Mit ihrem neuen Buch „Kein Kind ist sicher“ möchte die Kölner Familienrichterin aufklären. Sie selbst wurde als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs.
Kölner Familienrichterin„Als Kind sexuellen Missbrauch zu erleben, ist ein allgemeines Lebensrisiko“

Man geht davon aus, dass pro Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind. (Symbolbild)
Copyright: Annette Riedl/dpa
Frau Strnad, Kinder, die Opfer sexueller Gewalt sind, wenden sich durchschnittlich sieben Mal an Erwachsene, bevor sie Hilfe erhalten. Das schreiben Sie in Ihrem neuen Buch „Kein Kind ist sicher“. Woran erkennt man einen Hilferuf?
Kinder, die Missbrauch durch eine enge Bezugsperson erleben, sagen häufig nichts, da sie sich in einem gravierenden Loyalitätskonflikt befinden. Aber jedes betroffene Kind verändert sein Verhalten. Sie werden zum Beispiel in der Schule aggressiver, laufen weg, schwänzen oder versuchen, nicht aufzufallen. Das können auch leistungsstarke Kinder sein. Ess- oder Schlafstörungen können auftreten, selbstverletzendes Verhalten. Kleinkinder fallen in ihrer Entwicklung zurück, nässen sich vielleicht wieder ein oder fangen an zu stottern. Es gibt Kinder, die ein sexualisiertes Verhalten zeigen, indem sie auffällige Bilder malen, eine sexualisierte Sprache verwenden. Wichtig ist: Es gibt keine spezifischen Anzeichen für sexuellen Missbrauch. Diese Verhaltensänderungen zeigen, dass das Kind Probleme hat – eine Möglichkeit von vielen kann Missbrauch sein.
Man liest häufig, dass pro Schulklasse statistisch gesehen ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen sind. Stimmt das?
Ja, sexualisierte Gewalt an Kindern ist leider ein Massenphänomen. Es betrifft alle Schichten in der Bevölkerung und alle Nationalitäten. Und dabei stammen die Zahlen überwiegend aus dem Hellfeld, also von Taten, die angezeigt wurden und in der Statistik auftauchen. Das Dunkelfeld ist noch viel mehr zu erforschen. Großen Anteil an diesen hohen Zahlen haben auch das Internet und die sozialen Medien.
Familienrichterin in Köln: So gehen Täter bei sexuellem Missbrauch vor
Seit 2009 sind Sie Familienrichterin in Köln. Regelmäßig sind Sie mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern konfrontiert. Wen möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen? Eltern, Pädagogen, andere Juristen?
Es ist ein populäres Buch, das sich an jeden richtet. Ich möchte aufklären und Wissen vermitteln. Zum sexuellen Missbrauch gehören immer drei: die Opfer, die Täter und ein schützendes Umfeld. Die Tat kann nur geschehen, weil der Täter auch das Umfeld manipuliert. Es wird immer gesagt, man muss die Kinder noch mehr stärken, aber das Umfeld gerät wenig ins Blickfeld. Ich erlebe viel zu oft, dass Erwachsenen das Thema so viel Angst macht, dass sie sich nicht damit beschäftigen wollen. Genau darauf baut der Täter. Auch wenn es hart ist: Das Wissen ist unsere stärkste Waffe, um unsere Kinder zu schützen. Wenn wir hinschauen, können wir helfen, dass Taten zumindest viel frühzeitiger aufgedeckt werden.
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Wie gehen Täter vor?
Es sind keine Spontan- oder Einzeltaten, sie werden gezielt vom Täter vorbereitet. Die Täter, die in 75 Prozent der Fälle die Kinder bereits kennen, versuchen, das Kind zunächst enger an sich zu binden. Sie bieten ihm Hilfe oder Geschenke an. Dann kommen Übergriffe im Graubereich. Der Täter testet Opfer und Umfeld aus, wie groß sein Einfluss bereits ist und ob sie schweigen. Nehmen enge Bezugspersonen aufmerksam die Bedürfnisse des Kinders wahr? Zeigt das Kind Widerstand?
Vielleicht macht er das Umfeld vor dem Kind schlecht, sodass es das Vertrauen in nahestehende Personen verliert. Oder er zeigt dem Kind demonstrativ: Ich bin super eng mit deinen Eltern, die glauben dir eh nicht. Wenn der Täter merkt, dass Hilferufe nicht durchkommen, folgen die sexuellen Inhalte, erst verbal, dann vielleicht durch Fotos oder körperliche Übergriffe. Er testet weiter, und je mehr das Kind in diesem Kreislauf drin ist, desto schwieriger wird es, auszubrechen.

Das neue Buch von Familenrichterin Dr. Eva Strnad „Kein Kind ist sicher. Wie wir wachsam bleiben und unsere Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen.“ ist im beltz-Verlag erschienen
Copyright: Anton Riedel
Was für Menschen sind die Täter?
Es gibt kein klassisches Täterprofil. 80 bis 90 Prozent der Täter sind männlich. Der Anteil jugendlicher Täter steigt in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden Straftaten im Internet, er hat sich in der Zeit von 2018 bis 2022 mehr als verzwölffacht. Ein großer Irrtum ist auch der Glaube, alle Täter seien pädophil. Das sind aber nur 25 bis 50 Prozent der Täter. Bei vielen steht Machtausübung, Sadismus, Demütigung und das Ausleben von Gewaltfantasien im Vordergrund. Es wäre daher besser, bei diesen Taten von sexuellem Machtmissbrauch zu sprechen. Frauen oder Mütter als Täterinnen sind bisher ein weitgehend unerforschtes Thema. Sie sind das Tabu im Tabuthema sexueller Kindesmissbrauch, was die Hilfe für betroffene Kinder noch mehr erschwert. Schwierig ist auch die Rolle „passiver oder ambivalenter“ Mütter: Diese beteiligen sich zwar nicht aktiv an den Taten ihres Partners, schützen ihre Kinder aber auch nicht.
Warum versagen Vereine, pädagogische Einrichtungen oder Behörden mitunter, wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch aufzudecken?
Die Gründe sind vielschichtig. In den Missbrauchskomplexen der letzten Jahre in NRW kamen gravierende Fälle vor, in denen von Jugendamt, Polizei, Psychologen bis hin zum Familienrichter keiner etwas gesehen hat. Das wird derzeit in einem Untersuchungsausschuss des Landtags NRW umfassend aufgearbeitet. Auch Fachleute unterliegen Mythen über sexuelle Gewalt, die noch vielfach grassieren. Im Buch beschreibe ich einige wie zum Beispiel „Das betrifft nur Mädchen“, „Kinder haben so viel Fantasie, man darf ihnen nicht alles glauben“ oder „Mutterliebe ist naturgegeben“. Mythen führen zu Zensuren im Kopf und machen uns blind für Warnsignale betroffener Kinder.
Diese Mythen grassieren bei sexuellem Missbrauch von Kindern
Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem einer dieser Mythen die Aufklärung behindert hat?
Im Staufener Missbrauchsfall von 2015 bis 2017 hat ein Familiengericht einen Jungen wieder zur Mutter geschickt, obwohl der missbrauchende Lebenspartner schon strafrechtlich verurteilt war, was die Richterin wusste. Sie dachte, das klappt, wenn sie als Auflage für die Mutter ein Kontaktverbot zum Partner ausspricht. Da wirkte eben der Mythos der naturgegebenen Mutterliebe, der besagt, dass Mütter in jedem Falle schützen. Dass aber die Mutter Mittäterin sein könnte und tatsächlich war, hatte das Gericht nicht auf dem Schirm.
Inwieweit haben die Missbrauchskomplexe der letzten Jahre wie Bergisch Gladbach, Lügde und Münster bereits ein Umdenken im Umgang mit sexuellem Missbrauch von Kindern bewirkt?
Es gab einige Gesetzesreformen, der Kinderschutz wurde deutlich gestärkt. Kinder werden im familiengerichtlichen Verfahren in jedem Falle verpflichtend angehört: Das ist eine positive Entwicklung. Einrichtungen, Schulen und Kitas müssen zudem nun Kinderschutzkonzepte etablieren. Wenn Vorwürfe und Verdachtsfälle auftauchen, soll es ein Instrument für den Umgang bieten. Das schließt mit ein, dass man fortgebildet wird, in der Einrichtung darüber spricht und eine offene Kultur des Hinschauens herrscht.
Wo sehen Sie noch Bedarf?
Beim Thema Schulungen gibt es noch viel Luft nach oben. Zwar gibt es generell immer mehr ein Bewusstsein dafür, aber das Thema sollte stärker in die Ausbildung von allen Professionen, die mit Kindern zu tun haben, sowie mehr in Schul- und Lehrpläne verankert werden. Auch für Mediziner sollten Schulungen verpflichtend sein.
Sie selbst sind als Kind Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Inwieweit hat Ihre persönliche Erfahrung Ihre Berufswahl beeinflusst?
Es war keine bewusste Entscheidung. Die Wahl des Studienfachs Jura war schon eine Form und ein Teil der Auseinandersetzung. Beim Familiengericht bin ich nur durch Zufall gelandet, weil eine Kollegin schwer erkrankt war. Es hat mir Freude gemacht, also bin ich geblieben.
Geraten Sie emotional an Ihre Grenzen, wenn Sie es mit besonders schrecklichen Fällen zu tun haben?
Ich habe meine Vergangenheit intensiv aufgearbeitet. Für meinen Beruf sehe ich das als großen Vorteil und Stärke an, weil ich mit professioneller Distanz die Fälle aus allen Aspekten bearbeiten kann. Ich weiß, wie sich Kinder fühlen, ich weiß, was es heißt, Eltern zu sein und ich habe auch selbst Gerichtsverfahren geführt.
Diesen Fall hat Kölner Familienrichterin Eva Strnad erschüttert
Welcher Fall hat Sie nachhaltig erschüttert?
Das war während meines juristischen Referendariats bei der Staatsanwaltschaft: Ein Mädchen, circa 15 Jahre alt, wohnte mit seiner alkoholkranken Mutter, einer Schwester und zwölf oder mehr Katzen in einer kleinen Wohnung. Die Jugendliche kümmerte sich um den kompletten Alltag. Einkauf, Botengänge, Betreuung der jüngeren Schwester. Die Mutter war sexuell übergriffig. Als das Mädchen die Situation nicht mehr aushielt, brachte es die Mutter mit einem Messer im Schlaf um. Die Kinder verbarrikadierten sich mit der Leiche und bauten eine Gruft für die Mutter, damit sie sie nicht sehen mussten. Tagelang lag die Leiche noch in der Wohnung, bis es zum Flur hinaus stank. Das Mädchen ging dann selbst zur Polizei. Im Prozess war klar, wer hier Opfer war. Die Jugendliche wurde verurteilt, aber sie sollte möglichst auch Hilfe und Therapie bekommen. Ich war fassungslos, weil der Fall vor Augen geführt hat, wie das ganze Umfeld krachend versagt hat.
Gab es einen Fall, der Ihnen auch ein bisschen Hoffnung gemacht hat?
„Als Familienrichterin hatte ich einen Fall, bei dem die Mutter eines zehnjährigen Mädchens zuhause als Domina gearbeitet hat. Das Kind war klug, ging zur Schule und ertrug schreckliche Situationen daheim. Der Lebensgefährte der Mutter nahm Drogen und war psychisch krank. Es kam schließlich zu einer Anzeige wegen des Verdachts von sexuellem Missbrauch. Ich habe eine Psychologin als Vormündin eingesetzt, die sich darum kümmerte, dass das Mädchen in eine spezielle Einrichtung für traumatisierte Kinder kam. Die Taten flogen auf, weil jemand hingeschaut hat. Es gab Hausbesuche und dann wurde das Kind in Obhut genommen. Jetzt erhält es Hilfe.“
Das können Eltern und jeder einzelne zum Schutz der Kinder tun
Was raten Sie den Eltern in Sachen Prävention?
Eltern sollten sich klarmachen: Sexualisierte Gewalt zu erleben ist ein allgemeines Lebensrisiko, das unseren Kindern passieren kann. Man sollte sein Kind wappnen. Man kann es von klein auf entsprechend erziehen, angefangen bei der Sprache. Die Sexualorgane sollten direkt richtig benannt, Verniedlichungen vermieden werden. Das Kind sollte wissen, dass man ohne Scham über den Körper sprechen kann. Grenzen setzen, Nein sagen können und dürfen, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen benennen können; die beste Prävention bleibt aber eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind. All das stärkt Kinder.
Was kann jeder einzelne tun?
Sehr viel. Gewalt gegen Kinder ist keine Privatsache. Die innere Haltung ist der beste Kinderschutz; sich informieren, blöde Gefühle im Verdachtsfall nicht wegschieben, sich ggf. professionellen Rat suchen. Wir können Kinderschutzkonzepte in Einrichtungen einfordern, die unsere Kinder besuchen. Denn Wissen ist Macht – Macht, die wir nicht den Tätern überlassen sollten, die mit unseren Ängsten spielen. Wir sind nicht nur verantwortlich für unsere eigenen Kinder, sondern auch für andere Kinder in unserem Alltag, die vielleicht keine engen Bezugspersonen haben, die sie schützen.
Zur Person: Dr. Eva Strnad ist 53 Jahre alt. Sie ist Richterin am Amtsgericht Köln, seit 2009 beim Familiengericht. Sie studierte Jura in Trier, Rom und Freiburg.
„Kein Kind ist sicher: Wie wir wachsam bleiben und unsere Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen“, 256 Seiten, erschienen im Beltz-Verlag.

