Das LVR-Landesmuseum Bonn würdigt den Fotografen Jupp Darchinger mit einer Ausstellung zu dessen 100. Geburtstag.
Jupp Darchinger in BonnEin Bilderdieb im politischen Betrieb

Josef Heinrich Darchinger: „Glasaugen zur Auswahl für die Wachsfigur Helmut Schmidts“
Copyright: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung
Helmut Schmidt hat’s hinter sich. Der außer Dienst gestellte Bundeskanzler sitzt im November 1983 im Plenarsaal des Bundestags und hört sich an, wie andere über die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland entscheiden. Allzu sehr scheint ihn die Debatte nicht zu interessieren. Er faltet einen Papierflieger, vielleicht, um ihn in Gedanken über der von Helmut Kohl besetzten Regierungsbank abstürzen zu lassen.
Eingefangen hat diesen Moment der Bonner Fotograf Jupp Darchinger, vermutlich mit einem Teleobjektiv von der Pressetribüne aus. Darchinger hat uns so nah an Schmidt herangezoomt, dass wir ihm über die Schulter schauen – und glauben können, wir hätten ihn in einem unbeobachteten Augenblick ertappt. Ist der Bundestag etwa auch nicht viel anders als die Schule mit ihren „Lümmeln“ von der letzten Bank?
Auch im seriösen Bildjournalisten steckt ein Paparazzo
Man kann sich leicht vorstellen, wie Darchinger mit diebischer Vorfreude nach Hause hastete, um seine Beute in der heimischen Dunkelkammer zu entwickeln, und wie er das fertige Motiv triumphierend in den Umschlag für die „Eilpost“ steckte. Auch im seriösen Bildjournalisten wohnt ein Paparazzo, der stets damit rechnen muss, dass die Konkurrenz nicht schläft. Tat sie aber doch. Darchinger hatte das Symbolbild für langweilige Bundestagsdebatten exklusiv - und Helmut Schmidt als unfreiwilligen Kronzeugen gewonnen. Der Kanzler a.D. wird ihm nicht gram gewesen sein. Man war unter Genossen, und Darchinger ließ Schmidt wie immer menschlich und volksnah erscheinen.
Josef Heinrich „Jupp“ Darchinger gehörte zu jenen akkreditierten Fotografen, die das kollektive Bild der Bonner Republik maßgeblich prägten. Er belieferte „Spiegel“, „Zeit“ und „Stern“, dazu zahlreiche Tageszeitungen und profitierte als gebürtiger Bonner von seinem Heimvorteil im „Bundesdorf“. Dort kannte er anscheinend alles und jeden, und er gab der trivialen Einsicht, dass Politik von Menschen gemacht wird, einen höheren Sinn, indem er zeigte, was in der Bundeshauptstadt abseits des Protokollarischen und der Bilder für die Abendnachrichten geschah. Seine wohl bekannteste Aufnahme gelang ihm gleichwohl auf Reisen, als er Schmidt im Winter 1981 im Pressetross in die DDR begleitete. Das deutsch-deutsche Treffen galt allgemein als Fehlschlag, bis Darchinger am eiskalten Bahnhof Güstrow den Moment abpasste, in dem ein lachender Erich Honecker dem Kanzler zum Abschied ein Hustenbonbon in den Zug reichte.

Josef Heinrich Darchinger: „Raumpflegerin im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, 17. Juni 1971“
Copyright: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung
Am 6. August 2025 wäre Jupp Darchinger 100 Jahre alt geworden – einen besseren Grund, dem Sohn der Stadt eine Retrospektive auszurichten, hätte es für das LVR-Landesmuseum Bonn kaum geben können. Es ist die zweite Darchinger-Werkschau des Hauses (die erste wurde 1997 von Klaus Honnef kuratiert), aber nach bald 30 Jahren lohnt sich ein frischer Blick auf sein Werk und seinen Gegenstand: die Bonner Republik.
Ein wenig bleiern erscheinen die Jahre zwischen 1949 und 1990 heute schon – und das nicht nur, weil Darchinger, der 1952 bei der Beerdigung Kurt Schumachers sein „Gesellenstück“ ablegte, Schwarz-Weiß-Kontraste liebte. Das politische Bonn war eine Welt älterer Männer, die nur gelegentlich von Ministerinnen, Kanzlergattinnen oder einer den verlassenden Plenarsaal säubernden Putzfrau aufgeheitert wurde. An Darchinger lag es nicht. Er wich gerne von den üblichen Routen des Politbetriebs ab, um den Alltag hinter den Kulissen des Zeremoniells zu zeigen: wartende Chauffeure, Soldaten in Reih und Glied, Aktenträger, Hausmeister – und immer wieder die Journalistenschar. Den Umzug ins bunte Berlin machte Darchinger trotzdem nicht mit.
Jupp Darchingers Ein-Mann-Fotoagentur war ein Familienbetrieb
Einen besonderen Akzent legen die Kuratorinnen auf den Produktionsprozess von Darchingers Familienbetrieb. Seine Frau war gelernte Fotolaborantin und besorgte notwendige Retuschen; als die beiden Söhne alt genug waren, wurden sie ebenfalls mit eingespannt und mussten als Fotografen um die innerfamiliären Urheberrechte ihrer Bilder kämpfen. Im einführenden Teil der Ausstellung lässt sich gut nachvollziehen, wie Pressefotos im vordigitalen Zeitalter in die Welt gebracht wurden, wobei Darchinger auch als Selbstvermarkter ein besonderes Geschick besaß. Er verschlagwortete seine wachsenden Bestände und belieferte die Redaktionen mit wiederverwendbaren Symbolbildern, deren Themen heute noch aktuell erscheinen.
Umweltzerstörung, Überwachungsstaat, Gesundheitssystem, alternative Energien und selbst die Globalisierung standen bereits in Bonner Zeiten auf der Tagesordnung eines geschäftstüchtigen Bildjournalisten – wobei Darchingers Motiv für die Globalisierung, die Schließung des Grundig-Werkes, heute niemanden mehr erschüttert. Gleiches gilt für seine Aufnahmen aus dem „Steiner-Ausschuss“, der 1973 die Republik bewegte, aber heute eher für Stirnrunzeln sorgt (es ging um angeblichen Stimmenkauf beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt). Zeitlos sind hingegen die Charakterköpfe, die Darchinger vor allem in den SPD-Größen Schmidt und Brandt entdeckte.
Das regierte Volk kommt in der Bonner Ausstellung vor allem bei Demonstrationen vor, als sich artikulierende Masse, aus der Darchinger mal eine erschöpfte Kommunistin, mal den Studentenführer Rudi Dutschke herauslöste. Es liegt wohl in der Natur des Politbetriebs, dass dessen Souverän eine Randfigur bleibt, so wie es in der Natur der Politik liegt, dass die Lage immer ernst ist – an diesen ewigen „Wahrheiten“ rüttelte auch Jupp Darchinger nicht. Als kritischer Komplize der Bonner Republik wirkt er heute ebenfalls etwas von gestern. Aber vielleicht konnte er seine Zeit auch nur deswegen so gut verstehen.
„Jupp Darchinger – Das Auge der Republik“, LVR-Landesmuseum Bonn, Colmantstr. 14-16, Di.-So. 11-18 Uhr, bis 14. September 2025