das Gefühl gegeben, türkisch zu sein, syrisch zu sein, muslimisch zu sein, sei nicht richtig. Lesen Sie mal, wie über den Islam geschrieben wird! Wie der Anteil ist von neutraler oder wertschätzender Berichterstattung zu jener über Radikale, Salafisten! Er spiegelt nicht die Realität wider. Auch die Medien müssen überlegen, was sie wollen: Aufklärung und Toleranz fördern, oder Angst machen und spalten. In Mülheim haben vor einigen Jahren ein paar versprengte Salafisten den Koran verteilt. Es wurde sehr, sehr viel darüber berichtet.

Vor sechs Jahren wollte das Bildungsministerium eine Studie über die Grauen Wölfe anlegen – türkische Rechtsextreme. Sie haben das abgelehnt, weil die Grauen Wölfe nur marginalen Einfluss hätten. In Mülheim befindet sich aber eine Hochburg dieser Gruppierung, nach dem Putsch in der Türkei tauchten Dutzende Graffiti-Schmierereien der Rechtsextremen auf. Ist Aufklärungsarbeit da falsch?

Es geht mir darum, Probleme nicht falsch zu gewichten. Die Grauen Wölfe, nur das wollte ich damals sagen, hatten in den 80er-Jahren in der Türkei ein anderes Gewicht als heute. Aber natürlich muss es Prävention geben. Ich bin nur gegen Pauschalisierung, ohne genug Informationen zu haben. Das machen die Medien gern.

Sie verallgemeinern „die Medien“ und „die Öffentlichkeit“ oft, da habe ich Schwierigkeiten.

Die Öffentlichkeit bildet ihre Meinung über die veröffentlichte Meinung. Die veröffentlichte Meinung geschieht über die Medien…

…trotzdem klingt das nach: Die lügen. Aber Verallgemeinern, das mache ich wohl auch. Ich verstehe nicht, warum über 60 Prozent der wahlberechtigten Deutsch-Türken für Erdogans Verfassungsreferendum gestimmt haben, in Köln noch mehr. Sie wählen wohl jetzt am Wochenende auch wieder Erdogan. Lange in Deutschland lebende Menschen, die einen Autokraten wählen, der einen Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt hat. Da denke ich: Integration ist komplett gescheitert.

Jetzt wollen Sie ein bisschen provozieren, aber zu den Fakten: Die Wahlbeteiligung lag bei 40 Prozent, 60 Prozent haben sich nicht beteiligt. Von den 40 Prozent haben 63 Prozent Erdogan gewählt. Von allen sind das höchstens 20 Prozent. Die meisten, die nicht gewählt haben, wollen mit Erdogan nichts zu tun haben. In der Türkei liegt die Wahlbeteiligung bei 95 Prozent – viele, die hier leben, interessiert die Wahl in ihrer alten Heimat also gar nicht mehr. Durch die Struktur der Moscheen in Deutschland sind die Erdogan-Anhänger sehr gut organisiert, die anderen Parteien gar nicht.

Finden Sie es richtig, dass Menschen, die in Deutschland leben, in der Türkei wählen dürfen?

Ich war immer dagegen. Man soll dort wählen dürfen, wo man lebt – das impliziert auch ein Ausländerwahlrecht in  Deutschland. Warum sollten Menschen, die in Deutschland leben, das Leben von Menschen in der Türkei beeinflussen können? Viele wählen Erdogan, weil es noch immer und wieder mehr eine ablehnende Haltung gegenüber Türken in Deutschland gibt. Ich bin gegen das aktuelle Wahlrecht – wähle aber immer gegen Erdogan und habe für die Wahl am Wochenende auch meinen Freundeskreis dazu aufgerufen.

EU-Angehörige erhalten in Deutschland nach wenigen Monaten kommunales Wahlrecht.

Türken oder Araber aber nicht, obwohl sie 50 Jahre hier leben. Das ist eine Ungleichbehandlung und ein fatales Signal. Leider geht der Diskurs gerade nicht in Richtung Ausländerwahlrecht.

Was hat Vertrauen der türkischen Community in Köln in der Vergangenheit gestärkt, was geschwächt?

Türken vertrauen dem deutschen Staat traditionell viel stärker als den türkischen Behörden. Einschneidende Rückschläge gab es vor 25 Jahren durch die Brandanschläge von Solingen und später durch die NSU-Morde, die solange als „Döner-Morde“ galten. Die Arsch-huh-Konzerte waren Aktionen, die ihres Gleichen suchen, auch die Birlikte-Feste, um an die NSU-Anschläge zu erinnern. Dass Köln offen und besonders tolerant ist, ist kein Klischee. Aber leider leben wir nicht auf der Insel Köln.

Vor 25 Jahren ging es um schärfere Flüchtlingspolitik  – jetzt wieder.

Die Leidtragenden sind auch die schon lange hier lebenden Menschen. „Fremd ist fremd“, hat mir kürzlich ein Mann in einer rassistischen Mail geschrieben. Solche Mails bekomme ich sehr oft. Wenn Menschen hier geboren sind, muss ihnen überall vermittelt werden, dass sie Deutsche sind – das sollte in Verwaltungen, Kitas und Schulen losgehen. Leider ist das bislang nicht immer der Fall.

Wie müsste der Islamunterricht künftig organisiert werden? Bislang war die Ditib in NRW der erste Ansprechpartner, eine von Erdogan kontrollierte Organisation.

Ich habe mich lange für islamischen Religionsunterricht eingesetzt – obwohl ich nicht religiös bin – einfach, um auch da gleiche Rechte und bessere Integration zu ermöglichen. Wenn die Landesregierung die islamischen Religionslehrer ausbilden würde, wäre das besser, als einen Dachverband wie die Ditib zwischenzuschalten. Das aber würde Geld kosten.

Würden Sie sich wünschen, die Ditib gar nicht mehr staatlich zu fördern?

Bei der Ditib gibt es immer wieder Einzelfälle, die besorgniserregend sind – aber wenn es Aufreger gibt wie dieses Video mit Kindern in Soldatenuniformen oder Spitzelvorwürfe, muss das untersucht werden – Aufregung um ein Video, die wieder für Abgrenzung und Angst sorgt, ist zu kurz gegriffen. Wir befassen uns ständig mit der Spitze des Eisbergs – mit dem Sichtbaren, nicht mit den Ursachen. Deswegen ist der Integrationsprozess rückläufig. Leider wird auf Institutionen wie den Integrationsrat zu selten gehört. Wir machen Vorschläge, wie zum Beispiel Religionsunterricht oder Zweisprachigkeit gestaltet werden können, dringen aber selten durch.

Sind Ressentiments in den 50 Jahren, seit Sie hier leben, weniger geworden, oder mehr?

Zum Teil sind die Menschen zusammengewachsen. Aber leider baut die Politik Ressentiments wieder auf. Zum Beispiel, nachdem die Willkommenskultur 2015 abgeebbt ist. Es wird wieder Politik mit Angstmache vor Fremden gemacht.

Wo stoßen Sie selbst auf Vorurteile und Ungleichbehandlung?

Schüler mit Migrationshintergrund erzählen mir sehr oft, dass sie sich in der Schule nicht gerecht behandelt fühlen und bei der Ausbildungsplatzsuche. Es ist belegt, dass eine Sarah leichter eine Stelle oder eine Wohnung bekommt als eine Gülhan. Ich  habe mal bei einem Vermieter in Lindenthal angerufen, der mir ein „Die Wohnung ist vergeben“ entgegengeschleudert hat. Als meine Frau, eine Deutsche, später angerufen hat, hatten wir die Wohnung sofort.

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