Kultfilm „Saltburn“Wie „Harry Potter“ mit Sperma-Einsatz

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Barry Keoghan streckt sich in einer Szene von „Saltburn“ mit freiem Oberkörper im Gras aus.

Der irische Schauspieler Barry Keoghan in „Saltburn“

Weder an der Kinokasse noch bei der Kritik konnte „Saltburn“ überzeugen. Aber im Internet ist der Film gerade Gesprächsthema Nummer Eins.

Als Emerald Fennells schwarze Komödie „Saltburn“ Ende November in den USA anlief, blieb der große Erfolg aus, selbst in seiner besten Woche belegte der Film nur den achten Rang der Kinocharts. Auch die Kritiken fielen verhalten aus. Selbst die positivsten Besprechungen warfen der Regisseurin vor, ihre Gesellschafts-Satire mit stumpfem Schwert zu führen und sich allzu sehr auf sensationslüsterne Versatzstücke zu verlassen. Außerdem gehe dem Film im dritten Akt die Luft aus. In Deutschland schaffte es „Saltburn“ gar nicht erst auf die große Leinwand, wurde stattdessen kurz vor Weihnachten in die Content-Mühle von Amazon Prime eingespeist.

Ein Schicksal, das schon viele andere Filme zuvor ereilt hat. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass „Saltburn“ jetzt, fast ein halbes Jahr nach seiner Premiere auf dem Telluride Festival in Colorado, zum Film der Stunde geworden ist, zum ersten großen Hype des Jahres 2024. Man muss ihn gesehen haben, allein, um mitdiskutieren zu können. Oder wenigstens, um zu verstehen, warum Sophie Ellis-Bextors 2001er-Single „Murder on the Dancefloor“ plötzlich weltweit wieder in die Charts eingestiegen ist, im Vereinigten Königreich sogar auf Platz 8. In der Schlussszene des Films – Achtung, Spoiler! – tanzt Hauptdarsteller Barry Keoghan zum nostalgischen Club-Hit nackt durch ein herrschaftliches Anwesen.

Auf Tiktok finden sich nun zahllose Nachahmer dieses „Saltburn-Dance“, junge Menschen, die Keoghans Choreografie in den Villen und Schlössern ihrer Eltern nachtanzen. Allerdings züchtig bekleidet und im frontalen Widerspruch zu dem klassenkämpferischen Aspekt des Films. Der lässt sich anscheinend problemlos ausblenden, auch das ist eine Lehre, wenn nur das Erbe dementsprechend hoch ausfällt. Laut dem Fachmagazin „Deadline“ sind Tiktok-Clips mit „Saltburn“-Thema inzwischen rund vier Milliarden Mal aufgerufen worden.

Barry Keoghan, bekannt unter anderem aus Christopher Nolans „Dunkirk“, Yorgos Lanthimos‘ „The Killing of a Sacred Deer“ und Martin McDonaghs „The Banshees of Inisherin“, spielt in „Saltburn“ den jungen Oxford-Stipendiaten Oliver Quick, der sich in den feierfreudigen Aristokraten Felix Catton (Jacob Elordi aus „Euphoria“) verguckt - oder in dessen privilegiertes Leben. Felix erkennt in Oliver vor allem ein neues Wohlfahrtsprojekt und lädt ihn in den Sommersemesterferien nach Saltburn ein, das imposante Anwesen seiner Familie. So weit, so „Wiedersehen mit Brideshead“, die Regisseurin hat den Film sogar im gleichen 4:3-Format gedreht wie die Fernsehserie nach Evelyn Waughs Romanklassiker. Aber der Film nimmt eine völlig andere Richtung. Die könnte man tragisch nennen, würde denn irgendeine Figur hier unser Mitleid erwecken.

Eben diese Abwesenheit einer Identifikationsfigur hat man Emerald Fennell vorgeworfen. Das war schon bei ihrem Debütfilm „Promising Young Woman“ so, in dem Carey Mulligan eine junge Frau spielt, die sich nur scheinbar betrunken vor Clubs von Männern abschleppen lässt, um diese dann mit ihrem übergriffigen Verhalten zu konfrontieren. Aber Mulligans Charakter ist ebenso wenig eine Jungfrau von Orleans der MeToo-Bewegung, wie Barry Keoghans Oliver jetzt einen Racheengel der Unterschicht verkörpert.

Fennell hat nicht nur in der Serie „The Crown“ die Rolle der jungen Camilla Parker Bowles übernommen, sie entstammt auch selbst der Oberschicht, in die sich ihr Protagonist erfolgreich hinein intrigiert. Was prompt zu weiteren Anschuldigungen führte: Will uns „Saltburn“ etwa davor warnen, wie leicht sich die Superreichen von den Besitzlosen ausnutzen lassen? Oder ist der Film umgekehrt eine üppige, aber geistig schlichte Illustration der Jean-Jacques Rousseau zugeschriebenen Sentenz: „Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, werden sie die Reichen essen“?

Regisseurin Emerald Fennell spielte Camilla Parker Bowles in „The Crown“

Darüber lässt sich trefflich streiten, auch wenn der Grund, dass sich Menschen überhaupt die Mühe machen, wohl eher in einigen Szenen zu finden ist, die man im Büro, auf dem Schulhof und in der WhatsApp-Gruppe mit wissendem Lächeln herbeizitiert. Den Slogan „eat the rich“ bebildert der Film nämlich auf eine herrlich perverse, wenn auch nicht weniger drastische Weise: Einmal schlürft Oliver heimlich das Badewasser aus, in das Felix gerade onaniert hat, kurz darauf verführt er dessen Schwester, befriedigt sie oral, obwohl sie ihn zuvor gewarnt hat, dass dazu gerade nicht die günstigste Zeit des Monats wäre. Wenn Oliver dann mit blutig verschmiertem Mund selbst in die Wanne steigt, hat Fennell ein Bild gefunden, dass man so schnell nicht vergisst.

Die große Halle im Oxforder Christ-Church-College, das Zwei-Jungs-ein-Mädchen-Dreieck, der snobistische Konkurrent, die leicht verrückten Erwachsenen: „Saltburn“ ist wie „Harry Potter“ mit Sperma-Einsatz.

Später wirft sich Oliver noch unter eindeutigen Stoßbewegungen nackt auf einen frischen Grabhügel. Subtil ist das nicht, aber eindrücklich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. In der Grobmaschigkeit seiner Metaphern erinnert „Saltburn“ vor allem an zwei Erfolgsfilme der vergangenen Jahre, an Ruben Östlunds „Triangle of Sadness“ und an Adam McKays „Don’t Look Up“. Während Östlunds Reichen-Satire immerhin in Cannes die Goldene Palme gewonnen hat, fiel McKays starbesetzte Klimakatastrophen-Parabel bei der Kritik durch. Und wurde gleichwohl ein Riesenerfolg für Netflix.

Medien sprechen in so einem Fall, etwas beleidigt, von einem „criticproof picture“, einem Film, dem keine Negativ-Kritik etwas anhaben kann. Das gilt auch für „Saltburn“. Optische Opulenz geht hier vor psychologischer Wahrscheinlichkeit. Und egal, ob sich in der Geschichte einer Obsession eine Fabel über soziale Ungleichheit verbirgt, oder andersherum: Der Film scheint sich selbst nie ganz im Klaren darüber zu sein, was genau eigentlich sein Thema ist. Das alles erweist sich für die Online-Tauglichkeit des Films aber als Stärke. „Saltburn“ macht wenig Sinn, aber er liefert die krassesten Memes für unseren Sozialneid und unser ungebremstes Verlangen. Mehr wollten wir doch gar nicht.

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