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279 Fälle in elf Jahren:So können Betroffene anonym Spuren nach einer Vergewaltigung sichern lassen

Lesezeit 6 Minuten
Das Bild zeigt eine Montage aus dem Logo zum „Orange Day“, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Im Hintergrund sind diverse Frauenporträts zu sehen.

Frauen können in Köln nach einer Vergewaltigung die Spuren der Tat anonym sichern lassen.

Nach einer Vergewaltigung ist es für viele Betroffene in der akuten Belastungssituation fast unmöglich, direkt über eine Anzeige nachzudenken. Mit der Anonymen Spurensicherung (ASS) gibt es in Köln eine andere Option.

Mila ist 22 Jahre alt. Seit ein paar Monaten hat sie einen Freund, Marius. Mila will es langsam angehen lassen, es ist ihre erste ernsthafte Beziehung. Aber Marius macht Druck. Er will endlich mit ihr schlafen. An dem Abend, an dem sie drei Monate zusammen sind, passiert es. Mila hat Nein gesagt, sich noch gewehrt. Aber Marius hat es ignoriert. Anschließend ist Mila in Schockstarre. Ist sie gerade wirklich vergewaltigt worden? Und was soll sie jetzt tun?

Zwei Drittel aller Täter kommen aus dem sozialen Umfeld des Opfers

Die Geschichte von Mila und Marius ist erfunden. Schicksale wie das von Mila sind in Deutschland, auch in Köln, allerdings traurige Realität. „Bei Vergewaltigungen kommt der Täter in zwei Drittel aller Fälle aus dem sozialen Nahbereich“, sagt Irmgard Kopetzky vom Kölner Verein „Frauen gegen Gewalt“. „Dann stellt sich natürlich noch einmal besonders die Frage: Wie gehe ich jetzt damit um?“

Für diese Situation, wie für jede Vergewaltigung in Köln, gibt es ein Angebot, das selbst elf Jahre nach seiner Einführung nur wenige kennen: die Anonyme Spurensicherung (ASS) nach Sexualstraftaten. Die ASS bietet Betroffenen kostenlos die Möglichkeit, nach einer Vergewaltigung Spuren sichern und aufbewahren zu lassen - anonym, und ohne, dass dafür bei der Polizei direkt eine Anzeige gestellt werden muss.

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Angebot für Männer im Krankenhaus im Weyertal

Im Sommer 2011 startete das Projekt. Gemeinsam mit der Rechtsmedizin der Uniklinik Köln entwickelte man ein Verfahren, das es erwachsenen Opfern ermöglicht, auch mit Abstand zur Tat noch rechtliche Schritte einzuleiten – und dafür nicht auf Spuren verzichten zu müssen. Für die Spurensicherung können die Betroffenen in Köln sechs verschiedene Kliniken ansteuern: rechtsrheinisch die Frauenklinik im Krankenhaus Holweide, das Evangelische Krankenhaus in Kalk und das Krankenhaus in Porz; linksrheinisch die Uniklinik, das Krankenhaus im Weyertal und das Heilig-Geist-Krankenhaus in Longerich.

Seit der Einführung der ASS haben bis Ende des vergangenen Jahres 279 Menschen von dem Angebot Gebraucht gemacht, 278 Frauen und ein Mann. In der Chirurgie des Weyertals gibt es die Möglichkeit der ASS für Männer. Von den 279 Fällen „wurde in etwas mehr als zehn Prozent im Nachhinein Anzeige erstattet“, so Kopetzky. „Rund drei Viertel aller Hilfesuchenden stammen aus der Altersgruppe bis 30 Jahre, knapp 22 Prozent sind in die Altersgruppe 31 bis 50 Jahre einzuordnen, es gibt aber auch einige Fälle älterer Jahrgänge – bis hinauf zu 80 Jahren.“ Sollte sich also Mila nach der Tat dafür entscheiden, ins Krankenhaus zu gehen, könnte sie auf Iris Wimber treffen.

Diese Spuren werden bei der Untersuchung gesichert

Wimber ist Oberärztin in Holweide. In ihrer Frauenklinik steht rund um die Uhr ein Team aus geschulten Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung, das die Patientin bei Hinweisen auf ein Gewaltdelikt über die Möglichkeit der ASS informiert und aufklärt, sollte eine Anzeige vorerst nicht in Betracht kommen. Vom medizinischen Personal werden mithilfe eines Untersuchungskits und eines Dokumentationsbogens die möglichen Spuren der Tat gesichert. „Der Untersuchungsablauf ist dabei eng mit dem Tathergang verknüpft und im Vorfeld mit der Patientin abgestimmt. So können zum Beispiel Kratzspuren und Blutergüsse dokumentiert, Abstriche verschiedener Körperbereiche entnommen und Kleidungsstücke asserviert werden. Sind K.o.-Tropfen im Spiel werden zusätzlich Urin- und Blutproben gewonnen“, erklärt Wimber.

Unabhängig von der Spurensicherung können die Patientinnen in der Klinik versorgt und gegebenenfalls stationär aufgenommen werden. Die ASS gibt Mila ausreichend Bedenkzeit um zu überlegen, ob sie rechtliche Schritte gegen Marius einleiten will. „Eine potenzielle Anzeige, die mit einer erneuten Konfrontation mit dem Erlebten einhergeht, scheint oft im direkten Zusammenhang mit der Tat undenkbar“, sagt Wimber. Bei der ASS erhält die Patientin, in dem Fall Mila, eine Chiffrenummer, unter der ihre Spuren später auffindbar sind. Ihr Name ist auf dem versiegelten Umschlag mit den Proben nicht vermerkt. Die Spuren werden dann an die Rechtsmedizin der Uniklinik Köln übergeben.

„Den Frauen wird der Boden unter den Füßen weggezogen“

Dort arbeitet Sibylle Banaschak. „Wenn Spuren gesichert werden, müssen wir die Proben lagern. Das geht in Krankenhäusern nicht. Krankenhäuser haben dafür keine gesicherten Räume und kein Prozedere, wie sie mit solchen Spuren umgehen können. Sowohl der Verlust als auch der Kontakt mit Fremd-DNA, die nichts mit der Probe zu tun hat, muss ausgeschlossen werden können. Die Rechtsmedizin ist dafür der richtige Ort. Es ist unser täglich Brot, mit unterschiedlichen Materialien für Strafverfahren umzugehen“, erklärt sie. Die primäre Aufgabe der Rechtsmedizin bei der ASS bestehe darin, die Proben einzulagern, über einen Zeitraum von zehn Jahren.

„Erst, wenn eine Anzeige erstattet wird und die Staatsanwaltschaft unser Institut beauftragt, untersuchen wir die Proben“, sagt Banaschak. „Ob wir an den Spuren überhaupt Fremd-DNA finden, wissen wir vorher nicht. Aber ohne die Proben haben wir auch nicht die Möglichkeit, es herauszufinden.“ Zur psychologischen Unterstützung kann Mila sich an vier Beratungsstellen (siehe Infokasten) wenden. „Wir machen Stabilisierungsarbeit, bieten einen Raum zu sprechen, vermitteln Methoden bei Panikattacken, Albträumen, Flashbacks“, sagt Irmgard Kopetzky. „Die Frauen fühlen sich, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen.“

Vergewaltigungen finden immer statt - auch abseits der Skandalfälle

Mithilfe einer Rechtsberatung kann Mila außerdem mit einer Anwältin die nächsten Schritte besprechen, sollte sie Anzeige stellen wollen. Das erfolgt meist in den ersten Monaten nach der Tat. Wenn Mila zur Kriminalpolizei geht, bringt sie ihre Chiffrenummer mit. Für ein Verfahren kann die Staatsanwaltschaft die Rechtsmedizin dann damit beauftragen, die Proben zu untersuchen. Sollte es zu einem Prozess kommen, kann Mila außerdem die Ärztin oder den Arzt aus der Frauenklinik von der Schweigepflicht entbinden und vor Gericht aussagen lassen. Durch die gesicherten Spuren erhöhen sich für Mila die Chancen, dass Marius verurteilt werden kann.

„Für mich hat die Anonyme Spurensicherung zwei Aspekte“, sagt Rechtsmedizinerin Banaschak. „Erstens: Für den Einzelfall ist es einfach notwendig. Der Druck für die Betroffene, sich schon in der Nacht zu entscheiden, ob sie Anzeige erstatten will, ist in der Situation überhaupt nicht hilfreich. Deshalb ist es wichtig, die Anlaufstelle zu haben. Zweitens: Durch die Öffentlichkeitsarbeit bleibt das Thema im Gespräch. Das Angebot vorzustellen heißt, dass diese Taten stattfinden, und zwar immer, auch abseits der Skandalfälle. Es gibt aber auch immer dieses Angebot dazu.“

Beratungsangebote Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen – Frauen gegen Gewalt e.V. Herwarthstr. 10 • 50672 Köln • Tel. (0221) 562035 mailbox@notruf-koeln.de • www.notruf-koeln.de Frauenberatungsstelle FrauenLeben e.V. Venloer Str. 405-407 • 50825 Köln Tel.: (0221) 95416-60 oder -61 mail@frauenleben.org • www.frauenleben.org LOBBY FÜR MÄDCHEN e.V. Fridolinstr. 14 • 50823 Köln • www.lobby-fuer-maedchen.de linksrheinisch: Tel. (0221) 45355650 rechtsrheinisch: Tel. (0221) 8905547 Evangelische Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Erstanlaufstelle für betroffene Männer) Tunisstr. 3 • 50667 Köln • Tel. (0221) 2577461

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