Stromausfall und TränenSo läuft ein Tag auf der Deutzer Herbstkirmes

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Die Deutzer Kirmes am frühen Mittwochabend

Köln – Mittwochmittag, 13 Uhr, Deutzer Werft. Die Kirmes erlebt ihren sechsten Tag. Nachdem vor einem halben Jahr in den Osterferien die Lage zum Teil eskalierte, greift beim sogenannten Herbstvolksfest ein umfangreiches Sicherheitskonzept, um Kirmesgänger und Anwohner  zu schützen. Die Rollläden fahren hoch, Riesenrad, Karussell und Wilde Maus fahren hoch. Heute ist Familientag, der Eintritt auf die Fahrgeschäfte kostet nur die Hälfte. Freud und Leid auf dem Rummel. Das Protokoll eines langen Tages.

13 Uhr, „Wilde Maus“: Das erste Kreischen des Tages hallt aus den Wagen der Achterbahn über die Deutzer Werft, es setzt den Startschuss für den Familientag auf der Herbstkirmes. Die Musikanlagen gehen an, kurz darauf drehen sich beinahe alle Fahrgeschäfte entlang der knapp einen Kilometer langen Festfläche am Rheinufer.

13.15 Uhr, Severinsbrücke: Leonie Drexler quiekt, als sie auf den Schultern ihres Vaters Andreas vom Fußweg unter der Severinsbrücke die ersten Lichter sieht. Die Familie aus Frechen hat einen der wenigen Parkplätze nah am Gelände gefunden: „Wir sind direkt zu Beginn gekommen, weil es heute sicher voll wird – und jetzt geht es noch“, sagt Mutter Laura. „Klar“, fügt Andreas Drexler hinzu, „auch die Preise sind heute angenehmer als an den anderen Tagen.“

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Der Familientag auf der Kirmes verlief weitestgehend etnspannt

14.45 Uhr, Herbert-Liebertz-Weg: Der erste Kirmes-Einsatz für die Polizei heute: Auf der Wiese vor dem Hauptzugang streiten sich zwei Jugendliche. Schwestern. Zunächst mit Worten, aber dann wird es handgreiflich. Zwei Polizisten schlichten, einer ruft die Mutter an: „Ist nichts Schlimmes passiert, den beiden geht es gut“, beruhigt der Beamte. Die Mädchen vertragen sich, eine Straftat liegt nicht vor, Fall erledigt.

15.05 Uhr, Restaurant Siegburger Straße: Davood Faraji bereitet in seinem Persischen Restaurant Salate, Spieße und Teig vor. „Die Kirmes macht mir das Geschäft kaputt“, schimpft er. „Unsere Stammkunden bleiben weg, weil sie nicht durchkommen und alles so voll ist.“ Er verkaufe höchstens kleine Snacks, und vor allem abends wollen Fremde bei ihm zur Toilette. „Die machen richtig Stress, wenn man das ablehnt.“ An den ersten Kirmestagen hatte er deshalb geschlossen. Seine Meinung: „Diese Veranstaltung sollte hier weg.“

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Der Verkehrsdienst musste nicht oft einschreiten.

15.10 Uhr, Siegburger Straße: Patricia A. und Jens H. vom städtischen Verkehrsdienst sind schon ein paar Stunden im Dienst. Bisher wirkt sich der Familientag in Deutz kaum aus. Bei der Frühjahrskirmes vor einem halben Jahr verursachten Anwohner und Auswärtige zwei Wochen lang einen Verkehrsinfarkt in den Straßen von Deutz. Von zugeparkten Rettungswegen, Behindertenparkplätzen und Ladezonen ist heute aber wenig zu sehen. Das Sperrkonzept scheint im Wesentlichen aufzugehen.

16.10 Uhr, Herbert-Liebertz-Weg: Der städtische Ordnungsdienst ist heute mit zehn Kräften auf und an der Kirmes im Einsatz. Ordnungswidrigkeiten wie Wildpinkeln, Alkohol- und Zigarettenkonsum von Minderjährigen sind hier an der Tagesordnung. Bisher ist die Lage ruhig. Am Freitagabend erwischten die Einsatzkräfte auf einem Spielplatz nahe des Kirmesgeländes eine 14-Jährige mit einem Teppichmesser. Sie soll gesagt haben, dass sie das Messer aus Angst vor Übergriffen bei sich hatte. Das Messer gab sie den Einsatzkräften freiwillig.

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Der Ordnungsdienst läuft Streife auf dem Festgelände

16.50 Uhr, Zugang zur Kirmes: Neben dem Zugang zur Kirmes steht ein mobiles Urinal. Nicht zu übersehen eigentlich. Ein junger Mann entscheidet sich dennoch für die Wand eines Betonhäuschens, das drei Meter daneben steht.

17.23 Uhr, vor einem Crêpes-Stand: Eine ältere Dame vermisst ihren 13-jährigen Urenkel und spricht die Kräfte des Ordnungsamts an. Der Junge trägt ein schwarzes Oberteil mit Kapuze. Mitarbeiter des Ordnungsamts fragen die Security-Leute, ob sie ihn gesehen haben. Ob er sich auf die Geisterbahn verirrt hat, oder auf die Wilde Maus, wäre Spekulation.

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Wer zwei Minuten an der Reckstange hängt, gewinnt 100 Euro.

17.30 Uhr, Kirmesgelände Nähe Deutzer Brücke: Wer bei Tiktok als Suchbegriff „Hängdichreich“ eingibt, sieht Videos von Menschen, die im Getümmel eines Jahrmarkts an einer Reckstange hängen und versuchen, zwei Minuten durchzuhalten, angefeuert von Umstehenden. Die Reckstange ist auch auf der Deutzer Kirmes aufgebaut, es ist die vielleicht kleinste Attraktion auf dem Gelände, aber sicher eine der originellsten. Einmal Hängenlassen kostet fünf Euro. Wer 120 Sekunden durchhält, gewinnt 100 Euro. Sabrina, eher klein und schmächtig, schafft nur ein paar Sekunden. „Das letzte Mal, dass es jemand geschafft hat, war 2019“, sagt Ferid Dzemail, dessen Chef die Reckstange betreibt. Die Bestzeit des diesjährigen Herbstfestes in Deutz liege bei 98 Sekunden, der Frauen-Allzeit-Rekord bei 38 Sekunden.

17.30 Uhr, „Musik Express“: Der Drehwurm muss kurz anhalten, weil einem Jungen schlecht ist. Als er endlich draußen ist, weint er bitterlich.

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Blick vom Riesenrad auf die Kirmes in Deutz

17.35 Uhr, vor der Geisterbahn: Der Urenkel ist wieder da. Hatte sich nur kurz etwas zu essen geholt. „Ente gut, alles gut“, sagt ein Mitarbeiter des Ordnungsamts.

18.30 Uhr, Wohnung an der Siegburger Straße, 5. Etage: Ulla Foemer hat dieser Tage fast immer die Vorhänge zugezogen. „Das ist einfach eine enorme Farbbelastung“, sagt die Anwohnerin, deren Wohnzimmer zur Kirmes hin gelegen ist. Wer auf Foemers Balkon steht, hat das Gefühl, das Riesenrad fast mit den Händen berühren zu können, so nah wirkt es. Grelle Lichter blinken und leuchten, von den besonders schnellen Fahrgeschäften weht das Geschrei der Menschen hinüber. „Das Gekreische ist am schlimmsten“, sagt Foemer. Auch die Discomusik ist bis hier oben zu hören, leise wummernde Bässe und immer wieder Lautsprecherdurchsagen. „Aber diesmal geht es, es ist nicht so laut wie in den Vorjahren“, sagt Foemer.

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Norbert Monßen von der Anwohnerinitiative auf dem Balkon einer Nachbarin

Das ist auch das Verdienst der Bürgerinitiative Deutzer Werft, die sich nach der Frühjahrskirmes im April energisch für einen verbesserten Lärm- und Anwohnerschutz eingesetzt hat. Und siehe da: „Die Stadt hat sich bewegt“, stellt Norbert Monßen von der Bürgerinitiative zufrieden fest. Erstmals wurden die Schausteller von der Stadt verpflichtet, den Lärmpegel messen und ein Gutachten darüber erstellen zu lassen. Das Messgerät steht auf Foemers Balkon. Die Werte werden nach Ende der Kirmes abgelesen und ausgewertet. Auch das Verkehrschaos bleibt dieses Jahr größtenteils aus: Die Siegburger Straße ist ab mittags bis etwa 22 Uhr für Autos gesperrt. Aber nicht alles ist gut, betont Monßen. Die Parkplatzsituation in Deutz etwa bleibe extrem angespannt.

18.45 Uhr, Deutzer Freiheit: Ein Ordner wird an der Absperrung von einem anderen Auto angefahren. Sanitäter kommen und behandeln den Mann in einem Rettungswagen. Mit leichten Schrammen kommt er ins Krankenhaus.

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Ein Ordner bewacht eine Straßensperre an der Deutzer Freiheit

19.05 Uhr, Reckstange: Ein Mädchen fällt nach drei Sekunden vom Reck.

19.18 Uhr, Pirates Adventure: Die fünfjährige Teeju ist mit ihrem Vater Peter auf dem Laufparcours unterwegs und kommt mit leicht feuchten Füßen wieder raus. Draußen wartet ihre Mutter Trin. Bald geht es zurück ins Hotel für die Familie aus dem belgischen Antwerpen, die für ihren gestrigen Besuch im Phantasialand ins Rheinland gekommen sind. Die Kirmes gefalle ihr aber noch besser, sagt Teeju. Die sei viel größer als zu Hause.

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Trin, Peter und die fünfjährige Teeju

19.30 Uhr, an der Losbude: Ein Mann aus Burscheid hat einen Hauptgewinn gezogen und will seiner Freundin etwas schenken. Sie sucht sich ein rotes Plüsch-Herz aus.

19.55 Uhr, „Wilde Maus“: Sie wanken ein wenig, als sie aus der „Wilden Maus“ über die Stufen ins Freie treten, und Agi sorgt sich um ihren Puls. „Das war echt krass, mein Herz! Ich bin ja auch schon fast 30, das war’s für mich für heute“, sagt sie und lacht. Mit ihren Arbeitskollegen von Urban Sports, Tim und Caty, wollte Agi nach Feierabend noch „was Schönes machen“ – also ging es auf die Kirmes, Schokofrüchte essen und Achterbahn fahren. Trotz Familientag, trotz erwartetem Gedränge. „Wir wussten, dass es voll wird, aber es hat sich gelohnt.“

20 Uhr, Beach Monster: Sam Dylan steht mit Versace-Jacke vor dem schnellen Karussell und filmt die hängenden Gondeln. „Bei sowas wird mir inzwischen auch schwindelig“, sagt Sam etwas traurig. Früher ging das noch, jetzt muss seine Freundin allein fahren. Sam postet das Video auf seinem Instagram-Kanal, verlinkt das Fahrgeschäft und bekommt dafür ein paar Fahrchips umsonst. Geben und Nehmen.

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Hoffen auf den Hauptgewinn: Ein junges Paar an der Losbude

20.05 Uhr, Boxsack neben dem Autoscooter: 30 bis 40 junge Männer stehen um einen Boxautoamten herum, im Wechsel dreschen sie auf einen schwarzen Gummisack ein. Je fester, desto besser. Auf einem Display erscheint die Punktzahl: 827, 870, 924. Die Amateurboxer feuern sich gegenseitig an: „Hammer, Bruder, das Gerät explodiert gleich!“ Vier Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes, der erstmals auf der Kirmes im Einsatz ist, beobachten die Szene. „Hier kann es schon mal zu Stress kommen“, sagt Nico Siefen vom Sicherheitsdienst. „Deshalb sind wir da, um früh mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und gefährliche Situationen im Keim zu ersticken. Kommunikation ist alles in diesem Job. Wir könnten zwar auch anders, aber das wollen wir nicht.“

20.24 Uhr, „X-Force“: Die Fahrt ist gerade vorüber, alle Besucher ausgestiegen, da dreht sich plötzlich nichts mehr bei „X-Force“. Stromausfall – und das in der besucherstärksten letzten Stunde des Tages. Zwei Mechaniker geben alles, kriegen das Fahrgeschäft aber vorerst nicht wieder ans Laufen.

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Willi Krameyer, Sprecher der Schaustellergemeinschaft

20.45 Uhr, Wurstbude: Schausteller-Sprecher Willi Krameyer spricht kurz vor dem Ende des Familientags von einem guten Tag. Es sei gut gefüllt gewesen, aber nicht zu voll. Die Szenen vom Familientag im April werde es nie wieder geben, hatte er damals schon gesagt. Zwei Jahre Corona-Pause, Schulferien und Frühsommer-Wetter kamen zusammen. Diesmal fällt die Kirmes nicht auf die Ferien, die Sperrmaßnahmen wirken. „Die Security greift auch schon mal durch. Wir hatten bislang keine Beschwerden“, sagt Krameyer.

20.56 Uhr, Autoscooter: Betreiberin Jenny Weber sagt die letzten beiden Runden an. „Um 21 Uhr müssen wir leider Schluss machen“, ruft sie ins Mikrofon. Kurz vor 21 Uhr rennen nochmal ein Pärchen und eine Mutter mit ihrem Kind zur Kasse und holen sich Chips für die letzte Runde. Nebenan in der „Wilden Maus“ gehen die Lichter aus, fast zeitgleich verschwindet auch das Riesenrad in der dunklen Nacht. Jetzt steht auch der Autoscooter still. Ein halbes Dutzend Mitarbeiter räumt die Gefährte zusammen, leert die Chipslager und nimmt die Wimpel von den Stromabnehmern. „Feierabend, Dankeschön“, sagt Weber nüchtern ins Mikrofon. Sie zieht Zwischenbilanz der bisherigen Herbstkirmes. Das Publikum habe sie „angenehm überrascht“. Bisher keine Krawalle. „Wir hoffen, dass wir im Frühjahr wieder bis 22 Uhr öffnen können. Uns bricht gerade die wichtigste Stunde weg. In der haben wir 30 Prozent des Umsatzes gemacht“, sagt Weber. Noch könne sich der Betrieb wirtschaftlich über Wasser halten. „Ich will das alles hier auch nicht aufgeben müssen“, sagt Weber. „Das ist mein Leben. Meine Existenz.“

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Jenny Weber betreibt den Autoscooter auf der Herbstkirmes

21.07 Uhr, Autoscooter: Alle Fahrgeschäfte stehen jetzt still, nur noch die Imbissbuden dürfen bis halb offen haben. „21 Uhr ist doch ein Witz für eine Großstadt wie Köln“, sagt Jenny Weber. „Ich würde mir wirklich von Herzen wünschen, dass Frau Reker mehr auf unserer Seite ist. Ich glaube auch, die Politiker sollten allesamt mal häufiger auf die Kirmes gehen. Mehr Volksnähe als hier gibt es doch gar nicht. Kirmes ist Lebensfreude. Hier trifft sich die Jugend zum feiern, flirten, ausgehen. Und um 21 Uhr müssen alle wieder nach Hause. Das macht mich einfach traurig.“

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Seit diesem Herbst muss die Deutzer Kirmes eine Stunde früher schließen - um 21 Uhr.

21.15 Uhr, Einsatzzentrale der Sicherheitsfirma: Ein paar Meter neben dem Riesenrad liegt die Einsatzzentrale des Sicherheitsdiensts AGSEC. Einsatzleiter Nico Siefen ist zufrieden mit dem Verlauf des Familientags: „Sehr ruhig, es war weniger los, als wir erwartet hatten.“ Polizeieinsatzleiter Norbert Dreimann schätzt die Auslastung des Geländes auf 70 bis 80 Prozent. „Die Tage zuvor war schon viel los, und vielleicht sitzt das Geld bei dem ein oder anderen ja zurzeit auch nicht mehr ganz so locker.“

Siefen und sein Team, das in der Spitze mit 50 Leuten auf dem Gelände und an den Straßensperren unterwegs war, hatten es vor allem wieder mit Fundsachen und Kindern zu tun, die vorübergehend ihre Eltern verloren hatten. „Sind aber alle wieder glücklich zu Hause“, bilanziert Siefen.

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Feierabend - während die letzten Besucher das Gelände verlassen, räumen die Schausteller bereits auf.

21.20 Uhr, „X-Force“: Fast alle Fahrgeschäfte liegen jetzt komplett im Dunkeln, nur bei „X-Force“ brennt noch Licht. Der Strom ist wieder da, die Gondeln wirbeln wieder – leer zwar, aber morgen dürfen auch die Gäste wieder einsteigen.

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