Lorenz Hemicker hat die Geschichte seines Großvaters recherchiert, der am NS-Massenmord im lettischen Rumbula beteiligt war.
„Mein Großvater, der Täter“Wie die Folgen des NS-Fanatismus eine Familie zerstören

Zahlreiche Gäste nehmen am 29.11.2016 in Rumbala (Lettland) an der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Massenmords an Juden vor 75 Jahren teil.
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Es spricht einiges dafür, dass Hass mehr faszinieren kann als Liebe, Terror mehr als Friedfertigkeit. Das gilt auch für die Zeit des Nationalsozialismus, über die wir fast alles wissen, die man aber in ihrer Monstrosität auch 80 Jahre nach ihrem Ende nicht verstehen kann. Ist diese Menschheitskatastrophe als geschichtliches Phänomen schon unbegreiflich, ist es umso verstörender, wenn eigene Familienangehörige in den unmenschlichsten Teil der Nazi-Verbrechen verstrickt waren: den industriell organisierten Holocaust.
Darum geht es im gerade erschienen Buck von Lorenz Hemicker. Unter dem Titel „Mein Großvater, der Täter“ schildert der 1978 geborene „FAZ“-Journalist die langjährige und aufwendige Spurensuche, um die Geschichte seines Großvaters Ernst Hemicker auszuleuchten, dessen Beteiligung als SS-Offizier an dem Mord an Jüdinnen und Juden im lettischen Riga.
Nach dem Krieg zeigte der Täter ein erschreckend banal-biederes Gesicht
Aber es geht dem Enkel auch darum, die Motive und die Entwicklung Ernsts zu verstehen, der in den Erzählungen seiner Familie auch ein anderes, ein erschreckend banal-biederes Gesicht zeigte, der eingebunden war in das kleinstädtische Leben im sauerländischen Kierspe, der geachtetes Mitglied des Schützenvereins war und ein unauffälliges Familienoberhaupt. Wie konnte so einer zum willigen Helfer eines Verbrecherregimes werden und welche Rolle hat er genau gespielt?
Es sind nur etwas kryptische Andeutungen seines Vaters, durch die Lorenz Hemicker von den Untaten seines Großvaters erfährt. Nach und nach weiht der Vater seinen Sohn ein: Großvater Ernst hat als SS-Mann und Ingenieur an der Organisation der massenhaften Erschießung von rund 27.000 Jüdinnen und Juden im Wald von Rumbula bei Riga maßgeblich mitgewirkt, indem er die Gruben und Rampen vor Ort konstruierte. Lorenz beschließt daraufhin, mit seinem Vater nach Lettland an den Ort des Massakers zu reisen, um dort mehr über das grausame Verbrechen zu erfahren. Kurz vor Antritt der Reise stirbt der Vater unerwartet und Lorenz verschiebt seinen Plan. Doch dann bricht er auf zu einer Recherchereise in eigener Sache, besucht die Orte, an denen sein Nazi-Großvater so unheilvoll gewirkt hat, trifft und spricht Überlebende des Verbrechens.
Warum wurden solche Männer nie wirklich zur Rechenschaft gezogen?
Aber auch in Kierspe, im Heimatort der Hemickers, forscht der Enkel nach, befragt Familienmitglieder, Bekannte und Freunde Ernsts, um ein Psychogramm seines Großvaters zu erhalten. Denn Ernst war nicht nur SS-Mann, er war auch sorgender Familienvater und respektiertes Mitglied der Stadtgesellschaft. Er kam als Sohn eines gut situierten Bauunternehmers zur Welt, nach mittlerem Schulabschluss und einem dreijährigen Praktikum im väterlichen Betrieb übernahm er die Firma. Voller Begeisterung beteiligte er sich am Ersten Weltkrieg, empfand die deutsche Niederlage als Schmach, verachtete die junge Demokratie der Weimarer Republik und schloss sich früh den Nationalsozialisten an. Parallel sorgten die wirtschaftlichen Turbulenzen der Zwanziger Jahre für den Konkurs des kleinen Unternehmens, Ernst gehört zu den vielen Absteigern dieser Zeit. Umso enthusiastischer engagierte er sich in den paramilitärischen Wehrvereinen und gründete eine Ortsgruppe Kierspe der SS.
Warum wurden Männer wie Ernst Hemicker nie wirklich zur Rechenschaft gezogen, warum lebten sie nach dem Krieg weitestgehend unbehelligt und gesellschaftlich angesehen, als wären sie nie zu Tätern geworden? Zumal Ernst nie wirkliche Reue erkennen ließ, nie dem rassistischen und antisemitischen abgeschworen hat? Diese Frage stellte sich Enkel Lorenz bei seiner Spurensuche und er stellt sie auch einem Untersuchungsrichter, der in den Sechziger Jahren gegen Ernst Hemicker wegen Beihilfe am zigtausendfachen Massenmord ermittelt hat. Er sei nur Befehlsempfänger ohne eigene Entscheidungskompetenz gewesen, argumentierte Hemicker wie die meisten anderen Nazi-Verbrecher – und war damit erfolgreich in einer Gesellschaft, die damals weitgehend noch kein gesteigertes Interesse daran hatte, diese mörderische Epoche tatsächlich aufzuarbeiten.
Lorenz Hemicker zeigt auf, wie sich Familien- und Weltgeschichte verbinden. Er beteiligt Leserinnen und Leser Schritt für Schritt an seiner Recherche, verbindet persönliche Betroffenheit und journalistisch-professionelle Distanz. An manchen Stellen fehlt vielleicht die deutlichere Ausleuchtung des juristischen Umgangs mit der Schuld Ernst Hemickers. Aber wie die Folgen des Fanatismus eine Familie zerstören, wie noch Generationen nach den Untaten und dem Tod des Täters (Ernst Hemicker starb 1973) traumatisiert werden, macht das mehr als wett. Dazu trägt die offen bleibende Frage bei: Wie hätte sich unter den damaligen Umständen die heutige Generation verhalten? Wäre sie immun gegen Rassismus und Unmenschlichkeit? Der Blick auf aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen lässt daran zweifeln.
Lorenz Hemicker: „Mein Großvater, der Täter“, Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.