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„Rettung das größte Geschenk“Bus-Entführung in Köln vor 30 Jahren – Sieben Stunden Todesangst

7 min
Am 28. Juli 1995 entführte ein 31-jähriger Mann einen Stadtrundfahrt-Bus in Deutz und erschoss den Busfahrer und eine Touristin. Lisa Klein wurde nur leicht verletzt.

Am 28. Juli 1995 entführte ein 31-jähriger Mann einen Stadtrundfahrt-Bus und erschoss den Busfahrer und eine Touristin. Ähnlich wie Stadtführerin Lisa Klein gelang auch einem Jungen der Sprung durch die zerschossene Heckscheibe.

Am 28. Juli 1995 kidnappt ein Mann in Domnähe einen Bus und nimmt 24 Menschen als Geiseln. Lisa Klein war eine von ihnen. 30 Jahre danach blickt sie zurück auf eins der folgenschwersten Verbrechen Kölns.

Lisa Klein und Frank Meyer sind zwei Menschen, deren Wege sich auf kaum schicksalhaftere Weise hätten kreuzen können: Klein war am 28. Juli 1995 Geisel bei einer der folgenschwersten Entführungen in Köln. Meyer, damals Gruppenführer beim SEK Köln, war einer derjenigen, die dieses Verbrechen beenden und 22 Menschen nach siebenstündiger Todesangst befreien konnten. „Diese Rettung“, sagt Lisa Klein, „ist das allergrößte Geschenk, das ich je bekommen habe und ich bin zutiefst dankbar dafür.“

Damals wollte sie nicht öffentlich über das Erlebte sprechen. Heute, betont sie, tue sie es vor einem einzigen Hintergrund: Sie möchte mit ihrem persönlichen Rückblick ein Bewusstsein für die Einsätze von Rettungskräften schaffen. „Solche Menschen müssen respektiert werden, die darf man nicht behindern!“

Lisa Klein und Frank Meyer heute.

Lisa Klein und Frank Meyer heute

Der 28. Juli 1995 ist ein herrlicher Sommertag. An jenem Freitag ist die junge Kunsthistorikerin als Stadtführerin eingesetzt. Lisa Klein ist – ausnahmsweise – ein wenig spät dran. Deshalb steht der blaue Bus mit der Aufschrift „Stadtrundfahrt“ bei ihrem Eintreffen schon abfahrbereit in Domnähe. Anders als sonst hat Klein also keine Gelegenheit mehr, sich den Mitfahrenden zuzuwenden und ein paar Begrüßungsworte an sie zu richten, sie nimmt direkt neben Fahrer Raimund Geuer Platz und los geht‘s.

Mittags, als der Bus mit den Touristen – darunter drei Kinder – für die Pause auf den Parkplatz der Messe zurollt, nimmt Klein hinter sich eine Bewegung wahr. Ein Knall dröhnt durchs Fahrzeug, und der 26-jährige Busfahrer kippt zur Seite. Er ist sofort tot. Entsetzt starrt Lisa Klein auf einen schwarz gekleideten Mann, der eine Waffe in der Hand hält und einen Sprengstoffgürtel um den Bauch geschnallt hat.

Ein stundenlanger Albtraum beginnt.

Entführer brüllt und fuchtelt mit der Pistole herum

Der vermummte Täter brüllt Unverständliches, fuchtelt mit der Pistole herum, schießt ziellos umher. Die verängstigten Touristen werden mit Kabelbindern gefesselt, durch die der Entführer später ein Seil zieht, das zu einem Kästchen mit rot blinkenden Lichtern führt. Bei der kleinsten Bewegung ihrer Hände, so lässt der Täter die Gefesselten glauben, fliegt der Bus in die Luft. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass es sich um Sprengstoff-Attrappen gehandelt hat.

Der entführte Bus in Deutz. (Archiv)

Der entführte Bus in Deutz (Archiv)

Während die Touristen die Augen verbunden bekommen und ihnen Klebeband auf die Lippen gepresst wird, erhält Lisa Klein den Befehl, alle Vorhänge zuzuziehen. Was der Täter will oder beabsichtigt, bleibt unklar. Klein erinnert sich, wie sie unentwegt versucht, auf den völlig unkontrolliert scheinenden Mann beruhigend einzuwirken. „Sie bekommen alles, was Sie wollen. Bitte tun Sie niemandem etwas!“, fleht sie ihn auf Englisch an.

Bauarbeiter fällt der Bus mit den zugezogenen Vorhängen auf

Am Tanzbrunnen, nicht weit vom Messeparkplatz entfernt, finden zu dieser Zeit Renovierungsmaßnahmen statt. Einem der Bauarbeiter dort kommt der blaue Stadtrundfahrt-Bus mit den zugezogenen roten Vorhängen merkwürdig vor, er verständigt die Polizei. Minuten später erscheint ein Beamter an der hinteren Tür des Busses. Lisa Klein sieht den Mann noch vor sich – in seiner Uniform „damals beige und grün“. Ohne Vorwarnung schießt der Täter. Der Polizist sackt schwer verletzt zusammen.

Etwa zur gleichen Zeit kommt SEK-Gruppenführer Frank Meyer an diesem Tag auf die Dienststelle. Nach einem Gefangenen-Transport vom Landgericht will er nur schnell etwas essen. Doch dazu kommt der 32-Jährige nicht, weil ein Alarm eingeht: Bus entführt! Als Meyer das hört, springen er und alle verfügbaren Kollegen sofort in ihre Dienstfahrzeuge.

Geisel soll Gepäckfach öffnen – und kann fliehen

Währenddessen in Deutz: Der Geiselnehmer lässt eine Touristin aussteigen, um außen am Bus das Gepäckfach zu öffnen. Die Frau nutzt die Gelegenheit und flieht. Als Nächstes wählt der Entführer Lisa Klein für diese Aufgabe aus und gibt ihr zu verstehen: „I'll kill the children!“ Er werde die Kinder an Bord töten, falls sie nicht zurückkomme.

Augenblicke später steht Lisa Klein im Freien. Die 33-Jährige sieht den blauen Himmel, denkt daran, dass sie heute noch mit ihrer Mutter zum Schwimmen verabredet ist. Sie könnte jetzt losrennen... „I'll kill the children!“, dröhnt es in ihrem Kopf. Doch die junge Frau hätte mit einer solchen Schuld nicht leben können.

Sie solle jetzt den Bus starten, befiehlt der Entführer, nachdem sie wieder eingestiegen ist. Er zwingt sie somit an die Stelle, wo der Busfahrer liegt. „Schau nicht hin, das Bild wirst du sonst nie wieder los!“, befiehlt sie sich, schiebt die Beine des toten Raimund Geuer zur Seite und macht sich an Schaltern und Knöpfen zu schaffen. Türen gehen auf und zu, aber der Motor springt nicht an. Sie hat furchtbare Angst, dass der Entführer als Strafe für ihr Versagen auf sie schießen könnte. Doch er kommandiert sie nur nach hinten.

Loch in der Heckscheibe ermöglicht die Flucht

Während sie dort sitzt, vor sich die gefesselten Geiseln, einige von ihnen durch die wahllosen Schüsse des Täters verletzt, nimmt sie einen Luftzug wahr. Dann sieht sie hinter dem Vorhang das Loch in der Heckscheibe.

Sie ringt mit sich. Betet. Hofft auf eine Instanz, die ihr die Entscheidung abnimmt: ob sie bleiben muss oder gehen darf. Sie selber hat das Gefühl, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben. „Und plötzlich verspürte ich die Sicherheit, leben zu dürfen“, sagt Lisa Klein mit einem Ausdruck in den Augen, der genau diese Überzeugung spiegelt.

Sie gibt sich den Anschein, reglos dazusitzen, während sie versucht, unauffällig mit einer Hand hinter sich das Loch in der Scheibe zu vergrößern. „Jetzt mach dich weich wie eine Katze!“, befiehlt sie sich schließlich und springt.

Im nächsten Moment wird sie von Polizeibeamten gepackt und hinter die großen Pflanzenkübel gezogen, die in diesem Moment einen willkommenen Sichtschutz darstellen.

Kein Polizist weiß, was im Bus vor sich geht

Für den SEK-Beamten Frank Meyer und die übrigen Kollegen vor Ort ist der Einsatz deshalb so schwierig, weil keiner – auch wegen der geschlossenen Vorhänge – einschätzen kann, was im Bus vor sich geht. Ist es ein Täter oder mehrere? Man weiß es nicht. Motiv, Forderungen, Gefährdungslage der Geiseln – alles ungewiss. Man konnte lediglich von einem „äußerst brutalen“ Täter ausgehen, sagt Meyer rückblickend. Eine Geiselnahme mit einer Erschießung zu beginnen, das hätte es „nicht mal bei den Tätern von Gladbeck“ gegeben.

Während Scharfschützen auf dem Dach der Messehallen Position beziehen und man Lisa Klein in einem gepanzerten Mercedes ins Eduardus-Krankenhaus bringt, wo ihre durch Glasstücke verletzte Hand genäht wird, erschießt der Täter willkürlich eine Frau im Bus. Einem Jungen gelingt indessen – wie auch einem älteren Mann – der Sprung durchs Heckfenster in die Freiheit.

Nach Jahren kann die Panik noch immer präsent sein

Freiheit, dieses Wort fällt häufig im Zusammenhang mit Entführungen. Allerdings wissen Menschen wie Lisa Klein nur zu gut, dass im Anschluss an ein solches Erlebnis von Freiheit kaum die Rede sein kann. Die Zeit ist mitunter ein tückisches Biest. Sie schert sich nicht um Wünsche Einzelner, und sie heilt schon erst recht nicht alle Wunden. Das Unterbewusstsein ist wie ein Ozean, aus dem das Trauma jederzeit unerwartet hervorgeschossen kommen kann wie ein Raubfisch. Und plötzlich kämpft der Körper erneut gegen die alten Dämonen.

Lisa Klein berichtet, sie habe es erlebt. Dass selbst Jahre später „die Panik, die jede einzelne Zelle deines Körpers zu durchdringen scheint“, wieder präsent war. Ihre Erfahrungen im Beerdigungsinstitut, das sie vor Jahren von ihren Eltern übernahm, hätten ihr jedoch „die mentale Kraft gegeben, das Geschehene zu verarbeiten“.

Mit-Geisel kann bis heute kaum über das Erlebnis sprechen

Heute habe sie keine Angst mehr vor dem Leid anderer Menschen – aber „allergrößte Hochachtung“ vor Menschen wie Frank Meyer. „Ich habe die alle kollektiv in mein Herz geschlossen“, so die 63-Jährige.

Sie habe bisher kaum über das Ereignis vom 28. Juli 1995 sprechen können, habe eine der Mit-Geiseln ihr kürzlich anvertraut, berichtet Lisa Klein. Diese Frau erlebte das sieben Stunden währende Martyrium bis zu dem Moment, als schließlich aufgrund einer Entscheidung des damaligen Leitenden Polizeidirektors Winrich Granitzka der Schießbefehl erteilt wurde.

Der 31-jährige Täter Leon Bor starb im Gang des Busses. Weil er zu keiner Zeit eine konkrete Forderung gestellt hat, weiß man nach Worten von Frank Meyer bis heute nicht, welches Motiv der Mann hatte, der vor dreißig Jahren bei einem der folgenschwersten Kölner Kriminalfälle zwei Menschen erschoss und einen Polizisten lebensgefährlich verletzte.