Herberge bis zum FriedenWie Mutter und Sohn aus Charkiw mit Kölner Gastgebern Weihnachten feiern

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Svetlana Kiktieva und ihr Sohn Oleksij stehen zusammen mit ihren GastgebernMichael Znamencek und Gert van der Kwartel vor einem Adventskranz und Plätzchen in der Küche.

Svetlana und Oleksij Kiktieva aus Charkiw leben seit April bei Michael Znamenacek und Gert van der Kwartel in Köln.

Seit Anfang April leben Svetlana und Oleksij Kiktieva aus Charkiw in Köln. Sie sind vertraut und dankbar, traumatisiert, traurig und: hoffnungsvoll. Eine Weihnachtsgeschichte. 

In Charkiw gebe es gerade an vielleicht vier Stunden am Tag Strom, sagt Oleksij. In Köln leuchtet das geschmückte Weihnachtsbaumgestell, unter dem Geschenke liegen. Es ist warm, der Frühstückstisch ist reich gedeckt, im Wohnzimmer steht eine Tischtennisplatte, im Garten staksen Hühner durch einen Stall, der Frost hat nichts Bedrohliches.

Bei Gert van der Kwartel und Michael Znamenacek sind Svetlana und Oleksij Kiktieva in Sicherheit, sie fürchten nicht mehr um ihr Leben und sind dankbar dafür. Es sieht fast familiär aus, wie die vier am vorweihnachtlichen Tisch im Wohnzimmer des stilvoll eingerichteten Hauses sitzen, die Kerzen am Adventskranz brennen.

Olekesij fragt, wer noch einen Cappuccino möchte, Svetlana erzählt von ihrem Deutschkurs, jeden Tag vier Stunden, gerade habe sie eine Prüfung gemacht, es gehe voran. In Charkiw, sagt Olekesij und lacht, hätten sie immer einen richtigen Weihnachtsbaum gehabt. Eine große Fichte, sagt die Mutter.

Weihnachten feiert sie gleich zweimal 

Am Wochenende kochen und backen die vier, oft zusammen mit Michaels Eltern, die oben im Haus wohnen, manchmal gibt es ukrainische Gerichte wie Borsch und Wareniki, in den vergangenen Wochen haben sie Plätzchen gebacken, Weihnachten feiern sie gleich zweimal: An Heiligabend und am 7. Januar, weil sich die orthodoxe Kirche nach dem julianischen Kalender richtet und Svetlana und Oleksij immer am 7. Januar Weihnachten feiern. Bisher immer mit ihrer eigenen großen Familie in Charkiw, dieses Jahr mit einer fremden Familie in Köln.

Svetlana Kiktieva steht Arm in Arm mit ihrem Sohn Oleksij vor einem Weihnachtsbaumgestell, links daneben stehen ihre Gastgeber Michael Znamenacek und Gert van der Kwartel

Die Wohngemeinschaft vor dem Weihnachtsbaumimitat

Seit dem 8. April leben Svetlana und ihr 13-jähriger Sohn Oleksij bei Gert van der Kwartel und Michael Znamenacek in Buchheim. Die ersten Kriegstage haben die beiden in Charkiw im Bunker verbracht. Sie hörten, wie die Bomben einschlugen, erlebten mit jeder Faser und Synapse, wie mit den Raketeneinschlägen Angst und Chaos in der 2,7-Millionen-Einwohner-Stadt um sich griffen. Erfuhren, dass ihre Datscha getroffen und zerstört wurde.

Als sie von Krieg und Flucht erzählen, kommen ihnen die Tränen

Als Oleksij und Svetlana aus ihrer Heimat erzählen, von Krieg und Flucht, kommen ihnen die Tränen. Auch die Gastgeber sind berührt. „Wir haben schnell gemerkt, dass es den beiden zu viel war, zu berichten, was sie erlebt haben“, sagt Michael Znamenacek. „Wir haben das fast immer ausgeklammert.“

Dass sie seit einem dreiviertel Jahr wie Freunde in einer WG zusammenleben, sei „schön und schrecklich, bereichernd und paradox zugleich“. Michael Znamenacek (55) und Gert van der Kwartel (58) sind verheiratet. Sie haben gute Jobs und ein großzügiges Haus mit Garten, die Inflation muss ihnen keine Sorgen bereiten, ihnen fehlt es an nichts. „Es war uns deswegen nach Ausbruch des Krieges schnell klar, dass wir Menschen aufnehmen möchten“, sagt Michael.

„So spürt man viel unmittelbarer zu helfen als einfach Geld zu spenden“, sagt van der Kwartel. Die Flüchtlingskrise 2015 habe sie hilflos gemacht, einige der Geflüchteten waren in einer Turnhalle gleich nebenan untergebracht. Znamenacek war hingegangen und hatte versucht, beim Deutschunterricht zu helfen. Junge Syrer aufzunehmen, das wäre für sie, ein verheiratetes homosexuelles Paar, nicht denkbar gewesen.

Kölner räumten eigenes Schlafzimmer und zogen ins Arbeitszimmer

Im Frühjahr 2022 räumten sie ihr eigenes Schlafzimmer unten und zogen in ihr Arbeitszimmer, damit Svetlana und Oleksij Kiktieva einen Bereich für sich haben. In den ersten Wochen hätten sie sich „nur mit den Fingern unterhalten“, sagt Oleksij. „Und mit dem Translator“. Michael Znamenacek und Gert van der Kwartel zeigten ihnen Köln, Oleksij wunderte sich, dass die S-Bahnen viel kürzer sind als in Charkiw, die Straßen enger, die City kleiner.

Direkt nach den Osterferien ging Oleksij in die Schule, in der Ferdinand-Lasalle-Realschule in Mülheim gibt es eine Klasse für ukrainische Geflüchtete, jeden Freitag kommt bis heute eine Psychotherapeutin aus Donezk, die mit den Jugendlichen aus Mariupol und Irpin, Butscha und Charkiw spricht – und mit deren Müttern. „Es ist gut, dass wir reden können mit ihr“, sagt Oleksij. Auch die ukrainischen Lehrerin Mariya Kautz, deren Arbeit seit der Invasion der russischen Armee in ihrem Heimatland nach der Schule nicht aufhört, ist zu einer Vertrauensperson geworden.

Oleksij spielt Fußball in einem Verein in Buchheim. Auch sein älterer Bruder, der Diabetes hat und deswegen die Ukraine verlassen durfte, lebt mit seiner Freundin inzwischen in der Nähe. „Es ist bewundernswert, wie solidarisch Menschen geholfen wird, wie Netzwerke in der ukrainischen Community und auch zusammen mit den Kölner Nachbarn funktionieren“, sagt Michael Znamenacek.

Olekseij und Michael Znamenacek stehen auf einer Seite einer Tischtennisplatte, beide schlagen Bälle auf die andere Seite.

Olekseij und Michael Znamenacek spielen oft im Wohnzimmer Tischtennis.

Ein Arbeitskollege von ihm kannte zufällig eine Bekannte von Svetlana Kiktieva, so kam der Kontakt zustande. Freunde von ihnen hatten da schon Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen und gute Erfahrungen gemacht. „Wir haben überlegt, was wir machen, wenn Traumata aufbrechen, wir wollten nicht naiv sein“, sagt Michael. „Aber wir wollten als Gastgeber da sein und einen möglichst unmittelbaren Bezug bekommen – auch zu all dem Leid, das gerade sehr viele Menschen erfahren.“

Das Vertrauen sei sofort dagewesen. Wenige Wochen nach der Ankunft von Mutter und Sohn fuhren die Kölner in Urlaub. „In dem guten Gefühl, dass mit Oleksij jetzt immer jemand auf unser Sofa aufpasst.“

Wenn wir darüber nachdenken, warum sie bei uns sind, wäre uns allen lieber, sie müssten nicht hier sein
Michael Znamenacek

Svetlana und Oleksij Kiktieva sind ständig in Kontakt mit der Ukraine.  Oleksijs Vater ist in eine kleine Stadt geflohen, die Großeltern sind in Charkiw geblieben, seine Freunde: in Kanada, Australien, Polen, Tschechien, Deutschland. Manchmal erzählt die Mutter am Esstisch von neuen Raketeneinschlägen oder Angriffen auf die Strom- und Wasserversorgung. Das ist einfacher, als über die eigenen Erlebnisse zu sprechen.

Manchmal fragt sie ihre neuen Freunde, wie lange sie mit Oleksij noch bleiben dürfe. „Solange ihr möchtet und solange wie es nötig ist“, sagen die Kölner Gastgeber dann. „Olkeksij und Svetlana machen unser Leben reicher“, sagen sie. „Aber wenn wir darüber nachdenken, warum sie bei uns sind, wäre uns allen lieber, sie müssten nicht hier sein.“

„Wir hoffen, dass die Menschen gut sein werden“

Vorläufig werden Svetlana und Oleksij Kiktieva weiter bei Gert van der Kwartel und Michael Znamenacek in Buchheim leben. Sie werden zusammen Weihnachten feiern und Silvester, vertraut und traurig zugleich. Wie lange noch, liegt nicht in ihrer Hand. „Wir hoffen, dass die Menschen gut sein werden“, sagt Svetlana in bemerkenswerter Grammatik und Zeitform. Die Hoffnung, sie liegt in der Zukunft.

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