Eröffnung der lit.spezialFerdinand von Schirach, der Meister der Anekdote

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Ferdinand von Schirach bei seiner Lesung von „Nachmittage“ im WDR Funkhaus.

Köln – Kein Synchronsprecher, kein Moderator – Ferdinand von Schirach steht als One-Man-Show auf der Bühne, vor sich nur ein eckiger hoher Tisch mit einem Glas Wasser und seinem Buch „Nachmittage“. Er moderiert, er liest, er erzählt.

Wenn es einen Meister der Anekdote gibt, ist es Ferdinand von Schirach. Sein neues Buch steckt voller kleiner Geschichten, die überall spielen: in Taipeh, Berlin, Paris oder New York. Sie handeln von schicksalshaften Begegnungen, von Liebe oder von Einsamkeit, den großen Themen der Menschheit eben, erzählt aus der Perspektive eines Schriftstellers, der sich erst an Jura versucht hat und nur spät ins Schreiben kam. Aus den Begegnungen sprießen Erinnerungen, die selbst zu Geschichten werden.

Der Ich-Erzähler in „Nachmittage“ erinnert stark an Ferdinand von Schirach

Es steckt viel von Schirach selbst in diesem Buch. „Ehrlich gesagt können Sie das auch zuhause lesen“, kommentiert er, doch umso beeindruckender ist es, in den Lesungen die Erzählerfigur selbst auf der Bühne stehen zu sehen. Scheinbar spontan gibt er immer wieder kleine Anekdoten zum Besten, als hätten die „Nachmittage“ ein unveröffentlichtes addendum. Bloß dass diese Moderations-Passagen nicht von der „erlesenen Melancholie“ des Buchs zeugen, wie der SWR schreibt, sondern von großem Witz.

Schirachs Moderation macht Stand-up-Comedy Konkurrenz. Er zieht über Claudia Roth her, unter der das Budget für Kultur gekürzt wurde, erzählt von seinem Besuch eines 4711-Ladens und empfiehlt eine Theateraufführung mit Lars Eidinger, auch wenn sich dieser nach fünf Minuten auf der Bühne nackig mache. „Aber man gewöhnt sich dran.“ Das Publikum lacht sich kringelig. Hin und wieder findet er doch mal einen melancholischen Einschub. „Die Sache mit der Liebe ist ja furchtbar kompliziert. Ich glaube, dass man einmal, vielleicht zweimal wirklich lieben kann.“ Als er dann anfängt über Verlust und Reue zu sprechen, bricht er ab: „Das wird jetzt zu dunkel“.

Noch kurz auf ein Schlösschen eingeladen

Dazwischen kommen die „Nachmittage“. Etwa die Begegnung des Schriftstellers mit einer ehemaligen Konzertpianistin, die von einem Abend auf den anderen verschwunden war. Die beiden entfliehen dem regnerischen Wetter in ein Pariser Café und sie vertraut ihm an, wieso sie ihren Beruf aufgegeben hat. Es wäre nur noch um die Industrie, nicht mehr um die Musik gegangen.

Diese Geschichten sind durch ihre Ortsbeschreibungen und Figuren sehr atmosphärisch. Was jedoch auffällt: Von Schirachs Personal ist durchgängig über die Maßen (erfolg-)reich, ohne dass er das besonders reflektieren würde. Zu keinem Zeitpunkt ordnet er die Betrachtung seiner privilegierten Figuren ein. Wenn Schirach erzählt, wie er „eigentlich nie einkaufen geht, aber mal eine Glühbirne gekauft hat“, um dann eine Anekdote über Edison zu erzählen, fragt man sich, ob das Methode ist oder ob er sich dessen wirklich nicht bewusst ist.

Das zeigt sich auch im letzten Drittel seines Auftritts: Schirach beginnt damit, wie er als Anwalt zwischen fünf Erben eines Industrieöl-Erfinders vermitteln sollte. Dazu hätten sie ihn auf den Sitz des Verstorbenen eingeladen, „ein kleines Barockschlösschen“. So ein vielfältiges Vermögen mit Unternehmen bis hin zu Tierparks sei sehr kompliziert aufzuteilen. Um zu erklären, wie er die Situation gehandhabt hat, macht er einen Exkurs in der Philosophiegeschichte bis zurück in die Urzeit, um über Gerechtigkeit zu sprechen – bis er bei dem US-amerikanischen Philosophen John Rawls landet um dann schließlich zu seiner Lösung des Erbstreit-Falls zurück zu kehren: Die Leute sollten das Erbe in fünf Teile aufteilen, die dann zugelost werden, weswegen sie schon aus Eigennutz alle gleich wertvoll sein sollten.

John Rawls als Antwort auf alle Fragen der Gerechtigkeit

Eigentlich wundervoll, wie viel infotainment er für eine kleine Anekdote betreibt. Doch dann holt er zu einer mächtigen Didaxe aus. Die Welt würde eine gerechtere, wenn wir alle Rawls lesen, das sei im Moment notwendig. Als ob Gerechtigkeit damit hergestellt sei, dass die lächerlich reichen Öl-Erben in ihrem Schlösschen Einigung über ihr Vermögen erzielen können. Dass Rawls zu lesen nicht ausreicht, beweist Christian Lindner, der ihn bei Richard David Prechts TV-Sendung herangezogen hat, um den Neoliberalismus zu verteidigen.

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Nach einer letzten Geschichte schließt er mit seiner eigentlichen Stärke ab, seiner lebensbejahenden Melancholie. Naja, fast. Er kehrt mit tosendem Applaus noch einmal zurück auf die Bühne, um einen Witz zu erzählen, will lieber auf einer fröhlichen Note aufhören. Davor jedoch: „Wir stehen nackt in der Welt, die Erde ist ein kaum sichtbarer blassblauer Punkt im All, die Natur ist kalt und feindlich. Aber wir sind Menschen. Wir teilen diese Einsamkeit, sie ist es, die uns verbindet. Wir wissen voneinander, hat sie gesagt. Und überall ist Leben, überall.“

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