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FriedenspreisEs ist nicht die Zeit für Wohlfühl-Preisträger

4 min
Karl Schlögel steht auf einer Bühne.

Karl Schlögel erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 

Karl Schlögel erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Die Jury positioniert sich politisch erneut erstaunlich eindeutig. 

Zwei politische Zeitgenossinnen dürften sich über die Vergabe des diesjährigen Buchhandels-Friedenspreises kaum freuen: Alice Weidel und Sahra Wagenknecht. Denn die Vorsitzenden von AfD und BSW hat der Preisträger, der Osteuropa-Historiker und Essayist Karl Schlögel, immer wieder hart angegangen, sie als „Putins Stimmen auf deutschem Boden“ bezeichnet, als Bewirtschafterinnen „der Angst, die Putin verbreitet“. Das sei Kriegstreiberei unter der Maske der Friedensrhetorik.

In Erinnerung mag Talkshow-Guckern noch die gereizte Konfrontation von Schlögel und Wagenknecht im September 2023 bei „Anne Will“ sein. Da wusste sich letztere nur noch mit dem Raunzer zu helfen, jetzt „verlieren Sie aber wirklich Ihr Niveau“. Eine tragfähige Argumentation war damit offensichtlich nicht verbunden – zumal nicht gegen Schlögels Kernkritik, die Gegenseite habe keine Ahnung und sich nie aus erster Hand über Russlands Krieg gegen die Ukraine informiert.

Tatsächlich wird man Schlögel den Vorwurf fehlender Kenntnis aus eigenem Erleben wohl zuallerletzt machen können. Um nur wenige Beispiele zu nennen: 1966 war er erstmals in die Sowjetunion gereist, 1968 erlebte er den Prager Frühling persönlich, Aufenthalte in Moskau und Leningrad in den 1980er Jahren prägten seine Forschung. 2014 reiste er nach der Besetzung der Krim in die Ukraine.

Karl Schlögel wird man den Vorwurf fehlender Kenntnis wohl zuallerletzt machen können

Diese „Erfahrungssättigung“ von Wissenschaft wird auch in der Begründung für die Preisvergabe hervorgehoben. Mit Werken wie „Terror und Traum“ (2008) oder „Das sowjetische Jahrhundert“ (2017) habe Schlögel, so die Börsenvereins-Vorsteherin und Stiftungsrat-Vorsitzende Karin Schmidt-Friderichs, „Maßstäbe für eine anschauliche, lebendige Geschichtsschreibung gesetzt. Mit seiner Erzählweise, die Beobachten, Empfinden und Verstehen verbindet, korrigiert er Vorurteile und weckt Neugier.“ Auf diesem Fundament habe, so die Jury, der Osteuropa-Kenner als einer der ersten vor der aggressiven Expansionspolitik Putins gewarnt: „Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben.“

Schlögel wurde 1948 in Hawangen im Allgäu geboren, studierte dann in Berlin osteuropäische Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slawistik. Kraft eigener Beteiligung erlebte er – dies eine bemerkenswerte biografische Parallele zu dem Kommunismusforscher Gerd Koenen – in den 70er Jahren die Zerfaserung der Studentenbewegung im Dschungel der einander bekämpfenden K-Gruppen. 1981 beendete er sein Studium mit einer Doktorarbeit über Arbeiterkonflikte in der Sowjetunion nach Stalin. 1982 ging er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an die Lomonossow-Universität Moskau, wo er sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der russischen Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte.

Nach seiner Rückkehr arbeitete Schlögel als Privatgelehrter und freier Autor für Zeitungen und Rundfunk. 1984 erschien das in Moskau entstandene Buch „Moskau lesen“, das ein neuartiges, auch theoretisch ambitioniertes Konzept von Zeitgeschichtsschreibung umsetzt: Der Raum, der Stadtraum wird hier zum Palimpsest, das archäologisch dechiffriert werden muss. Daraus ergaben sich perspektivisch Konsequenzen für die Bauformen historischen Erzählens im Sinne eines „Narrativs der Gleichzeitigkeit“.

1990 erhielt Schlögel den Ruf auf die neu gegründete Professur für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz, wo er von 1990 bis 1994 lehrte und sein Forschungsprojekt zur russischen Emigration in Deutschland begann. 1995 übernahm er die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2013 blieb.

Deswegen ist die Unterstützung der Ukraine auch der beste Weg, um den Frieden in Europa zu sichern
Karl Schlögel

Bemerkenswert an der Preisvergabe ist indes nicht nur der nach wie vor äußerst produktive Preisträger, der bereits zahlreiche Auszeichnungen auf sich versammeln konnte, sondern auch der Modus der Vergabe selbst. Im vergangenen Jahr war die US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum geehrt worden, die in ihrer Dankesrede gleichfalls eindringlich davor warnte, die Unterstützung für die Ukraine einzuschränken. Keine Frage: Diese Folge beinhaltet ein – als solches offensichtlich intendiertes – politisches Statement.

Darf sich, diese Frage mag man stellen, die Jury des Friedenspreises so eindeutig positionieren? Immer mal wieder hatten ja die Entscheidungen in der Vergangenheit – etwa im Fall der Islamforscherin Annemarie Schimmel – saftige Kritik geerntet. Die wird womöglich auch diesmal nicht ausbleiben. Indes kann die Entscheidung diesmal mit einer starken Begründung aufwarten, Schlögels Diagnosen sind so leicht nicht auszuhebeln. Im Übrigen: Angesichts der sich verschärfenden Weltlage ist es nun wirklich nicht die Zeit für unverbindliche Wohlfühl-Preisträger.

Schlögel selbst reagierte auf die Auszeichnung – sie ist mit 25.000 Euro dotiert und wird zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am 19. Oktober in der Paulskirche verliehen – erneut mit einem energischen Appell: Verteidigung sei das beste Mittel, sich gegen die Aggression und Ausweitung eines Krieges zur Wehr zu setzen: „Deswegen ist die Unterstützung der Ukraine auch der beste Weg, um den Frieden in Europa zu sichern.“