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Kunstmuseum BonnMan ist ein Esel, in Europa zu leben

Lesezeit 5 Minuten
Männer sitzen in einer Opiumhöhle.

Sigmar Polkes Fotografie „Pakistan“ entstand 1974 und ist jetzt im Kunstmuseum Bonn zu sehen 

Das Kunstmuseum Bonn zeigt eine Ausstellung über das Fernweh der europäischen Kunstmoderne von zirka 1900 bis heute.

Über den Nutzen des Fernwehs für Mitteleuropäer gehen die Meinungen entschieden auseinander. „Man ist ein Esel, in Europa zu leben, teuer und es hat absolut nichts“, notierte etwa der Kölner Weltenbummler Wilhelm Joest, während Marcel Proust vermutlich im Bett liegend notierte, die wahre Entdeckungsreise bestehe darin, sich neue Augen zu verschaffen. Pablo Picasso nahm letzteren offenbar beim Wort und erkundete die Tiefen Afrikas im ethnologischen Museum von Paris.

Auch bei August Macke sind sich die Experten uneins, ob dessen Kurztrip nach Tunesien seinen kunsthistorischen Legendenstatus tatsächlich verdient. Im April 1914 reiste Macke gemeinsam mit den Malerfreunden Paul Klee und Louis Moilliet für zwei Wochen nach Tunis und kam mit drei vollen Skizzenbüchern und 33 Aquarellen heim – darunter einige der schönsten Bilder seines in Schönheit leuchtenden Werks. Ein Wendepunkt (wie für Paul Klee) war die Reise für Macke aber wohl nicht. Die Idee einer von autonomen Farben durchsonnten Welt hatte er bereits im Gepäck, und außerdem fehlte ihm die Zeit; am 26. September 1914 starb er im Ersten Weltkrieg.

Trotzdem ist Macke ein guter Kandidat, um mit ihm einen Ausflug durch das Thema der modernen Künstlerreise zu beginnen – zumal in seiner Heimatstadt Bonn. Barbara J. Scheuermann schöpft für ihre Ausstellung nicht nur kräftig aus der eigenen Macke-Sammlung, sondern hebt auch ein Macke-Zitat in den Titel: „Ich habe Heimweh nach neuen Dingen“. In diesem Paradox hatte es sich die europäische Kunstmoderne bestens eingerichtet, indem sie behauptete, im Unbekannten zu Hause zu sein, während sie in München, Paris oder Bonn im Arbeitsstübchen saß. Bei Macke klang das dann so: „Je weiter man vom Orient wegkommt, desto mehr lernt man ihn schätzen.“

Was ist die Kunst ohne Aneignung und Missverstehen?

Selbstredend hat es etwas von einem Zwergenaufstand, einem Macke, Klee, Picasso oder auch Wassily Kandinsky heute deren „typisch“ europäischen Selbstwidersprüche vorzuhalten. Sie nahmen aus der Fremde mit, was ihnen gefiel, und ob sie es verstanden hatten, war lange zweitrangig – was wäre die westliche Kunstgeschichte ohne kulturelle Aneignung und produktives Missverstehen? Allerdings sind die naturalistischen Skizzen, die etwa der viel reisende Kandinsky von seinem Tunis-Aufenthalt im Winter 1904/05 mitbrachte, noch denkbar weit entfernt vom „Blauen Reiter“ geschweige denn seiner theosophisch begründeten Abstraktion. Sie fallen eher in die unbestimmte Kategorie von „Andere Dinge sehen, auf andere Gedanken kommen“.

Auch die Bilder, die seine Begleiterin Gabriele Münter aus Tunis heimbrachte, gleichen eher gemalten Schnappschüssen. Interessanter sind daneben die Straßenfotografien, die Münter offenbar neben ihren Skizzen als Vorlagen für ein in Bonn gezeigtes Temperabild verwendete; aus einem Fotoalbum der Familie Macke sind ebenfalls etliche Reisefotos zu Vergleichszwecken ausgestellt. Mit derlei Erdungen im Touristisch-Alltäglichen arbeitet Scheuermann ganz nebenbei der kunsthistorischen Mythisierung von Reiseerlebnissen entgegen. Auch im Katalog vergisst sie nicht zu erwähnen, dass sich Kandinsky und Münter die ersten Wochen vor dem stürmischen Wetter im Hotelzimmer verkrochen und Münter unter heftigen Zahnschmerzen litt.

Gerade in der Abteilung zur Klassischen Moderne lässt sich leider nicht übersehen, dass die Heimweh-Schau im Kunstmuseum Bonn eher die Sparversion einer großen Themenausstellung ist. Von Klee wird lediglich ein einziges Bild aus dem Jahr 1939 gezeigt und von Münter und Kandinsky hängen hübsche Nebenwerke an der Wand. Auch in den beiden anderen Kapiteln, den 1970er Jahren und der Gegenwart, bietet Scheuermann lediglich Stippvisiten, aber immerhin aufschlussreiche, wie die von Sigmar Polke verfremdeten Fotografien seiner Reise auf dem „Hippie-Trail“ durch Afghanistan und Pakistan. Polke nahm viele Opiumhöhlen und einen Bärenkampf auf; was wir in Bonn hingegen nicht sehen, sind seine Gemälde mit „orientalisch“-alchemistischen Pigmenten.

Eine Gasse in Tunis.

August Macke Blick in eine Gasse, 1914

Joseph Beuys‘ Begegnung mit einem Kojoten in New York lässt sich dagegen weder als Bildungs- noch als Entdeckungsreise qualifizieren; hier ging es wohl eher darum, den amerikanischen Kontinent mit der Beuys’schen Philosophie zu kolonisieren. Bei Lothar Baumgarten finden wir das europäische Fernweh in Karl-May-Manier persifliert: In seiner Diapräsentation über eine Amazonas-Expedition mit dem Motorschiff Remscheid mischt er Bilder aus Büchern mit Aufnahmen vom urwaldigen Niederrhein. Ein Reisender zwischen den Welten war Hamid Zénati. Der gebürtige Algerier lebte lange in München und verwob in seinen farbenfrohen Textilarbeiten nordafrikanische und europäische Einflüsse. Vom Kunstmarkt hielt er sich zeitlebens fern, erst posthum wurde er entdeckt.

Am Beispiel Hamid Zénati zeigt sich, dass die Welt nicht jedem in gleichem Maße offensteht, insbesondere nicht der europäische Kontinent für afrikanische Migranten; sein Aufenthaltsstatus in der EU war lange ungeklärt. An diesem Thema arbeitet auch Yto Barrada, die in einer Fotoserie ausgesucht trostlose „Orte des Übergangs“ in Tanger und der marokkanischen Grenzregion zu Europa zeigt. Manaf Halbouni stellt sich hingegen die europäische Welt von heute vor, hätten die Araber den Kontinent dauerhaft erobert. Die Medien dieses Gedankenexperiments sind Autostraßenkarten, die er mit arabischen Schriftzeichen und Einfärbungen überarbeitet.

Heute ist Europa ein transkultureller Kontinent, in dem man die „Fremde“ in migrantisch geprägten Straßen oder Vierteln auch gleich um die Ecke finden kann; Reisen nach Tunis sind touristischer Alltag und keine künstlerischen Wendepunkte mehr. Geht der Kunst dadurch etwas verloren, was sie nicht an außereuropäischen Einflüssen gewinnt? Peter Piller, Hamburger Künstler mit urdeutschem Namen, hat diese Frage bereits 2006 mit einer fotografischen Wanderung an der Peripherie Bonns beantwortet. Seine Aufnahmen zeigen die ehemalige Bundeshauptstadt von einer Seite, die in ihrer absurden Scheußlichkeit schon wieder herzerwärmend ist. Man hat diese urbanen Schmutzränder so ähnlich bereits Millionen Mal gesehen, aber so erfolgreich ausgeblendet, dass man daraus nur schließen kann, dass uns das allzu Vertraute schon wieder fremd erscheint. Das Unbekannte ist überall. Man wäre ein Esel, anderswo leben zu wollen.


„Heimweh nach neuen Dingen – Reisen für die Kunst“, Kunstmuseum Bonn, Di.-So. 11-18 Uhr, Mi. 11-19 Uhr, bis 7. September. Katalog: 15 Euro.