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Import Export Kollektiv im Schauspiel KölnDie Lebensgier eines jungen Ensembles

Lesezeit 4 Minuten
Szene Helges Leben am Schauspiel Köln, ein Mann am Boden wird an seinem roten Schal über die Bühne gezerrt.

Helges Leben am Schauspiel Köln

Das Import Export Kollektiv ist jung, divers und hat das erklärte Ziel, zu wenig erzählte Geschichten auf die Bühne zu bringen. Für ihre große Premiere im Schauspiel Köln haben sie sich ein Stück ausgesucht, das ihrem Wesen völlig entgegensteht.

Ganz unten haben sie angefangen, aber jetzt sind sie hier, im Depot 1: Das zwölfköpfige Ensemble des Import Export Kollektivs betritt die Bühne vom Zuschauerraum aus, lauthals das Selbstermächtigungs-Mantra des kanadischen Rappers Drake skandierend. Die Karrieren des Streaming-Königs und des Köln-Mülheimer Theaterjugendclubs sind nahezu parallel verlaufen. Bassam Ghazi hat das Kollektiv bereits 2008 gegründet (als Drake seine ersten Mixtapes veröffentlichte), seit 2015 gehört es dem Schauspiel Köln an.

Abrechnung mit einer perspektivlosen, monokulturellen Welt

Zurzeit wird es von der Regisseurin Saliha Shagazi geleitet. Für die erste Premiere auf der großen Bühne haben sich das Ensemble und Shagazi jetzt Sibylle Bergs 22 Jahre altes Stück „Helges Leben“ ausgesucht. Ausgerechnet.

Warum das verwundert? Weil sich das multiethnische Import Export Kollektiv doch vorgenommen hat, Geschichten zu erzählen, die man immer noch viel zu selten in deutschsprachigen Theatern zu sehen bekommt. Geschichten von vielstimmigen, migrantischen, fröhlich diversen Identitäten. Während Bergs böses Spiel eine Abrechnung mit der perspektivlos gewordenen, monokulturellen West-Welt ist.

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Der Protagonist in „Helges Leben“ erfährt nur wenig Liebe

Das Leben von Helge jedenfalls könnte trüber kaum ausfallen, die Eltern – Helmut ein schlichter Spediteur, Helga eine egozentrische Achtsamkeitsinfluencerin (Marcella Marino mit einem herrlich überdrehten Solo vor der Videokamera) – interessieren sich nicht für ihr Kind, die Mitschüler mobben den verkorksten Gesellen. Und als endlich doch noch die Liebe in Helges Alltag einschlägt, verpufft sie in dem Moment wieder, in dem sie sich in Verantwortung und Mitgefühl umwandeln sollte. Helges einziger Freund ist seine Angst, springteufelhaft verkörpert von Sabri Spahija. Dessen Einflüsterungen aber führen unweigerlich zu Gewalt.

Sibylle Berg rahmt diese deprimierende Biografie mit ihrer Version des Goethe’schen „Prolog im Himmel“. Frau Gott (Dorota Lewandowska) und Frau Tod (eine stimmmächtige Artosha Jasmin Mokthare) treffen sich vor dem geschlossenen Vorgang und beklagen ihren jeweiligen Machtverlust. Der Vorhang öffnet sich, gibt den Blick frei auf eine Skateboard-Halfpipe, auf der geht es eine Zeit lang auf und ab, aber am Ende landet man zuverlässig am tiefsten Punkt (Bühne: Sebastian Bolz). Die Menschen, die sie im ewigen Kreislauf erschaffen und wieder niedergemäht haben, gibt es nämlich nicht mehr. Die Tiere haben das Kommando übernommen. Gott und Tod dienen nur noch ihrem Amüsement.

Ensemble um Regisseurin Saliha Shagazi mit Eingriffen am Text

An diesem Abend sollen sie Herrn Tapir und Frau Reh – von Feline Przyborowski und Erenay Gül gendervertauscht gespielt, sie voller Tatendrang, er passiv-aggressiv – ausnahmsweise mal ein völlig durchschnittliches Menschenleben präsentieren, gewissermaßen als mahnendes Beispiel. Hanna Nagy spielt den Helge folgerichtig mit ausgestreckten Gliedern als mürrischen Struwwelpeter, ein schwarzpädagogischer Brachialklassiker. Nagy findet jedoch immer wieder faszinierende Zwischentöne, vom verstörten Opfer zum empathielosen Täter.

Immer wieder kommentieren die Tiere die Handlung, verlangen nach (sehr komischen) Werbeunterbrechungen, spulen das Elend vor. Nicht nur Helges Leben, sondern auch Sibylle Bergs verzweifelten Sarkasmus goutiert man am besten häppchenweise. Es sind auch gerade diese Eingriffe in den Text, aus denen Saliha Shagazi und das Ensemble Funken schlagen. Etwa wenn sie ihre eigenen Ängste aufzählen, die es locker mit denen von Helge mehr als aufnehmen können. Oder so lange Vorschläge unterbreiten, wofür es sich zu leben lohnt, bis Nihad Mustafa Ali seine (vermutlich) eigene Geschichte von Gefängnis und Flucht erzählt. Die Wünsche, die man ans Leben richtet, wirken mehr oder weniger frivol, wenn es ums Überleben geht.

Das Import Export Kollektiv hat sich das richtige Stück ausgesucht

Spätestens an diesem Punkt wird aber klar, dass das Import Export Kollektiv genau den richtigen Text gewählt hat: Dem Zivilisationsabgesang setzen sie ihrer Lebensgier entgegen, der Aussichtslosigkeit ihre Träume. Trotz Glitter, Gesang und Groteske: Die bilden den Kern des Abends.

Am klarsten sieht man das in der Figur der Tina, Helges einziger Liebe: Auch die ist satirisch angelegt, aber Ceren Şengülen verleiht ihr zudem eine sehnsüchtige Ernsthaftigkeit, die Helge fehlt, an ihr nagt sogar ein chorisch sprechendes, unheimliches Angst-Trio (Justin Herlth, Sophie Czarnetzki, Marcella Marino). Warum die „Tina“ heißen muss, fragt jemand, warum kein Alman-Name mit H, wie ihn die anderen Figuren tragen? Herta oder Hermine? Oder weniger deutsch: Hülya. Das ist türkisch und bedeutet: Traum.

„Helges Leben“ ist am 18., 22. Dezember, 20., 24. Januar und 8., 9. Februar zu sehen, Depot 1, 90 Minuten, keine Pause.

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