Lucerne Festival Contemporary OrchestraNaturgewalt statt gepflegte Konzertmusik

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Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter Dirigent Sylvain Cambreling. 

Köln – Heftige Wirbel auf vier großen Trommeln lassen die Philharmonie erzittern. Man erlebt weniger Musik im Sinne eines linearen oder gar erzählenden Klangverlaufs als vielmehr abrupt wechselnde Zustände. Wolfgang Rihms besonders groß und dunkel besetztes Orchesterstück „Sub-Kontur“ von 1975 vermag noch heute zu erschüttern. Der damals gerade 24jährige Komponist – der im März seinen siebzigsten Geburtstag feierte – rüttelt hier ebenso an der symphonischen Tradition wie an der von ihm als verkopft und verengt empfundenen Avantgarde.

Eruptive Schlagzeugkaskaden verdecken sämtliche melodischen und harmonischen Konturen, die nur als blasse Schemen aus schattenhaftem Untergrund hervortreten. Plötzlich aber verdichtet sich das richtungslose Geschehen zu höchster Expressivität wie in einer Mahler-Symphonie. Doch schon im nächsten Moment zerfällt der tonale Überschwang wieder in heterogene Trümmer. Der Apparats wird bis zum Bersten gespannt: Die Violinen versteigen sich in kreischende Höchstlagen, die Blechbläser und drei Kontrafagotte versinken in bodenlos düsteren Tiefen. Mehr als Naturgewalt denn gepflegte Konzertmusik tosen dann unentwegt wütende Ausbrüche über das Publikum hinweg.

Lucerne Festival Contemporary Orchestra mit Werken der Komponistin Bettina Skrzypczak

Unter Leitung von Sylain Cambreling spielte das Lucerne Festival Contemporary Orchestra präzise, kraftvoll, furios. Die jungen Musikerinnen und Musiker absolvierten soeben die Lucerne Festival Academy, 2003 von Pierre Boulez gegründet und seit 2016 von Rihm geleitet. Weniger schroff als dessen Frühwerk wirkte das am Vorabend in Luzern uraufgeführte „Contra“ von Bettina Skrzypczak. Die polnisch-schweizer Komponistin arbeitet mit Entgegensetzungen, die man auch als traditionelle Kategorien wie Kontrapunkt oder Themendualismus kennt: Puls-Fläche, laut-leise, schnell-langsam, hart-weich, hoch-tief. Die Kontraste prallen auf engstem Raum zusammen, bilden aber auch eine klare dreiteilige Bogenform mit verkürzter Reprise.

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Zusammen mit Rihm leitete Dieter Ammann das Luzerner Kompositionsseminar. Wie Skrzypczak 1962 geboren, gestaltet er in seinem 2000 bis 2010 entstandenen Orchesterzyklus „Core – Turn – Boost“ viele klangsinnliche Stellen, wahlweise impressionistisch flirrend, tonal schwelgend, geräuschhaft verschleiert oder impulsiv aufbrausend. Über weite Strecken forciert der Schweizer jedoch alle Instrumentalgruppen im Tutti, so dass ihre Farben zu clusterartigem Grau abstumpfen. Wie bei der überladenen Instrumentation scheint die Musik auch sonst immer alles gleichzeitig sein zu wollen: virtuos und einfach, geräuschhaft und tonal, analytisch und expressiv. Doch ohne klare Material- und Formkonzeption wirken alle effektvollen Wechsel schnell beliebig.

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