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Buch für die Stadt 2025Die Wahrheit ist Verhandlungssache

Lesezeit 6 Minuten
Claudia Schumacher, Autorin

Claudia Schumacher, Autorin

Claudia Schumachers eindrucksvolles Debüt über die Folgen häuslicher Gewalt ist das „Buch für die Stadt“ und die Region.

Nach außen sind die Ehres eine Bilderbuchfamilie. Die Eltern arbeiten erfolgreich als Anwälte, leben in einem großen Haus in einem gut situierten Vorort von Stuttgart. Ihre vier Kinder sind wohlgeraten. Und die 17 Jahre alte Juli ist davon überzeugt, dass es an ihr liegt, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Wenn sie erfolgreich ist, alle Erwartungen erfüllt, schlicht perfekt ist, kann sie das Monster, das sie alle bedroht, davon abhalten, aus der Haut zu fahren. Doch es ist ein aussichtsloses Unterfangen, denn das Monster ist ihr Vater.

Hinter der Fassade der ehrenwerten Familie lauern Abgründe. Kurt Ehre ist ein brutaler Tyrann, der seine Frau und die zwei Söhne und zwei Töchter regelmäßig verprügelt. Wann er zuschlägt, lässt sich nicht vorhersagen, oft kommt die blinde Wut aus dem Nichts. Und so leben alle in ständiger Angst: „Daheim penne ich eigentlich selten länger als vier Stunden am Stück. Papa hat die Zimmerschlüssel im Haus kassiert. Weshalb ich immer damit rechne, dass er nachts wieder vor meinem Bett aufkreuzt wegen irgendso'nem Scheiß. Ich habe vergessen, die Spülmaschine auszuräumen, oder mein Fahrrad draußen gelassen. Dafür gibt's dann in die Fresse.“

Ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz

Häusliche Gewalt findet sehr oft im Verborgenen statt. Viele Opfer fühlen sich hilflos und alleingelassen. Dabei ist der Handlungsbedarf groß. Während der Corona-Pandemie verzeichnete etwa das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ einen Anstieg von Anrufen. Es ist ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz, das Claudia Schumacher aufgreift. In einem rauen, fast schon rotzigen Ton, dem man sich nur schwer entziehen kann, lässt sie ihre Ich-Erzählerin in ihrem Debüt „Liebe ist gewaltig“ sprechen. Das klingt nie aufgesetzt, vielmehr brechen Wut und Ohnmacht sich in dieser schnoddrigen Sprache Bahn. Ein atemloser Roman, der aufrüttelt und nachdenklich macht und deshalb in diesem Jahr das „Buch für die Stadt“ ist. 

Jedes Familienmitglied wählt einen anderen Weg, um mit den Gewaltausbrüchen, die Schumacher an einigen Stellen sehr drastisch, aber nie voyeuristisch schildert, fertig zu werden. Julis ältere Schwester Alex zieht aus, sobald sich die Gelegenheit bietet. Max entscheidet sich für größtmögliche Anpassung und spielt das Spiel der scheinbar perfekten Familie mit, lässt sich sogar zum Bürgermeister wählen, der die Kontakte des Vaters bereitwillig nutzt. Die beiden Jüngsten, Bruno und Juli, tun alles, um sich gegenseitig Halt zu geben. Wenn die Angst zu groß ist, klettert Juli zu ihm ins Bett, nur an seiner Seite kann sie ruhig schlafen.

Eine besonders tragische Rolle spielt die Mutter. Sie lächelt die Misshandlungen weg – ihre eigenen und die der Kinder. Auch im Sommer trägt sie Rollenkragenpullover, um die blauen Flecken zu verbergen. Für exzentrisch darf man sie gerne halten, wenn nur nichts nach außen dringt von den Gewaltexzessen. Gesprochen wird nie über die furchtbaren Erlebnisse. Und wenn ein Blutfleck auf dem Teppich ein stummes Zeugnis der Brutalität ist, wird er eben umgedeutet. Das sei doch kein Blut, da habe Juli sich übergeben, behauptet sie. „Jeder erzählt eine andere Geschichte über dieselben Dinge. Die Wahrheit, das ist reine Verhandlungssache.“

Die Mutter ist eine Meisterin der Verdrängung

Wenn die Verletzungen so schlimm sind, dass nur noch ein Arzt helfen kann, geht man eben zum Bruder des Vaters, der flickt die Wunden zusammen. Unkommentiert. Ihre Kinder überschüttet die Mutter hinterher mit Liebe und Geschenken. Ansonsten ist sie eine Meisterin der Verdrängung. Als Juli einmal mit ihr an einem Frauenhaus vorbeigeht, reagiert die Mutter herablassend: „Schrecklich, sagte sie melodramatisch, ich habe solche Frauen ja auch manchmal bei mir in der Kanzlei.“ Als hätte all das mit ihrer eigenen Situation überhaupt nichts zu tun.

Ich-Erzählerin Juli berichtet ohne Larmoyanz von ihrem Leben, hinter ihrer oft schnoddrigen Art verbirgt sich jedoch eine in jeder Hinsicht verletzte Jugendliche, deren Urvertrauen auf die brutalstmögliche Art zerstört wurde. Sie verabscheut ihren Vater und sehnt sich doch nach seiner Anerkennung. Sie ist hochintelligent, traut sich aber nichts zu.

Wir begegnen ihr an drei Zeitpunkten ihres Lebens. Im ersten Teil, der 2007 spielt, ist sie 17 Jahre alt und lebt noch bei ihren Eltern. Wegen ihres auffälligen Verhaltens ist sie zu Beginn in einer Reha-Klinik. Doch weil sie nicht offen darüber spricht, was sie aus dem Gleichgewicht bringt, gilt sie dort als renitente, verwöhnte Göre – und fliegt irgendwann raus.

Es ist schwer zu ertragen, dass die Mauern des Schweigens, die Familie Ehre um sich herum errichtet hat, von keinem Familienmitglied durchbrochen werden. Juli will kein Opfer sein, will kein Mitleid. Und verbaut sich doch genau durch diese Haltung die Chance darauf, auszubrechen aus dem Wahnsinn, der sie zerfrisst.

Eine Frauenfigur, die einen lange nicht loslässt

Im zweiten Teil, der 2014 spielt, lebt sie als Studentin in Berlin, verdient viel Geld als Profi-Gamerin und arbeitet an ihrer Promotion in Mathematik. Aber weil wir vor uns selbst nicht davonlaufen können, hat sie ihre Traumata immer dabei und zerstört letztlich alles, was ihr helfen könnte, genau diese zu überwinden. Die Beziehung zur Engländerin Sanyu, in die Juli so verliebt ist, wie noch nie zuvor, zerbricht irgendwann: „Ich bin Jules, das schwarze Loch, das sich selbst frisst. Ich wünschte, ich wäre jemand, den du lieben kannst.“ 

Beim Lesen schließt man diese junge Frau direkt ins Herz. Auch wenn man sie oft schütteln möchte, sie davor bewahren will, wieder einmal nichts als verbrannte Erde zu hinterlassen. „Man kann mir nicht trauen. Denn ein verwundetes Herz ist auch ein verwundeter Geist.“ Dieses Zitat von Louise Glück hat Schumacher ihrem Roman vorangestellt. Und das trifft es sehr gut. Die Journalistin hat in ihrem bewundernswert souverän komponierten Erstling eine Frauenfigur geschaffen, die einen auch nach Ende des Romans lange begleitet. Weil sie so radikal ist, keine Kompromisse kennt und sich trotz allem einen wunderbaren Galgenhumor bewahrt hat.

Im dritten Teil, wieder zwei Jahre später, ist aus Juli – oder Jules – plötzlich eine Julia geworden, die mit ihrem erfolgreichen Freund Thilo am Zürichsee lebt. Könnte doch nicht schöner sein, oder? Wie falsch das alles ist, verdeutlicht Schumacher auch dadurch, dass sie diesen Teil nicht aus der Ich-Perspektive schildert. Nun scheint Juli sich endgültig verloren zu haben. Sogar den Kontakt zu Bruno, ihrem lebenslangen Verbündeten, hat sie abgebrochen.

Lange glaubt Juli, ihren Selbsthass nur durch Verdrängung unterdrücken zu können. Am Ende erkennt sie, dass sie das Schweigen überwinden muss, um zu heilen.


Das „Buch für die Stadt“ ist eine Literaturaktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld'sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog „Bücher-Atlas“) und Anne Burgmer („Kölner Stadt-Anzeiger“).

Die Sonderausgabe des Romans erscheint am 11. September im dtv Verlag. Vom 15. bis 22. November wird es eine Aktionswoche in Köln und der gesamten Region geben. Die Auftaktveranstaltung mit Claudia Schumacher findet am Samstag, 15. November, 19.30 Uhr, im Schauspiel Köln statt. Wer in der Aktionswoche eine Veranstaltung beisteuern möchte, ist sehr willkommen. Wir werden dazu bald eine Seite freischalten, auf der Sie Veranstaltungen eintragen können. Unterstützt wird die Initiative vom Unternehmen JTI. (ksta)