Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich beeindruckten in der Kölner Philharmonie mit ihrer Darbietung von Mahlers „Auferstehungssymphonie“.
Paavo Järvi und Tonhalle-Orchester ZürichWie eine Rettung durch höhere Mächte

Der estnische Dirigent Paavo Järvi. Seit 2019 ist er Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters Zürich
Copyright: Kaupo Kikkas
Obwohl – oder auch gerade weil – unsere Gesellschaft weitgehend säkularisiert ist, gibt es ein ungebrochen starkes Bedürfnis nach Transzendenz. Angesichts empfundener eigener Ohnmacht und Hilflosigkeit der Politik gegenüber globalen Kriegen, Krisen und Katastrophen ersehnen wir Rettung durch höhere Mächte. Ein solches Verhalten mag irrational und wenig zielführend sein, prägt aber das Gefühls- und Kulturleben. Auch deswegen gehört Gustav Mahlers 1894 fertiggestellte „Auferstehungssinfonie“ trotz immensem Aufwand zu den am häufigsten gespielten Werken. Mit ihrer fast eineinhalbstündigen Entwicklung von düsterem c-Moll zu triumphalem Es-Dur ist sie Ausdruck des Wunsches nach Sinn, Leben, Lieben, Frieden und Aufgehen in einem höheren Ganzen.
Schroffe Gegensätze
Der riesenhafte Kopfsatz lässt schroffe Gegensätze aufeinander prallen. Kontrapunkt meint hier nicht bloß die Kombination von zwei und mehr Stimmen, sondern die Konfrontation unterschiedlicher musikalischer Stile und Sphären. Düstere Trauerzüge inklusive dem „Dies irae“-Motiv aus der lateinischen Totenmesse verkehren sich zu siegreich strahlenden Märschen; zarte Idyllen werden von katastrophischen Einbrüchen weggefegt; zwischen drohenden Dissonanzen reißt plötzlich der Himmel auf; Signale zum Durchbruch münden schlagartig in Lähmung und Zerfall. Nach den Zäsuren setzt mehrmals die Bassgruppe neu an, weshalb die Kontrabässe und Violoncelli direkt hinter den ersten Geigen als kompakter Riegel platziert sind. In und zwischen den nachfolgenden vier Sätzen setzen sich die Unvereinbarkeiten fort und streben immer drängender nach Versöhnung.
Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich arbeiten alle Extreme und Spannungsbögen plastisch und packend heraus. Den zarten „Andante“ lassen sie am Ende förmlich verebben und erstarren, damit die Paukenschläge des attacca anschließenden Scherzo umso impulsiver herausplatzen und Teile des Publikums erschrecken. Dem durch alle Orchestergruppen motorisch schnatternden Perpetuum Mobile „In ruhig fließender Bewegung“ versuchen wilde Tutti-Ausbrüche zu entkommen. Der vierte Satz „Urlicht“ benennt die existentielle Situation und Programmatik der Symphonie mit volkstümlichem Wirklichkeitssinn und Glauben: „Der Mensch liegt in größter Pein! / Je lieber möchte' ich im Himmel sein“. Mezzosopranistin Anna Lucia Richter singt das „Wunderhorn“-Lied wunderbar weich, mit dunklem Timbre.
Der fünfte und letzte Satz greift die kontrastierenden Brocken des Kopfsatzes auf. Mit instrumentalen Chorälen, Märschen, Signalen und Fernorchestern von außerhalb des Saals wird der finale Einsatz des Chors vorbereitet. Beim großen Appell rufen Posaune, Trompete und Schlagzeug von links und rechts hinter der Bühne zum Jüngsten Gericht. Dann erst beginnt die von Florian Helgath einstudierte Zürcher Sing-Akademie auf der Chorempore ganz verhalten im Sitzen, ohne jede sichtbare Bewegung, zu singen. Mari Eriksmoens leuchtender Sopran kommt wie ein tröstender Stern dazu. Und endlich recken zum triumphalen Auferstehungs-Choral alle sechs Hörner die Trichter nach oben, braust die Orgel, klingen Glocken, glänzen Becken und Tamtam. Das überwältigende Tutti scheint die Decke der Kölner Philharmonie zu sprengen – frenetischer Beifall für eine großartige Aufführung.

