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Star-Analytiker in KölnOtto Kernberg (97): „Trump wird die USA in die Diktatur führen“

8 min
Psychotherapeut Otto Kernberg (97)

Otto Kernberg (97) ist der wohl wichtigste Forscher zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. 

Hitler, Putin, Trump – Kernberg sprach in Köln über narzisstische Persönlichkeiten mit großem Einfluss. Ein Tag mit einer 97-jährigen Lichtgestalt. 

Was Trump mit Hitler und Putin gemein hat, weiß niemand besser als ein schmaler, 97-jähriger Mann, der am Mittwochmorgen am Rollator durch eine Turnhalle des Porzer Alexianer-Krankenhauses trippelt. Otto Friedmann Kernberg war neun, als er 1938 mit der Masse auf dem Wiener Heldenplatz „Heil Hitler!“ schrie, weil er nichts wusste. Zwei Jahre später flüchtete seine jüdische Familie mit dem letzten Schiff von Genua aus vor den Nazis nach Chile. Die meisten Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Heute weiß niemand mehr über narzisstische Persönlichkeitsstörungen als Otto Kernberg.  

Kernberg hat am Mittwochmorgen beim Therapieforum der Alexianer in Porz seine Frau Kay und seinen Freund Manfred Lütz im Schlepptau. Am Vortag hat er einen sechsstündigen Workshop und zwei lange Interviews gegeben, heute wird sein Kurs mit rund 60 Psychotherapeuten dreieinhalb Stunden dauern, sein Arbeitstag neun. „Wenn man unterrichtet oder einen Vortrag hält, hat man das Gefühl, eine Stunde sind fünf Minuten, als Zuhörer denkt man manchmal, es sind drei Stunden – es könnte also heute ermüdend für Sie werden und nicht für mich“, sagt er zur Begrüßung mit Wiener Akzent.

Kernberg war neun, als Adolf Hitler 1938 auf dem Wiener Heldenplatz Einzug hielt und schrie „Heil Hitler!“

Otto Kernberg war vier oder fünf, als er eine Essstörung entwickelte. Sein Vater habe damals auf dem Tisch tanzen müssen, um ihn zum Essen zu bewegen, erzählte er Manfred Lütz vor fünf Jahren für das Buch „Hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?“ Als Kind wusste er nicht, dass die Nazis die Juden perfide verantwortlich machten für das Übel der Welt und sie auslöschen wollten. Im Exil dauerte es viele Jahre, „bis man eine Übersicht gewinnen konnte, um zu verstehen, wie es möglich war, dass man durch eine bestimmte Erziehung, Ideologisierung und eine prinzipielle Entmenschlichung dazu  kommen konnte, ein ganzes Volk umzubringen“, sagt Kernberg in dem Buch.

Die Erfahrungen aus 97 Jahren sind in seine Forschung eingeflossen. Es ist eine Ironie seiner Geschichte, dass erst Trump Otto Kernberg weltbekannt gemacht hat. Trump, befürchtet er,  „wird die Vereinigten Staaten in die Diktatur führen, wenn er nicht gestoppt wird“.

Die helle Freundlichkeit wird bis 18 Uhr nicht aus seinem Gesicht weichen. Obwohl es vor allem um bösartigen Narzissmus gehen wird, um Neid, Hass und Massenmord, um Hitler, Putin, Trump und die Frage, ob es noch eine Chance für die liberale Demokratie gibt. (Für die USA sieht Kernberg eher schwarz, dazu später mehr).  Am Vormittag referiert Kernberg für die Fachleute, am Nachmittag hält er einen Vortrag über „Problematische Persönlichkeiten als Herrscher der Welt“, danach beantwortet er noch eineinhalb Stunden Fragen von Journalisten – die auf Zettel geschrieben werden, weil Kernberg fast taub ist.

29.10.2025 Köln. Feature über	
Feature über Psychotherapeut Otto Kernberg (97). Foto: Alexander Schwaiger

Otto Kernberg (97) kam mit seiner Frau Kay (l.) nach Köln. Eingeladen hatte ihn der langjährige Leiter des Alexianer-Krankenhauses Manfred Lütz (r.), der mit Kernberg vor fünf Jahren ein Gesprächsbuch veröffentlicht hat.

Während des Workshops sind die Elefanten im Raum, werden aber nicht benannt. Kernberg referiert im Neonlicht der Turnhalle über zwei Formen des krankhaften Narzissmus – die eine, unschuldige, zeichne sich dadurch aus, dass die Betroffenen „in der Selbstliebe der Kindheit stecken geblieben“ seien und immer noch ständig zeigen wollen, wie besonders toll sie sind. Kernberg geht es vor allem um die zweite Form, die schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung. Sie zeige sich in Neid und Abwertung anderer, Rücksichtslosigkeit, Gier und Aggression. „Betroffene sind überzeugt von der eigenen Großartigkeit, meist beziehungsunfähig, sie können nicht lieben und trauern, oft sind sie misstrauisch und paranoid und können sehr gut manipulieren.“ Leider, sagt Kernberg, fänden sich solche bösartigen Narzissten oft in Führungspositionen wieder, auch in der Politik.

Um lange gesund zu bleiben, braucht es vor allem um eine als sinnvoll empfundene Arbeit, Liebe und Sexualität, soziales Leben und Kreativität
Otto Kernberg (97)

„Er ist einfach die größte Koryphäe im Bereich narzisstischer Persönlichkeitsforschung“, sagt in der Pause eine Therapeutin, die keinen der neun Besuche von Kernberg bei den Alexianern verpasst hat und wegen ihm auch in die USA gereist ist. Die Frau zeigt Bilder auf ihrem Handy. „Schauen Sie, wir machen alle zwei Jahre das gleiche Selfie: Wir werden alle älter, nur Herr Kernberg nicht.“ Man will ihr widersprechen, aber: es stimmt. Eine andere Psychiaterin zählt so begeistert Kernbergs Standardwerke auf, wie andere von gutem Essen oder Traumstränden erzählen: „Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus“, „Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse“,  „Schwere Persönlichkeitsstörung“, „Liebesbeziehungen: Normalität und Pathologie“. Letzteres lässt sie sich signieren. Kernberg lächelt und nickt.

Als er von einem Gast gefragt wird, was wichtig sei, um lange gesund zu bleiben, sagt Otto Kernberg, es gehe „vor allem um eine als sinnvoll empfundene Arbeit, Liebe und Sexualität, soziales Leben und Kreativität“. Oder, mit einem Satz: „Man muss Spaß haben am Leben.“

Geduldig beantwortet er in der Pause Fragen des „Kölner Stadt-Anzeiger“, gezeigt in großer Schrift auf dem Handydisplay: die wichtigsten Faktoren für die Entwicklung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen? „Die Zerstörung von Familienstrukturen. Eltern, die unfähig sind, ihre Kinder zu lieben.“ Begünstigen Kriege und andere Krisen die Ausbildung von psychischen Krankheiten? „Das ist zu vermuten. Exakte Daten gibt es dazu leider nicht.“

Warum es so viele Führungskräfte gebe, die krankhaft narzisstisch sind? „Sie drängen stark dorthin und werden nicht gestoppt. Dabei wäre es ein leichtes: Jedes Unternehmen kennt Auswahlsysteme und die Kriterien, die wichtig sind.“ Welche das sind? „Führungskräfte müssen die richtigen langfristigen Entscheidungen treffen können. Nicht so naiv sein, zu glauben, dass jeder einen liebt, und nicht so paranoid, zu glauben, dass alle einen hassen. Intelligent und moralisch integer, genug selbstliebend, um sich zu behaupten.“

Alle von uns haben die Fähigkeit, primitiver zu handeln, als wir uns das vorstellen können
Otto Kernberg

Um 14 Uhr füllt sich die Turnhalle mit Kernberg-Jüngerinnen. Die Mehrheit sind Frauen, im Workshop waren es gut 80 Prozent. Viele müssen stehen. Als der Analytiker Richtung Podium trippelt, tost Applaus, in den ersten Reihen stehen die Menschen auf. Es geht jetzt um narzisstische Persönlichkeiten, die die Welt beherrschen, Kernberg spricht von „regressiven Gruppen, die sich von selbstherrlichen Führern manipulieren lassen“, vor allem in gesellschaftlichen Krisen. „Alle von uns haben die Fähigkeit, primitiver zu handeln, als wir uns das vorstellen können“, sagt er. „Politische Ideologien, die unter normalen Bedingungen als extrem erscheinen, werden in Krisen mehrheitsfähig.“

In Wien befahl ein SA-Mann seiner Mutter, den Bürgerteig zu waschen. Eine Menschenmenge verspottete sie.

In Wien hatte ein sadistischer SA-Mann seiner Mutter 1938 befohlen, den Bürgersteig zu waschen. Sie hatte es getan, während eine Menschentraube sich um sie versammelte und sie verspottete. Otto Kernberg hatte daneben gestanden. Dass die Menge sich mit dem SA-Mann identifiziert hatte und es als Spaß verstand, dass eine Jüdin herabgewürdigt wird, grub sich ein. Das Mitmachen, ohne Unrechtsbewusstsein und Moral. 

Hitler und Stalin nennt Kernberg „Prototypen des bösartigen Narzissmus“. Das Gleiche gelte „heute für die Diktatoren in den Vereinigten Staaten und in Russland. Trump und Putin zeigen bei allen Unterschieden dieselben Züge der Großartigkeit“. Er habe Trump und Putin nie behandelt und werde deswegen keine Diagnose über sie abgeben, doch auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zeigten sich die Symptome deutlich.

Hitler und Stalin, Putin und Trump sind für Kernberg bösartige narzisstische Persönlichkeiten

Vergleiche scheut Kernberg nicht. Putin lasse seine Gegner ermorden und vergiften, immerhin das tue Trump noch nicht. Als Diktator komme er dennoch daher. „Er ist kein Präsident der Vereinigten Staaten, er ist der Präsident seiner Anhänger“, sagt er. „Er wird die USA in die Diktatur führen, wenn er nicht gestoppt wird.“ Dass Trump Putin sympathisch finde und dessen vermeintliche Stärke bewundere, liege „im Naturell solcher narzisstischen Persönlichkeiten“.

29.10.2025 Köln. Feature über	
Feature über Psychotherapeut Otto Kernberg (97). Foto: Alexander Schwaiger

Standing-Ovations für den Star-Analytiker

Als die Sonne untergeht und die letzten Selfies mit den Fans gemacht sind, kommen die Journalisten-Fragen. Es geht jetzt noch fokussierter um Trump und den Aufstieg narzisstischer Herrscher. Ob deutsche Medien zu leichtfertig mit Hitler-Trump-Vergleichen seien? „Das finde ich, soweit ich das verfolge, nicht“, sagt Kernberg. „In ihrem Gefühl der eigenen Großartigkeit sind sie durchaus vergleichbar.“ Wie die US-Demokratie noch zu retten sei? „Es braucht eine aggressive Form der Opposition. Die demokratische Partei ist bislang unfähig, sie zu zeigen. Ich wundere mich, dass die demokratischen Senatoren nicht aufstehen und sich wehren. Die Geschichte hat gezeigt, dass man sich wehren muss.“

Teenager sprechen über nichts anderes als über Paarbeziehungen. Aber bekommen sie in der Schule beigebracht, was Liebe bedeuten kann?
Otto Kernberg

Typen wie den im Lager vergifteten russischen Regimegegner Alexej Nawalny brauche es dringender denn je – „starke Charaktere, die sich furchtlos und intelligent den Diktatoren entgegenstellen“. Wie ein Mensch mit so gewaltigen Charakterdefiziten wie Trump überhaupt an die Macht kommen konnte? „Die Politik in den USA hat sich in den vergangenen 20 Jahren vor allem Einwanderern, Schwarzen und Benachteiligten zugewendet, die Landbevölkerung und die weiße Mittelschicht fühlten sich vernachlässigt.“ Das habe Trump genutzt, „um sich als Führer das traditionellen Amerika zu inszenieren und die Gesellschaft zu spalten“.

Otto Kernberg (97) hat sein Arbeitspensum auf 50 Stunden in der Woche reduziert

Lassen sich manipulierte Gruppen eigentlich heilen, Herr Kernberg? Zum einen brauche es dafür intelligente, rationale Persönlichkeiten in der Gruppe, die mit ihren Gegenargumenten überzeugen. „Vor allem aber ist Aufklärung darüber notwendig, wie Manipulation überhaupt funktioniert, in Schulen, Parteien, Verbänden, Privatorganisationen. Das findet leider kaum statt.“ So ähnlich sei es übrigens mit der Liebe.  „Teenager sprechen über nichts anderes als über Paarbeziehungen. Aber bekommen sie in der Schule beigebracht, was Liebe bedeuten kann, um fähig zu sein für Intimität und eine freie, beglückende Sexualität? Leider nicht.“

Der 97-jährige Otto Kernberg, Holocaust-Überlebender und Star-Analytiker, gesegnet mit messerscharfem Verstand, großer Neugier und feinem Humor, hat ein erfülltes Leben geführt. „Ich bin zufrieden, dankbar und bereit zu sterben. Wenn es morgen passiert, wäre das in Ordnung“, sagt er auf die Frage, wie lange er noch weitermachen wolle. „Aber solange ich lebe und arbeiten kann, mache ich das natürlich auch.“ Sein Arbeitspensum immerhin habe er inzwischen „auf 50 Stunden pro Woche reduziert“.