In seinem neuen Bestseller legt sich Satiriker Oliver Kalkofe mit der Boomer-Nostalgie an. Beim Mittagessen in Zehlendorf erklärt er sie sogar zum Risiko.
Ein Mittagessen mit Oliver KalkofeBoomer-Boy im Berliner Idyll

Der Satiriker Oliver Kalkofe, hier bei einem Auftritt auf der Bühne zu sehen, sprach mit Redakteur Steven Geyer beim gemeinsamen Essen über Gott und die Welt.
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Wer aus Berlin-Mitte kommt, steigt im Ortsteil Zehlendorf, am schlagertitelreif benannten „Mexikoplatz“, aus der S-Bahn und denkt: Hossa, hier ist wohl die Zeit stehengeblieben! Kurz vor dem Mauerfall oder so.
Im Bahnhof gibt’s noch Fleischertheke und Bäckerladen; der Weinhändler nebenan schreibt seine Schilder in diesen Nostalgieschriftarten, die in den Achtzigern schon ans gute alte Berlin von früher erinnern sollten; vor den Spezialitätenrestaurants finden sich Blumenrabatte und Markisen, aber keine Graffiti. Und wer das alles als Anspielung auf die jüngste „Stadtbild“-Debatte versteht, der ist in diesem Text gut aufgehoben.
Das gelebte Mittelmaß
Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass Deutschlands gnadenlosester TV-Satiriker Oliver Kalkofe aus dem niedersächsischen Peine – er nennt die Stadt liebevoll „das gelebte Mittelmaß“ – vor zehn Jahren ausgerechnet hierhergezogen ist: Zwar Berlin, aber Zehlendorf.
Bis heute fühlt er sich hier wohl. Ist das schon eine Flucht vor Lärm und Stress der Gegenwart? Schließlich ist Kalkofe gerade 60 geworden, und seine Anfänge als derber, aber schnell bundesweit berüchtigter Radiokomiker mit Rollen wie „Onkel Hotte“ liegen auch schon 30 Jahre zurück. Oder ist er im heutigen Medienbetrieb mit eigener ARD-Comedyshow, Tele-5-Kultfilmreihe, medienkritischer „TV Spielfilm“-Kolumne und nun auch noch einem neuen Buch, das promotet werden will, einfach so im Dauerstress, dass er es wenigstens daheim ruhig braucht?
Immerhin gibt es ein paar gute Restaurants, hat Oliver Kalkofe vorab gemailt, als wir uns zum Mittagessen mit Interview verabredet haben. Sogar die netten Albaner, die hier Italiener spielen, kochen alle sehr gut.
Sein Lieblingsrestaurant ist aber ein echter Familienbetrieb mit Papa aus Kalabrien und zwei italienischen Söhnen, die in West-Berlin geboren sind. „Er ist öfter hier, sitzt in der hinteren Ecke, ist immer freundlich“, schwärmt der Juniorchef über den Stammgast, bevor der ankommt. „Mir gefällt sehr gut, was er im Fernsehen macht, vor allem in den politischen Talkshows.“ Ach ja, das auch noch.
Wenig später kommt Kalkofe an: pünktlich und von Aftershave umweht, aber noch mit Kissen im Gesicht. Der Espresso ist die erste Mahlzeit des Tages. „Ich arbeite immer bis tief in die Nacht“, erklärt er.
„Der Nostalgie der Boomer etwas entgegensetzen“
Und Arbeit hat Kalkofe zurzeit reichlich: Gerade ist sein zweites Buch erschienen, „Nie war Früher schöner als Jetzt“ (Droemer/Knauer, 22 Euro). Darin wollte der Autor, wie er es vor dem Essen-Bestellen flink auf den Punkt bringt, zwar die Zeit seiner Kindheit in den 70er und 80er-Jahren aufleben lassen, aber auch „der Nostalgie der Boomer etwas entgegensetzen: die Zeit beschreiben, wie sie wirklich war“.
Also schrecklich?
Mitunter schon.
Wie schnell ließ sich Ihr Verlag von der Idee überzeugen?
Der war sofort Feuer und Flamme. Schon, seit unser Podcast so erfolgreich ist...

Die Satiriker Oliver Kalkofe (links) und Oliver Welke betreiben mit „Kalk und Welk“ den erfolgreichsten Podcast der ARD überhaupt.
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... der erfolgreichste ARD-Podcast überhaupt, „Kalk und Welk, die fabelhaften Boomer-Boys“: Darin schwelgen Sie mit Ihrem Freund aus Studententagen, „heute show“-Moderator Oliver Welke, auch öfter in Erinnerungen.
Ja, aber wichtig ist, dass wir das augenzwinkernd tun. Klar, es macht Spaß, sich über das Neue lustig zu machen oder aufzuregen. Auch mir ist das Heute oft zu schnell, zu viel, zu laut. Und das menschliche Gehirn macht’s uns ja bequem: Es radiert das Nervige von früher weg. Also war es mein Job, daran noch einmal liebevoll, aber nicht ohne Ironie zu erinnern.
Das traf einen Nerv: Schon vor Erscheinen herrschte riesiges Medieninteresse, Kalkofe sprach in Promo-Interviews mit alten weißen Männern über Mohrenköpfe und Indianerkostüme und mit jungen intellektuellen Frauen über Sprechverbote und Empörungskultur. Mit seinen Lesungen spricht er – wie generell in seiner Karriere – Comedy-Fans ebenso an wie das politische Satire-Publikum. In dieser Woche stieg das Buch in die „Spiegel“-Bestseller-Liste ein.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Kalkofe neu erfindet. Auf die Zeit beim satirischen „Frühstyxradio“ folgte 1994 „Kalkofes Mattscheibe“, die ihm nach zwei Jahren satirischer Notwehr gegen allzu schrottiges TV-Programm den Grimme-Preis und den Durchbruch brachte.
„Kalkofes Mattscheibe“ strauchelte
Auch sein Parade-Format hatte gute und schlechte Zeiten, wechselte die Sender, schaffte Comebacks, wurde 2022 abgesetzt. Doch Kalkofe blickte auch dabei einfach immer nach vorn statt zu jammern: Er wurde Schauspieler in „Der Wixxer“, Moderator seiner Kultshow „#SchleFaZ - Die schlechtesten Filme aller Zeiten“, nun eben Podcaster.
Im Restaurant bringt der Juniorchef die Speisen. Es gibt eine ganze Trüffelkarte und Fleisch oder Fisch für 55 Euro pro Portion, aber Kalkofe hat Spaghetti Amatriciana bestellt. Also im Grunde Nudeln mit Tomatensoße, nur etwas erwachsener, mit Schweinebacke, Zwiebeln, Chili - „und macht ihr mir wieder meine Spezialvariante mit Paprika?“
Ein gutes Gleichnis für Kalkofes Blick auf die Vergangenheit: Zwar ist Soulfood, was nach Kindheit schmeckt. Aber so nostalgisch man an Mama Miracoli zurückdenken mag: Besser essen kann man heute, selbst die Pasta aus Kindheitstagen.
So kann er ewig weitermachen: Stream schlägt Schallplatte, Erinnerungen an den Kindheitsurlaub lassen vollgerauchte Autos und stinklangweilige Ferienzimmer weg, und das Lieblingsdessert von damals wird wohl nicht mehr produziert, weil es einen höheren Zuckeranteil hatte als Zucker.
Doch Kalkofe hat auch eine Meta-Ebene eingezogen: „Der Mensch erfreut sich an der trügerisch schillernden Nostalgie so sehr, dass er im Sumpf der selbst angerührten Schönfärberei versinkt“, schreibt er, „und irgendwann mental in den Rückwärtsgang schaltet, während der Rest der Welt sich weiter vorwärtsbewegt.“
Diese Nostalgie gab es ja schon immer. Neu ist, dass die Älteren bald in der Überzahl sind. Erklärt das politische Bewegungen wie „Make America Great Again“ und Gleichgesinnte in Deutschland?
Absolut. Nostalgie ist ja schön – aber wenn sie zur Ideologie wird, wird sie gefährlich. Dann wird schnell vereinfacht: „Früher durfte man noch alles sagen“, „früher war es sicherer“, sowas. Dahinter steckt selten ein reales „Früher“, sondern die eigene Jugend. Natürlich war die schön: Man war jung. Das ist der ganze Trick.
Aber ist an manchem Eindruck nicht was dran?
Irgendwas ist immer dran, so funktioniert Populismus. Klar ist das Stadtbild vielerorts traurig - aber wir alle bestellen doch online, statt in der Innenstadt zu shoppen. Und klar herrscht heute zu schnell Empörung. Aber mein Kindheitstrauma ist, dass in den 70ern plötzlich Schweinchen Dick abgesetzt wurde, weil CDU und SPD im ZDF-Beirat die Cartoons zu gewalttätig fanden. Das war echte Cancel Culture – nur hieß es noch nicht so. Die Muster sind nicht neu. Nur schneller und auf mehr Kanälen.
Schöner fanden Sie es aber doch, als sich alle noch über dieselben TV-Sendungen unterhalten konnten?
Es war besser, als immer gleich über die Weltlage jammern oder sich über Politik streiten zu müssen. Vielleicht wirkt deshalb in der Rückschau alles harmonisch und harmlos. Aber die Wahrheit ist: Es war nie besser, nur einfacher. Man konnte generell weniger falsch machen, weil es gar nicht so viele Optionen gab. Heute kann man irgendwie alles falsch machen - und meistens sagt es einem auch noch jemand. Früher musstest du drei Leute persönlich treffen, um in Konflikt zu geraten. Heute reichen drei Minuten auf Instagram.
Kalkofe hat Shitstorms ausgelöst, bevor es das Wort gab
Natürlich hat Kalkofe schon Shitstorms ausgelöst, bevor es das Wort gab. Wurde verklagt, weil er den dicken Klaus als „Freund Speckbulette“ bezeichnete. Parodierte Daniel Küblböck in „DSDS“, wie er es heute nicht mehr täte. Hält es aber andererseits noch nicht für Blackfacing, dass er sich zu Roberto Blanco schminken ließ - sondern für eine Parodie wie bei jedem anderen. „Ich habe mich immer über deren Inszenierung lustig gemacht, nie über ihre Identität!“, betont er. Wer allzu sensibel auf seine Späße reagiere, sei nicht besser als die Moralapostel von damals, die ihm im Privatradio die Kirchenwitze verboten haben.
Trotzdem kann es nicht nur Gags, sondern auch Entertainern passieren, dass sie schlecht altern, sagt Oliver Kalkofe, als gerade der Nachtisch kommt: Tartufo-Eis.
„Der Humor war früher rauer, die Sprache unsensibler“, sagt er. „Deshalb muss man sich nicht nachträglich schämen, aber viele Begriffe würde ich heute nicht mehr benutzen. Sprache ändert sich nun mal. Und glücklicherweise auch das Bewusstsein.“
Das zu begreifen und die eigene Meinung nicht für die einzig wahre Wahrheit zu halten, sei das beste Mittel, um auch mit 60 nicht zum sprichwörtlichen alten weißen Mann zu werden. „Und, am wichtigsten: Sich selbst nicht so ernst zu nehmen“, ruft er in den Raum. Von der Garderobe grinsen zwei ältere Damen herüber. Oliver Kalkofe blickt an seinem quietschbunten Hawaii-Hemd herab, auf dem ein riesiger rosaroter Paulchen Panther prangt. Er streicht ihn glatt und lächelt zurück.
Oliver Kalkofe hat Spaghetti Amatriciana (17,50 Euro) gegessen und als Dessert Tartufo Nero Affogato (8,50 Euro), sein Gesprächspartner hatte Tagliolini Al Tartufo Nero und als Nachtisch Tortino al Cioccolato (zusammen 33,50 Euro). Dazu tranken sie San Pellegrino (7 Euro) und viele Cappuccini und Espressi (14 Euro). Die Gesamtrechnung betrug 80,50 Euro.


