Bruce Springsteen griff in der ausverkauften Veltins-Arena Donald Trump in aller Schärfe an, ohne seinen Namen zu erwähnen.
„The Boss“ attackiert TrumpWarum man bei Bruce Springsteen auf Schalke hemmungslos heulen muss

Bruce Springsteen trat am 27.6. 2025 in Gelsenkirchen auf. Das Bild zeigt ihn vor ein paar Tagen im Berliner Olympiastadion.
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Beim dritten Lied fange ich an, unkontrolliert zu heulen. Es ist einfach zu viel der Gefühle, zu viel Trauer und Trost, so früh schon am Abend. „Bruce“, schallt es durch den Himmel über Gelsenkirchen, „Bruce, Bruce, Bruuuce.“ „Die mächtige E-Street-Band spielt heute für Euch“, verkündet der Angerufene.
Mit einem Credo hat Bruce Springsteen — schwarze Jeans, graues Hemd, dunkelgraue, zugeknöpfte Weste — das Konzert begonnen, eigentlich ist es ja ein Gottesdienst. Hat geschworen, dass wir uns niemals ergeben werden — „No Surrender“ ist der Song mit der berühmt gewordenen Zeile, nach der er mehr von einer Drei-Minuten-Single gelernt habe, als in seiner gesamten Schulzeit. Hat in einem zweiten Stück versprochen, dass uns seine Liebe niemals verlassen werde, mit seinen langjährigen Mitstreitern Nils Lofgren und Gary Tallent eine Gitarrenfront gebildet, angetrieben von Max Weinbergs Trommelschlägen. Der hatte seinen ersten Auftritt als Drummer mit sieben, gab bei einer Bar Mizwa der Band den Takt zu „When the Saints Go Marching in“ vor, und das macht er immer noch, nach all den Jahren. Auch wenn die erste Gitarren-Angriffswelle der Rock'n'Roll-Heiligen an diesem Sommerabend etwas schummelt: Tallent ist der Bassist der E-Street-Band, an seiner Stelle sollte eigentlich Little Steven stehen – aber der Mann mit der Bandana kuriert gerade eine Blinddarm-OP aus.
Bruce Springsteen will keine Schwäche zeigen
Das bleibt Auf Schalke unerwähnt, der Boss will keine Schwäche zeigen, die Reihen müssen geschlossen bleiben, der Feind ist stark. „Das Amerika, das ich liebe und über das ich für Euch gesungen habe“, fährt Springsteen fort, „ist derzeit in den Händen einer korrupten, inkompetenten und verräterischen Regierung. Steht mit uns gegen den Autoritarismus!“ Spricht’s und stimmt „Land of Hope and Dreams“ an, seine Überschreibung von Curtis Mayfields Aufruf „People Get Ready“ und des Gospel-Standards „This Train Is Bound for Glory“. Auf den LED-Wänden läuft die deutsche Übersetzung, „Darling, wenn Du müde bist, leg Deinen Kopf an meine Brust“. Das machen jetzt alle 51.000 Menschen im Stadion, jedenfalls in Gedanken. „This Train“, hebt der Chor an und dieser Zug aus Liebe, aus Solidarität, nimmt uns alle mit, „ihr braucht keine Fahrkarte, ihr müsst nur einsteigen“, singt Springsteen. Immer wieder scheint der Song im Crescendo zu enden, immer wieder legt der Sänger Kohlen nach und der Zug fährt noch einmal an. Bis die Tränen fließen, bis der Letzte mit an Bord ist.
Es ist nicht alles Liebe. Es geht um Widerstand, darum, in wessen Amerika wir leben, ja auch wir: Amerika ist eine Idee. Als „untalentiert, dumm und linksradikal“ hat Donald Trump Springsteen beschimpft, „eine vertrocknete Backpflaume“. Das ist fast schon wieder lustig. Aber der Boss lässt die Beleidigungen nicht eskalieren, Trumps Namen erwähnt er kein einziges Mal. Bereits 2020 hatte er den Gegner in „House of a Thousand Guitars“ als „kriminellen Clown“ herabgewürdigt, der den Thron gestohlen hat, um zu stehlen, was er nie besitzen kann. In Gelsenkirchen spielt er das Lied ganz allein auf der Akustikgitarre, die Kamera filmt ihn vom Bühnenhintergrund, zehntausend Menschen stärken ihm den Rücken. Er bleibt bei seiner Botschaft, immer deutlicher schallt sie durch die Stadien, gehört längst zu den Tagesnachrichten wie eine päpstliche Enzyklika.
Das Amerika, das ich liebe und über das ich für Euch gesungen habe, ist derzeit in den Händen einer korrupten, inkompetenten und verräterischen Regierung.
Jedes Lied scheint jetzt vom Trump-Land zu erzählen, die mit Pauke, Banjo und Schifferklavier trunken schunkelnde Deindustrialisierung-Anklage „Death to My Hometown“ ebenso wie das ernüchternde „Darkness on the Edge of Town“, oder das wutgläubige „The Promised Land“, für das er mit seiner Mundharmonika die Treppe zur ersten Zuschauerreihe herabsteigt, die Nähe seiner Fans sucht. Ein blondes Mädchen im Milchzahnalter hält den 75-Jährigen, umarmt ihn. „Rainmaker“ — den Song über einen Betrüger, der in der Dürre Regen verspricht — hatte Springsteen kurz vor Trumps erster Präsidentschaft geschrieben, jetzt stellt er ihm erneut eine Rede voran: „Sind in einem Land die Bedingungen für einen Demagogen reif, könnt ihr darauf wetten, dass auch einer auftauchen wird.“ Und später, vor „My City of Ruins“: „Ich habe immer versucht, ein guter Botschafter für Amerika zu sein. Aber nun verfolgen sie in meiner Heimat Menschen, nur weil sie ihre Meinung gesagt haben, stellen sich auf die Seite von Diktaturen, deportieren Bürger von den Straßen in die Gefängnisse anderer Länder.“ Das Gitarrensolo am Ende von „Rainmaker“ übernimmt der Chef persönlich, es klingt empört und gereizt – als könnte seine Gitarre wirklich, wie Woody Guthrie schrieb, Faschisten killen.
„Hungry Heart“ singen alle mit, 1980 war das sein erster Top-Five-Hit in den USA, dabei hatte er das Stück ursprünglich für die Ramones komponiert. Dann folgt „The River“, vom gleichen Album, eine Ballade über die sinkenden Erträge des amerikanischen Traums. Springsteen hält die Augen geschlossen, singt den letzten Refrain mit hängendem Kopf. Dann hebt er ihn wieder, heult mit Kopfstimme und zitternden Lippen die wortlose Melodie. Auf früheren Touren hat oft das Publikum diesen Part übernommen. Jetzt schultert der Sänger ganz allein das gesammelte Leid eines enttäuschten Landes, das Heulen will schlicht nicht enden, es bricht dir und mir und allen, die schwer schluckend auf die Bühne starren, das Herz. Schon in diesen zwei Minuten lernt man mehr als in zwölf Jahren Schule.
Der Trost ist Trotz: „Kommt, steht auf“, fordert Springsteen und alle Arme recken sich in die Höhe, mit geschlossener Faust. Das bleibt so, bei „Because the Night“, bei „Wrecking Ball“, bei „Badlands“. Die Hand in Hand durchs Dunkel des getroffenen World-Trade-Center-Turms irrenden Menschen seines 9/11-Songs „The Rising“ werden hier zur Menschheitsmetapher, die verrauchten Korridore zum Bild für die Verlustgeschichte des 21. Jahrhunderts. Kleiner geht’s nicht. Weil Größe zeigen gerade das Gegebene ist und weil das niemand glaubwürdiger kann, als dieser alte, aber unglaublich zähe Rock’n’Roller.
Der lange Zugabenteil ist ein einziger Brucegasmus. Der Schmerzensschrei von „Born in the U.S.A.“, die Fluchtfantasie von „Born to Run“. Ein Metallteil fällt von einem Videowürfel im Innenraum, verletzt drei Menschen, zum Glück nur leicht. Aber das bekomme ich und wohl auch die meisten Anderen nicht mit, zu sehr bannt die Bühne, „Bobby Jean“, „Dancing in the Dark“, „Tenth Avenue Freeze-Out“, dazu zeigen die LED-Wände Bilder des „Big Man“, des 2011 gestorbene E-Street-Band-Saxofonisten Clarence Clemons. Niemand wird hier aufgegeben, niemand zurückgelassen. Längst hat Clemons Neffe Jake den Saxofonpart übernommen.
Ein letztes gemeinsames Aufbäumen zu „Twist and Shout“, dann verabschiedet sich der Boss aus dem Pott mit Bob Dylans „Chimes of Freedom“: Die Glocken der Freiheit läuten mitten im dunkelsten Unwetter. Läuten für Liebenden, für Geflüchtete, für Blinde und sogar für Gehörlose, für Mütter und Kinder und für alle, die jetzt zu den Ausgängen streben, mit getrockneten Tränen und gefestigtem Glauben an das Gute in uns allen, den inneren Bruce. Mitten im Set hat Springsteen den großen James Baldwin zitiert: „Es gibt nicht so viel Menschlichkeit in der Welt, wie man es sich wünscht. Aber es gibt genug.“