Meistgelesen 2022So lebt die Familie der Getöteten mit der Trauer nach dem Doppelmord in Niehl

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Die 24 Jahre alte Derya und ihr vierjähriger Sohn Kian schauen fröhlich in die Kamera.

Derya (24) und ihr Sohn Kian (4) wurden vor einem Jahr in Köln ermordet.

Die 24-jährige Studentin Derya und ihr Sohn Kian wurden vor einem Jahr in Köln ermordet – von Kians Vater. Jetzt erzählt Deryas Vater vom Leben der beiden, und wie es ist, ohne sie zurechtkommen zu müssen. Dieser Text ist zuerst am 24. November 2022 erschienen.

Der 14. November 2021 ist ein Sonntag. Es ist 19 Uhr, als sich Ersin Seyhun von seiner Tochter Derya verabschiedet. Die beiden leben mit Deryas Sohn Kian und ihrer Schwester in einer gemeinsamen Wohnung in Köln-Kalk. Der 56-jährige alleinerziehende Vater ist an diesem Abend mit Freunden zum Steak-Essen verabredet. „Alter Mann, trink nicht so viel“, flachst Derya noch. Es ist das letzte, das Ersin Seyhun von seiner Tochter hört. Vier Stunden später sind Derya und Kian tot.

Das außergewöhnlich brutale Verbrechen an der 24-jährigen Studentin und ihrem vier Jahre alten Sohn vor einem Jahr hat zahlreiche Menschen in Köln erschüttert. Hunderte strömten zur Beerdigung nach Chorweiler.

Es gab eine Kundgebung und einen Trauermarsch durch die Innenstadt, Gedenkveranstaltungen am Tatort in Niehl, eine Gedenkbaum-Pflanzaktion vor Kians Kita – und Tumulte im Gerichtssaal während der Verhandlung gegen Anil G., den Täter. Ein alter Schulfreund von Derya und der Vater von Kian. Vor etwas mehr als zwei Monaten wurde Anil G. wegen des Doppelmords zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Anil G. soll erst ein paar Monate zuvor erfahren haben, dass er Vater ist

Ersin Seyhun, der seine Tochter und seinen Enkelsohn verloren hat und der seitdem Medikamente nimmt, um einigermaßen durch den Tag zu kommen, will nicht viel über diesen Mann sprechen. Er verstehe nicht, was in dem 25-Jährigen vorgegangen sei, sagt Seyhun.

Wie auch? Wer begreift schon, was einen Menschen dazu treibt, seine ehemalige Freundin vor den Augen seines eigenen Kindes mit zahlreichen Messerstichen zu töten, dann den Jungen zu erstechen und beide Leichen in den Rhein zu werfen. Weil Derya Unterhalt von ihm forderte. Weil er fürchtete, seine Eltern und seine Verlobte könnten von dem Kind erfahren. Derya soll Anil G. erst ein paar Monate vor der Tat mitgeteilt haben, dass er der Vater sei.

Alles hier steckt voller Erinnerungen an die beiden
Ersin Seyhun

Ersin Seyhun sitzt am Küchentisch der Wohnung, durch die bis vor einem Jahr noch Kian tobte und mit seinen Dinosauriern spielte. In der Derya für ihr Lehramtsstudium lernte, für die Familie kochte und alle gemeinsam lachten, stritten und ihre Urlaube planten. „Alles hier steckt voller Erinnerungen an die beiden“, sagt Seyhun.

Sogar das Piepen des Kühlschranks, wenn die Tür zu lange offen steht. „Kian hat oft davor gestanden und nach irgendwas gesucht.“ Ein Team seien die vier gewesen, erzählt der 56-Jährige. Eine Wohngemeinschaft. Vater, Opa, Töchter, Enkel, Buddys und Freunde – alles zugleich. „Wir waren eine Einheit.“ Dabei waren die Zeiten nicht immer leicht.

Derya war 19, als sie schwanger wurde. Doch sie behielt es für sich, bis zum Schluss. Er habe zwar etwas geahnt und Fragen gestellt, sagt Ersin Seyhun, aber Derya habe ihn immer nur beruhigt: „Alles in Ordnung, Papa.“ Ihren Vater informierte sie erst kurz nach der Entbindung, sie rief ihn aus dem Krankenhaus an und eröffnete das Gespräch mit einem Satz, der eigentlich sein eigener Leitspruch war: „Es gibt Dinge, Papa, die gibt es eigentlich nicht, aber es gibt sie doch manchmal.“

Mit dem Vater ihres Kindes, Anil G., verband die 24-Jährige eine lange Freundschaft, aber nur eine kurze intime Beziehung. Derya, so sagt es Ersin Seyhun, habe die Schwangerschaft verheimlicht, um unangenehmen Fragen und Ratschlägen aus dem Weg zu gehen: Wer ist der Vater? Wo ist der Vater? Treib doch ab! Stattdessen entschied sie sich, Kian alleine groß zu ziehen.

Sie hatte viele Freunde, war hilfsbereit - eine Frau in der Blüte ihres Lebens.
Staatsanwalt im Prozess

Eine alleinerziehende Mutter sei in Teilen der türkischen Gesellschaft oft noch verpönt, sagt Ersin Seyhun. „Aber für mich galten diese Klischees nicht.“ Er habe zwei Möglichkeiten gehabt: „Entweder ich sage meiner Tochter: Ich kann damit nicht leben. Oder ich halte zu ihr, egal was die Leute sagen. Ich habe mich für das Zweite entscheiden.“

Als stark und selbstbewusst bezeichnete der Staatsanwalt Derya Seyhun im Prozess. „Sie hatte viele Freunde, war hilfsbereit - eine Frau in der Blüte ihres Lebens.“ Aufopfernd habe sie sich um ihren Sohn gekümmert. Der vierjährige Kian sei fröhlich, neugierig und intelligent gewesen.

„Ihr Lachen war ansteckend. Sie war die liebevollste und herzlichste Person, die es gibt. Sie war der Inbegriff einer modernen, aufgeschlossenen Mutter, und Kian war ihr Abbild“, drückt es Deryas beste Freundin aus.

Der 14. November 2022 ist ein Montag. Als es dunkel wird am Niehler Hafen, hier, wo vor genau einem Jahr die Leben von Derya und Kian so brutal beendet wurden und wo nun ein Fahrrad an die beiden erinnert, haben sich hundert Freundinnen und Angehörige versammelt, Kinder und Erwachsene. Sie gedenken der Getöteten.

Von Hass oder Rachegedanken keine Spur. „Wir könnten jetzt alle böse werden über das, was passiert ist. Aber damit machen wir es auch nicht rückgängig“, sagte Ersin Seyhun. „Lasst uns die beiden lieber in unser Lachen einbeziehen, lasst uns fröhlich sein, wenn wir an sie denken.“

Von seinem Balkon schaut Ersin Seyhun auf den Spielplatz, auf dem Derya und Kian fast täglich waren. Mutter und Sohn seien oft im Grünen gewesen, hätten Äste, Kastanien und Steine gesammelt, die sie bunt anmalten. Ein paar davon liegen jetzt auf dem Balkon.

Der 56-Jährige vermisst das Morgenritual mit Kian. Der kroch nach dem Aufwachen zu seinem Opa ins Bett, sie schauten eine Folge „Paw Patrol“, dann frühstückten alle gemeinsam. Seyhuns Routine sieht heute anders aus. Nach dem Aufstehen stellt er sich ans geöffnete Fenster, atmet tief ein, macht Dehnübungen. Das soll seine Achtsamkeit fördern, er hat das in einer psychologischen Tagesklinik gelernt, wo man ihm half, mit seiner Trauer umzugehen.

Das Grab seiner Tochter und seines Enkels besucht er fast jeden Sonntag. Er sei nicht besonders gläubig, sagt er. „Viele erzählen mir, Derya und Kian seien jetzt an einem wunderschönen Ort.“ Aber Ersin Seyhun ist skeptisch. „Für mich ist dieser wunderschöne Ort ein bisschen unvorstellbar.“

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