Filmemacher über Missbrauch in der Kirche„Ratzinger hatte die Opfer nicht im Blick“

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Der damalige Papst Benedikt XVI. 2013

Filmemacher Christoph Röhl hat eine Dokumentation über Missbrauch in der katholischen Kirche gedreht. Der 90-minütige Film beleuchtet besonders die Rolle von Papst Benedikt XVI. Ein Gespräch mit dem Filmemacher und Regisseur.

Herr Röhl, was hat Sie als Nicht-Katholik und Atheist bewogen, Joseph Ratzinger beziehungsweise Papst Benedikt XVI. einen 90-minütigen Dokumentationsfilm zu widmen?

Ich hatte schon zwei Filme zum Thema Missbrauch an der Odenwaldschule gedreht und kam mit katholischen Betroffenen in Kontakt. Sie fragten, ob ich nicht einen ähnlichen Film über Missbrauch in ihrer Kirche machen könne. In diesem Zusammenhang fiel der Name Ratzinger. Ich begann mich mit ihm zu befassen und war fasziniert. Dann fiel mir auf, dass es zwei Deutungen seiner Rolle gab: Den einen galt er als Aufklärer, den anderen als Vertuscher von Missbrauch. Das fand ich spannend. Ich wollte wissen: Was ist die Wahrheit über diesen Menschen? Was ist Legende? Das war sozusagen die erste Etappe auf einer langen Expedition.

Was ist die Wahrheit?

Mein Film belegt, wie viel Ratzinger wusste – und das schon sehr früh. Er hatte schon Mitte der 1980er Jahren, mehr als zwei Jahrzehnte vor der Skandalwelle des Jahres 2010, genaue Informationen über das Ausmaß des Missbrauchsskandals etwa in den USA. Er gehörte zu denen im Vatikan, die die Gefahr für die Kirche begriffen, und er handelte konsequent zum Schutz der Institution. Alles wurde geheim gehalten, nichts sollte nach außen dringen, damit die Kirche nur ja keinen Schaden nähme. Ich nenne das Vertuschung. Er hat die Täter geschützt, weil sie Priester waren und mit ihrem Tun ihren Stand befleckten. Es ging um die Reinerhaltung der Idee eines ontologisch von allen anderen Menschen unterschiedenen Amtes. Ratzinger hat die Opfer nicht im Blick gehabt – aber das hat keiner in der Kurie.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten in den Systemen Odenwaldschule und katholische Kirche?

Beide verbindet der Glaube an eine unbedingt schützenswerte Idee. An der Odenwaldschule wurde der Mythos einer Reformpädagogik hochgehalten, die sich der Erziehung an den Regelschulen unendlich überlegen glaubte. Man war so überzeugt von der eigenen Großartigkeit und der eigenen Mission, dass diese durch nichts infrage gestellt oder erschüttert werden durften. Deshalb waren die Missbrauchsopfer, die ihre Geschichte erzählen wollten, nichts anderes als eine Gefahr für das System – genau wie in der katholischen Kirche.

Der Unterschied zwischen den beiden Welten ist seltsamerweise die Fassade. Was meinen Sie damit?

Die Odenwaldschule gab sich liberal bis zum Exzess: Die Lehrer duschten mit ihren Schülern, sie soffen und kifften mit ihnen. Man gab sich erst gar nicht den Anschein von Distanz. Trotzdem existierte hinter der Fassade ein System der Repression und der autoritären Machtausübung. Ihr schlimmster Auswuchs war der sexuelle Missbrauch. Die katholische Kirche hingegen war autoritär und gab sich auch so.

Die höchste Autorität in der katholischen Kirche ist der Papst. Joseph Ratzinger hatte dieses Amt von 2005 bis 2013 inne. Wie sehen Sie die Wechselwirkung zwischen der Macht des Systems und dem Menschen, der in diesem System die Macht hat?

Auf jeden Fall hat einer, der Macht hat, auch Verantwortung. Ratzinger bzw. Papst Benedikt hätte immer wieder die Chance gehabt, sich anders zu verhalten, als er es getan hat. Er hätte anders entscheiden können, er hätte sich im Umgang mit den Missbrauchsfällen in seiner Kirche dem System des Schweigens, Leugnens und Vertuschens entziehen, er hätte jederzeit aussteigen können. Das hat er nicht getan. Und er hat seine Macht nicht genutzt im Sinne der Opfer. Natürlich kann man sagen, dass auch er der Macht des Systems erlegen ist. Aber er hat sich dessen Erhalt verschrieben – mit Herz und Seele.

Ist von Ihrer anfänglichen Faszination etwas übrig geblieben?

Tatsächlich fasziniert es mich, wie gerade überzeugte Katholiken mit ihrer Kirche ringen – und auch mit der Ära Ratzinger. Ich habe ja wirklich einen sehr kritischen Film gemacht. Aber als Atheist habe nicht diese ambivalenten Gefühle gegenüber dem Sujet Kirche und Glaube, wie Katholiken sie offenbar haben. Ausgerechnet bei ihnen kommt mein Film sehr gut an. Sie reagieren regelrecht dankbar.

Dankbar wofür?

Ich habe eine Vermutung: Viele Katholiken haben eine unglaubliche Wut auf das klerikale Gehabe der kirchlichen Hierarchie, die Papst Benedikt verkörperte wie kein Zweiter. Sie sind die ganze Überheblichkeit leid, die Bevormundung und die ständige Besserwisserei, zumal inzwischen ja bekannt ist, wozu das alles geführt hat. Und dann kommt da einer wie ich, von außen. Er schaut hinter die Fassade und zeigt etwas, das man in dieser Schärfe zu sehen und zu sagen sich selbst nicht zugestehen mochte: die intransparenten, autoritären, willkürlichen und letztlich unmenschlichen Seiten einer angeblich heiligen Institution – exemplarisch vorgeführt an ihrem höchsten Repräsentanten. Das hat bei allem Bedrückenden meines Films doch auch etwas Entlastendes und Befreiendes.

Das Gespräch führte Joachim Frank

Zur Person

Roehl

Filmemacher Christoph Röhl

Christoph Röhl, geboren 1967, ist Filmemacher und Regisseur. Röhl wuchs zweisprachig in England auf. Nach dem Studium der Germanistik und der Geschichte war er zwei Jahre Tutor für Englisch an der Odenwaldschule, an der es zu schweren Fällen sexuellen Missbrauchs gekommen war. Darüber drehte Röhl 2010 eine Dokumentation und 2013 einen Spielfilm, für die er zahlreiche Preise erhielt.

An seinem Film „Verteidiger des Glaubens“ über Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. arbeitete Röhl seit 2012. (jf)  

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