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16-jähriger Kölner nach Covid pflegebedürftig„Was ich gerne mache, schaffe ich schon lange nicht mehr“

Lesezeit 8 Minuten
Ed liegt in seinem Bett, er trägt eine Schlafmaske. Vor dem Bett steht ein Rollstuhl. An den Wänden kleben unzählige Bilder, Zeichnungen und Figuren.

Der 16-jährige Ed leidet seit seiner Corona-Erkrankung an Long Covid und dem chronischen Fatigue-Syndrom.

Seit sich Ed vor drei Jahren mit Corona ansteckte, leidet er zusätzlich an einer schweren Form von ME/CFS: Der 16-jährige Kölner ist pflegebedürftig.

Auf den ersten Blick sieht Eds abgedunkeltes Zimmer aus wie das eines typischen Teenagers: Bis zur Decke hat der 16-Jährige die Wände mit Bildern von Filmhelden und Computercharakteren beklebt. In seinen Regalen warten die Cosplay-Kostüme mit Perücken darauf, wieder getragen zu werden. Aber Ed wird sie vorerst nicht rausholen. Ed liegt im Pflegebett und spricht langsam: „Was ich gerne mache, schaffe ich schon lange nicht mehr. Ich liege eigentlich nur herum.“ Er lächelt verschlafen. „Ein Hörspiel kann ich noch hören. Manchmal gucke ich auch einen Film.“

Ed, 16 Jahre alt, Pflegegrad 3, leidet infolge seiner Corona-Infektion an Long Covid und einer besonders schweren Form von ME/CFS – dem chronischen Fatigue-Syndrom. Das bedeutet: Ed hat keine Energie mehr. Nicht zum Aufstehen, er kippt ja schon beim Sitzen weg. Nicht zum Lesen, nicht zum Zähneputzen, nicht zum Denken. Während seine früheren Klassenkameraden sich aufs Abitur vorbereiten, ihre ersten Partys schmeißen und sich zum ersten Mal verlieben, kocht Eds Mutter ihm die Möhren extra weich, damit er sie ohne allzu große Anstrengung kauen kann. Die Ärzte können bei Ed das chronische Fatigue-Syndrom zwar diagnostizieren. Eine wissenschaftlich anerkannte Behandlung empfehlen, können sie aber nicht.

Die Erkrankung, die nicht mehr verschwinden will

Drei Jahre zuvor. Ed ist ein besonders aktiver 13-Jähriger. Er tanzt im Karneval, spielt Querflöte, hilft als Messdiener bei Gottesdiensten und engagiert sich bei den Pfadfindern. An den Wochenenden wandert er mit seiner Familie durch die Eifel oder fährt Kajak. „Ich musste ihn immer bremsen“, sagt seine Mutter. „Damit er nicht zu viel macht.“ Vor den Ferien schleppt er stets tütenweise Bücher aus der Bibliothek nach Hause und verschwindet in der Welt zwischen dem Papier.

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Im Februar 2020 läuft Ed beim Kölner Karneval im Straßenzug mit und erkältet sich. Als aus der Erkältung eine beidseitige Lungenentzündung wird, fahren seine Eltern ihn in die Notaufnahme der Uniklinik. Die Lunge hört sich aber komisch an, sagen die Ärzte, wie bei einer Corona-Infektion. Testen lassen sie ihn trotzdem nicht. Später wird eine Blutuntersuchung zeigen, dass Ed sich tatsächlich als einer der ersten Menschen in Deutschland mit Covid-19 infiziert hatte.

Die Lunge erholt sich schon wieder, sagt die Mutter

Die Lungenentzündung ebbt ab, doch Ed bleibt geschwächt. Tagsüber schläft Ed nun ständig ein. Wenn ihn seine Mutter um etwas bittet, vergisst er es direkt, sie fängt an, ihm Erinnerungszettel zu schreiben. Ich kriege keine Luft, wenn ich nach oben in den zweiten Stock gehe, sagt er, mein Herz schlägt so schnell. Das kommt von der Lungenentzündung, sagt die Mutter, die Lunge erholt sich schon wieder.

Doch das tut sie nicht. Also zieht Ed vom zweiten in den ersten Stock. Von Long Covid weiß in Deutschland kaum jemand. Eds Mutter vereinbart einen Termin beim Lungenfacharzt. Wartezeit: Neun Monate.

Watte im Kopf

Während dieser Zeit entwickelt Ed Asthma. Ich habe keine Kraft mehr, sagt er zu seinen Eltern, ich kriege beim Sport keine Luft, irgendetwas stimmt nicht mit mir.

Der Lungenarzt verschreibt Ed Medikamente. Sie wirken nicht.

Mama, mir ist langweilig.

Lies doch ein Buch.

Das schaffe ich nicht mehr, Mama.

Aber das kann doch gar nicht sein.

Ed, der Einser-, Zweier und manchmal Dreier-Schüler, bringt jetzt Vieren und Fünfen nach Hause. Dann die erste Sechs. Ich lerne doch eigentlich gerne, beteuert er, aber es bleibt einfach nichts mehr im Kopf, es ist, als wäre da nur noch Watte. Seine Eltern organisieren Nachhilfestunden für ihren Sohn, die Kinderärztin schickt ihn zum Psychologen. Dieser diagnostiziert Ed eine massive Konzentrationsstörung. Im Krankenhaus erwägt eine Ärztin, Ed stationär aufzunehmen – auf der Kinderpsychiatrie.

Willst du nicht zur Schule, Ed?

Doch, das will ich. Aber immer, wenn ich dort bin, geht es mir anschließend richtig schlecht.

An manchen Tagen schafft es Ed nicht mehr, mit dem Fahrrad von der Schule zurück zu fahren. Sein Vater holt ihn dann ab, sieht ihn neben dem Rad auf dem Boden sitzen und stützt ihn bis zum Auto.

„Man darf in Deutschland nur Long Covid bekommen, wenn man über 18 ist“

Seine Eltern suchen verzweifelt nach einer Erklärung für den Zustand ihres Kindes, sie tingeln von einer Arztpraxis zur nächsten. Ed wird nun doch stationär in der Kinderklinik aufgenommen, eine Woche lang checken die Ärzte ihn durch, sie finden nichts. Eine Neurologin empfiehlt schließlich, Ed in einer Long Covid Ambulanz vorzustellen.

Im Herbst 2021 ruft Eds Mutter bei den damals einzigen Long Covid Ambulanzen für Kinder in Deutschland an, in München und in Jena. Beide Standorte sagen ab: Sie sind voll.

Eds Mutter telefoniert die Long Covid Ambulanzen für Erwachsene ab, doch fast alle lehnen ab. „Man darf in Deutschland nur Long Covid bekommen, wenn man über 18 ist“, sagt seine Mutter resigniert. Der Vater fügt hinzu: „Während der Pandemie wurden die Kinder dauernd von der Politik vergessen. Bei Long Covid auch.“

Als eine neurologische Long Covid Ambulanz in Köln eröffent, darf Ed, mittlerweile 15 Jahre alt,  endlich kommen. Die Ärztin diagnostiziert bei ihm das chronische Fatigue-Syndrom, ein klarer Fall. Es gibt keine Therapie, sagt die Ärztin, aber vielleicht könnte eine Reha gut tun.

Sie versuchen es. Doch als die Rentenkasse endlich dem Reha-Antrag zustimmt und eine Klinik ihn aufnehmen möchte, hat sich Eds Zustand drastisch verschlechtert. Er ist nicht mehr Reha-fähig.

Vor den Weihnachtsferien 2021 geht Ed ein letztes Mal zur Schule.

Ed ist auf Vollzeit-Pflege angewiesen

Selbst Comics lesen wird Ed zu anstrengend, auf neue Hörspiele kann er sich nicht mehr konzentrieren. Ed, der jede freie Minute hinter Buchseiten oder auf dem Trampolin verbracht hat, liegt mit einer Schlafmaske im Pflegebett, um seine Augen vor dem Tageslicht zu schützen. Im Haus der Familie Bock ist es leise geworden. Seine jüngeren Geschwister laden keine Freunde mehr ein, der Lärm strengt den großen Bruder nur an. Wenn ein Wanderwochenende in der Eifel ansteht, bleiben entweder die Mutter oder der Vater bei Ed, füttern ihn, helfen ihm zur Toilette, halten seine Hand, wenn die Atemnot ihm Angst macht. Eds Mutter hat ihren Beruf aufgegeben und pflegt nun Vollzeit ihr 16-jähriges Kind.

Die meisten seiner Freunde haben seine Krankheit nicht verstanden, sagen die Eltern. Der Kontakt brach ab. Ein paar sind geblieben. Sie schreiben ihm täglich, auch, wenn er nicht antwortet. Kommen vorbei, hören mit ihm Musik, reden für eine Weile mit ihm, gehen dann wieder. Manchmal gucken sie zusammen einen Film. Trotz allem, sagt sein Vater, ist Ed immer noch ein lebensfrohes Kind. Die Diagnose ME/CFS, die Bestätigung, dass er sich das alles nicht einbildet, habe ihn unheimlich erleichtert.

Blutwäsche könnte Antikörper aus dem Körper waschen

„Natürlich hat er trotzdem schlechte Tage“, sagt seine Mutter. „Dann fragt er mich: Wann kann ich endlich wieder aufstehen?“

Einige ME/CFS Patienten entwickeln Autoantikörper gegen die Adrenalinrezeptoren. Auch bei Ed fällt ein solcher Test positiv aus. Ein Arzt erzählt den Eltern von einer Blutwäsche, mit der diese Auto-Antikörper wieder aus dem Körper gewaschen werden könnten. Das Problem ist: Es gibt keine repräsentativen Studien zur Blutwäsche, nur kleinere Versuche mit 10 bis 20 Patienten. Bei einem Großteil dieser Patienten verbesserte die Behandlung ihren Zustand.

Für Eds Familie bedeutet die Blutwäsche einen Hoffnungsschimmer, wenn auch einen sehr teuren. Bis zu 20.000 Euro kostet die Therapie, die Krankenkasse will die Kosten nicht tragen, also werden Eds Eltern sie vermutlich selbst zahlen.

„Die Politik muss verstehen, dass ME/CFS in den nächsten Jahren ein großes Problem darstellen wird“

Wie behandelt man eine Krankheit wie ME/CFS, über die nur wenig bekannt ist? „Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage“, sagt Bhupesh Prusty. Der Virologe forscht bereits seit 2015 an der Uni Würzburg zum chronischen Fatigue-Syndrom. Ausgelöst wird es höchstwahrscheinlich durch Virus-Infektionen wie die Grippe und Corona. „Viele Patienten merken erst Wochen oder Monate nach der Infektion: Irgendetwas stimmt nicht mit mir.“ So wie bei Ed verschlimmern sich die Symptome häufig mit der Zeit.

Die Behandlung stellt die Wissenschaft derzeit noch vor Rätsel. Prusty und seine Kollegen forschen zu einem Herpes-Medikament, das auch gegen ME/CFS wirken könnte. In London arbeiten Wissenschaftler an einer Arznei, die die Autoantikörper im Blut angreift. „Ob das funktioniert, wissen wir noch nicht“, sagt Prusty. „Aber es ist einen Versuch wert.“ Eine Blutwäsche könne er persönlich noch nicht empfehlen, manche Forscher seien jedoch anderer Meinung.

Forschung wird durch Spenden finanziert

Einem wirklichen Durchbruch stehen noch einige Hindernisse im Weg, sagt Prusty. „Das erste Problem ist die Förderung. Die Forschung, die wir gerade machen, wird durch Spenden finanziert.“ Als zweiten Punkt nennt er den gesellschaftlichen Umgang mit der Krankheit. „Selbst viele Mediziner nehmen die Krankheit immer noch nicht richtig wahr und wissen nicht, wie sie Patienten behandeln müssen“, sagt Prusty und drängt: „Die Politik muss verstehen, dass ME/CFS in den nächsten Jahren ein großes Problem darstellen wird. Fast jeder Mensch wird sich mit Corona anstecken. Deshalb wird es auch sehr, sehr viele ME/CFS Patienten geben.“

In zwei Jahren werden Eds Mitschüler ihr Abitur machen. Für die Zeit danach hatte Ed eigentlich große Pläne: Er wollte Meeresbiologie studieren und vorher für ein Jahr nach Neuseeland fliegen, zum Reisen, Wandern, Abenteuer erleben. Seine Träume sind kleiner geworden. Aufgegeben hat er sie nicht. Falls das nun nicht mehr klappt, sagt Ed zu seiner Mutter, dann könne er vielleicht ja mal nach England. Eine Freundin hat Ed Fotos von dort geschickt. Und Eds Mutter verspricht: „Irgendwann fahren wir dort zusammen hin.“

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