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Erzbistum KölnMissbrauchsopfer Melanie F. und ihr Kampf um Gerechtigkeit

8 min
Die Türme des Kölner Doms im Nebel

Die Türme des Kölner Doms im Nebel 

Ein Urteil des Landgerichts Köln aus dem Jahr 2023 hat die Situation rund um finanzielle Leistungen der Kirche an Missbrauchsopfer grundlegend verändert.

Die Reaktion von Melanie F. fällt so aus, wie es typisch für sie ist: „Ich weiß gar nicht, ob ich mich freuen soll.“ Grund dazu hätte die 59-Jährige. Die „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen“ (UKA), eine Einrichtung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, hat ihr als Betroffener sexuellen Missbrauchs einen Gesamtbetrag von 360.000 Euro zugesprochen. Das ist die bisher höchste Summe im Bereich des Erzbistums Köln, aus dem Melanie F. kommt.

Doch seit sie in den 1980er Jahren von ihrem Pflegevater, dem damaligen Diakon und Priester Hans Ue., regelmäßig vergewaltigt worden war, bekommt sie nach eigener Aussage keinen Zugang zu ihren Gefühlen. „Meine Emotionen sind zerstört worden.“ Bis heute, sagt sie, lache sie so gut wie nie. „Das kann man irgendwo nicht, wenn man so etwas erlebt hat.“

Die „Kinder des Kaplans“

Melanie F. steht einerseits stellvertretend für das Schicksal Tausender Kinder und Jugendlicher, die im Raum der katholischen Kirche Opfer von Missbrauch wurden, begangen durch Priester und andere kirchliche Amtsträger. Andererseits ist Melanie F.s Fall in mancher Hinsicht besonders: Der Täter, 2022 vom Landgericht Köln zu 12 Jahren Haft verurteilt, bekam vom früheren Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, noch vor der Priesterweihe die Erlaubnis, für die damals 13-Jährige und einen zwei Jahre älteren Jungen aus einem Bonner Kinderheim die Vormundschaft zu übernehmen.

Als „Kinder des Kaplans“ lebten sie mit Ue. in dessen Dienstwohnung unter einem Dach. Dort erlitt F. über Jahre hinweg schlimmste Gewalt bis hin zur Penetration. „Immer samstags“, berichtet Melanie F., „zwischen Beichte und Abendmesse“. Nach dem Missbrauch nahm Ue. ihr persönlich die Beichte ab. Zweimal wurde die Jugendliche von ihrem Pflegevater ungewollt schwanger. Beim ersten Mal veranlasste Ue. eine Abtreibung, ohne dass F. das klar gewesen wäre.

Urteil des Landgerichts Köln änderte alles

Das alles brachte sie bei der UKA vor, die im Auftrag der Bischöfe und auf Antrag von Betroffenen über freiwillige finanzielle Leistungen entscheidet. In einer ersten Runde erhielt F. vor zwei Jahren den – damals – hohen Betrag von 70.000 Euro.

Doch das Urteil eines staatlichen Gerichts aus dem Jahr 2023 änderte alles. Damals sprach das Landgericht Köln dem ehemaligen Messdiener Georg Menne in einem Zivilprozess gegen das Erzbistum Köln ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zu. Eine solche Summe war bis dahin unerhört. Genaugenommen, sagt der ehemalige Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht (OLG) Köln, Lothar Jaeger, gab es bis zum „Fall Menne“ überhaupt keine einschlägige Rechtsprechung zu Schmerzensgeld bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche.

Weil die UKA angehalten ist, ihre – wie die Bischöfe stets betonen – freiwilligen Leistungen an den Schmerzensurteilen deutscher Gerichte zu orientieren, sind seit 2023 die formal nicht gedeckelten Beträge deutlich gestiegen. Betroffene wie Melanie F., deren UKA-Verfahren eigentlich schon abgeschlossen war, konnten im Licht „neuer Informationen“ im Widerspruchsverfahren erneut einen Antrag stellen. Das tat Melanie F. – wie viele andere auch: 2023 zählte die UKA 620 Widersprüche, im Jahr 2024 waren es 358.

Missbrauchsbeauftragte des Bundes lobt katholische Kirche

Die Missbrauchsbeauftragte des Bundes (UBSKM), Kerstin Claus, betont im Gespräch mit „Kölner Stadt-Anzeiger“ und WDR die Bedeutung hoher finanzieller Leistungen: Zwar könne „kein Betrag der Welt“ eine verlorene Kindheit und Jugend wettmachen. „Aber wir wissen, dass Betroffene massiver sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend häufig auch armutsbetroffen sind. Die Biografie ist meist geprägt von diversen Brüchen und Belastungen, die aus den Erfahrungen der Kindheit und Jugend resultieren.“ Zudem erfüllten hohe Beträge nach Claus' Worten die Funktion, „dass erlittenes Leid so anerkannt wird“.

Ungeachtet mancher Schwierigkeiten im UKA-Verfahren nannte die Missbrauchsbeauftragte es „sehr wichtig“, dass es in der katholischen Kirche überhaupt ein strukturiertes Prozedere gebe, das in anderen Institutionen fehle. So hinke die evangelische Kirche der katholischen „um Jahre hinterher“. Für Betroffene sei das „tatsächlich desaströs, weil sie in Teilen schon seit vielen Jahren versuchen, Anerkennung und angemessene Entschädigung zu bekommen“.

Als problematisch bewertet es Claus auch, dass die Bundesregierung selbst vielen Missbrauchsopfern gerade eine Möglichkeit nehme, Gelder zu beantragen. Der dafür vorgesehene „Fonds Sexueller Missbrauch“ wird – entgegen einem Versprechen im Koalitionsvertrag von Union und SPD – zurzeit nicht mit neuen Mitteln ausgestattet.

Im Sport vermisst Claus etablierte Entschädigungsverfahren und appelliert an die Bundesregierung, Gelder einzufrieren, wenn der Kinderschutz nicht gewährleistet sei: „Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sportförderung in diesem Maße weiter möglich ist, wenn gleichzeitig bestimmte erste Schritte seitens des verfassten Sportes noch nicht gegangen sind.“

Ein Wink vom Papst?

Als bei Melanie F. der schriftliche Bescheid über die auf den Gesamtbetrag von 360.000 Euro erhöhte Anerkennungsleistung Melanie F. eintraf, sei ihr erster Gedanke gewesen: Wieso jetzt? „Woher der Sinneswandel?“, habe sie sich gefragt. „Ob der Papst da vielleicht einen Wink gegeben hat?“

So unwahrscheinlich es ist, dass Leo XIV. höchstpersönlich bei der UKA mit Sitz in Bonn interveniert haben sollte, so sehr verrät F.s Grübeln, was Missbrauchsopfer und deren Vertreter regelmäßig kritisieren: Das Verfahren sei intransparent, die Beweggründe für die festgelegten Summen unklar. Die UKA argumentiert, ihre „Plausibilitätsprüfungen“ seien mit Bedacht weniger formalisiert als eine Beweisführung vor staatlichen Gerichten.

Dass Melanie F. sogleich an Papst Leo XIV. denkt, hat allerdings auch damit zu tun, dass sie den Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Woelki, wegen seines Umgangs mit ihrem Fall in Rom angezeigt hat. Hier geht es nicht um das Anerkennungsverfahren der UKA und die freiwilligen Leistungen, sondern um einen handfesten Streit vor staatlichen Gerichten.

Klage auf 850.000 Euro Schmerzensgeld

F. hat das Erzbistum auf ein Schmerzensgeld in einer Gesamthöhe von 850.000 Euro verklagt. Sie und ihr Anwalt Eberhard Luetjohann argumentieren, die Kirche müsse für die Vergehen des Priesters Ue. haften. Die Anwälte des Erzbistums trugen vor dem Landgericht (LG) Köln vor, der Täter habe den Missbrauch nicht in Ausübung seines Amtes, sondern in seiner Freizeit begangen. Das Urteil folgte dieser Sicht und wies die Klage ab. F. hat dagegen inzwischen Berufung vor dem OLG Köln eingelegt.

Die Argumentation des Erzbistums und des LG Köln stieß sowohl bei Staatsrechtlern als auch bei Theologen auf scharfe Kritik: Nach katholischem Amtsverständnis sei ein Priester immer im Dienst. Dies in Abrede zu stellen, sieht Klägerin Melanie F. als Versuch des Erzbistums, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Die Behauptung, Ue. sei als Privatperson zum Missbrauchstäter geworden, „ist nicht nur für mich, sondern auch für viele andere Katholiken – und auch für kluge Theologen – wie ein Schlag ins Gesicht“, schrieb F. im August an Papst Leo XIV. „Ich habe gelernt: Ein Priester ist immer im Dienst, mit seiner Weihe stellt sich der Priester ganz und gar in den Dienst, es gibt für einen Priester keine Freizeit, vor allem dann nicht, wenn er sich als Seelsorger um andere Menschen kümmert.“ Das Ue. „als Seelsorger zum Verbrecher wurde“, sei nicht nur für sie „offensichtlich und unbestreitbar“.

Papst hat bisher auf Anzeige nicht reagiert

Der in F.s Anzeige formulierte Wunsch an den Papst, er möge eingreifen und „im Erzbistum Köln der Gerechtigkeit und der Wahrheit wieder einen Weg bahnen“, ist bis dato unerfüllt geblieben. Zumindest haben weder F. noch weitere Anzeige-Erstatter binnen der kirchenrechtlich vorgesehenen Monatsfrist eine Auskunft zum weiteren Vorgehen erhalten.

Woelki reagierte unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Anzeige mit einer bemerkenswerten Klarstellung: Ein Priester sei tatsächlich „immer Priester“ und habe nach kirchlichem Selbstverständnis „nie einfach Feierabend“. Der Priester „ist berufen, das Wort Gottes zu verkünden, die Sakramente zu feiern, zu beten, zu segnen und zu helfen, wann immer es nötig ist. Er steht mit seinem ganzen Leben im Dienst Gottes und der Menschen.“

Vorsorgliche Stellungnahme der Bistumsanwälte

Ob sich diese auf die spirituelle Dimension des priesterlichen Handelns fokussierte Sicht auf die Berufungsklage vor dem OLG auswirkt, ist offen. Zur Frage des Schmerzensgelds haben die Bistumsanwälte dem Gericht gegenüber schon einmal „vorsorglich“ Stellung genommen. Mit Blick auf der 360.000-Euro-Zahlung durch die UKA betonen sie zunächst, dass sie „als freiwillige Leistung und unabhängig von Rechtsansprüchen erbracht“ worden sei. Dann aber heißt es weiter: „Würde der Klägerin ein Schmerzensgeldanspruch zustehen, wäre dieser durch die erfolgten Anerkennungsleistungen … erfüllt worden.“

F.s Anwalt Luetjohann nennt die „Vermengung“ von Freiwilligkeit (UKA-Leistungen) mit einer Rechtspflicht (Schmerzensgeld) abwegig. Andere Juristen sprechen von einer offenen Frage. Nach Einschätzung eines renommierten Haftungsrechtlers kann der „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ gezahlte Betrag gleichwohl „Erfüllungswirkung“ haben. Der von Melanie F. geltend gemachte Anspruch würde dann bei einem Erfolg ihrer Klage in Höhe der vom Erzbistum über die UKA geleistete Summe erlöschen. Der Experte verweist dazu auf eine einschlägige BGH-Rechtsprechung aus den 1990er Jahren.

Der frühere Kölner OLG-Richter Lothar Jaeger, der sich in den vergangenen Jahren eingehend mit Haftungsfragen bei Missbrauchsfällen im kirchlichen Kontext befasst hat, teilt diese Einschätzung im Grundsatz. Zwar halte er persönlich es für falsch, die Leistungen der UKA anzurechnen, weil diese „ihre Zahlung ausdrücklich nicht als Schmerzensgeld ansieht, sondern als „materielle Anerkennungsleistung„. Gleichwohl spreche vieles dafür, „dass die Richter am OLG die Dinge so sehen würden, wie vom Erzbistum vorgetragen“, sagte Jaeger dem WDR und dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen spricht von Rosinenpickerei der Kirche. „Wenn Missbrauchsopfer den Klageweg beschreiten und vor einem ordentlichen Gericht Recht bekommen, soll aus der freiwilligen Leistung doch ein Schmerzensgeld werden? Das mag der Form nach angehen, ist aber dem Vorgehen nach dennoch höchst fragwürdig. Meines Erachtens müsste die Kirche sich hier schon beim Wort nehmen lassen.“