Der Historiker Gabriel Zuchtriegel erzählt in „Pompejis letzter Sommer“ den Untergang der römischen Stadt lebendig und packend nach.
„Pompejis letzter Sommer“Was uns die Antike noch zu sagen hat

Ein Archäologe säubert ein Fresko in der archäologischen Zone in Pompeji.
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„Man sieht nur, was man weiß“, schrieb Goethe 1819 in einem Brief an den Kanzler von Müller. Diese Weisheit dürfte sich für viele Pompeji-Touristen bewahrheiten, die dort etwas ratlos und überfordert durch die Ausgrabungen stolpern, somit also „sehen“, ohne zu „wissen“. Da entsteht eine kognitive Lücke, die auch der übliche Reiseführer nicht zu überbrücken vermag.
Als Lückenschließer für eine Besuchsnachbereitung und, noch besser, eine -vorbereitung bieten sich auf jeden Fall die Bücher des deutsch-italienischen Archäologen Gabriel Zuchtriegel (Jahrgang 1981) an, der seit 2021 als Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji amtiert. Auf „Vom Zauber des Untergangs“ (2023) folgt jetzt – thematisch eng benachbart und sich teils auch überschneidend – „Pompejis letzter Sommer“. Beide Arbeiten brachten beziehungsweise bringen es auf die Bestsellerliste – was ein Indiz dafür sein mag, dass Zuchtriegel tatsächlich zielgenau auf ein bislang nicht bedientes Publikumsverlangen reagiert.
Wie schafft er das – auch in dem aktuellen Buch? Nun, er überführt wissenschaftliche Erkenntnisse ohne (allzu eklatanten) Niveauverlust in eine sinnlich-plastische, mit reichem Bildmaterial unterfütterte Darstellung, die er immer wieder mit Berichten aus seiner beruflichen Tätigkeit, also den fortschreitenden Grabungsarbeiten in Pompeji, verbindet. Mythen- und Religionsgeschichte, Kunst- und Sozialhistorie werden dabei auf eine Weise gekoppelt und lebendig, die den interessierten Gegenwartsmenschen unmittelbar zu packen vermag. Er blickt in einen „fernen Spiegel“ (dies die glückliche Formel der US-Historikerin Barbara Tuchman): Die Antike des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, konserviert unter den Ascheschichten des Vesuvausbruchs, ist der modernen Lebenswelt rätselhaft entrückt – und zugleich auf eine unheimliche Weise nah.
Pompeji ist uns zugleich unheimlich nah und rätselhaft entrückt
Trägt man – und Zuchtriegel hilft dabei nachdrücklich – die Lasuren der Idealisierung und Verklärung von ehedem ab, kommt all das zum Vorschein, was wir aus eigener Erfahrung nur zu gut kennen: Ausgrenzung und Ausbeutung, Lebensgier und Zynismus, Herrschsucht und Korruption. Der Autor verstärkt dieses Nähegefühl noch suggestiv, indem er lässig unsere Alltagssprache über die antiken Lebensverhältnisse blendet: Menschen, Tiere und Götter realisieren da zum Beispiel eine WG, eine Wohngemeinschaft unter in stetem Fluss befindlichen Konditionen. Ist das ein billiger Aktualisierungstrick? Vorsicht, selbst Thomas Mann scheute sich nicht, in seine „Joseph“-Romane Begriffe wie „Sandwich“ einzuführen.
Wie nun also? Pompejis „letzter Sommer“ ist selbstredend der des Jahres 79, an dessen Ende Lapilliregen und pyroklastische Ströme des nahen Vulkans die römische Provinzstadt auslöschten. Zuchtriegel liest die Schrift des untergegangenen Gemeinwesens und konstatiert nicht weniger als eine Zeitenwende im Umfeld der Katastrophe: Die alten, aus Griechenland (Dionysos-Kult) und Ägypten (Isis-Kult) eingeführten Götter sind zwar noch irgendwie da. Unter anderem zeigen das die herrlichen Wandmalereien in den Villen der Begüterten, etwa in der Villa der Mysterien, deren einander scheinbar widersprechende Motive der Forschung bis heute massive Deutungsprobleme aufgibt.

Garten und Peristyl im Haus der Vettii, einem Stadthaus im römischen Pompeji
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Aber der Umgang mit den antiken Gottheiten hat etwas Spielerisch-Unverbindliches, etwas Zitathaftes bekommen. Kurzum: Nicht die Glut des Vulkans, wohl aber die Glaubensglut ist erloschen. Gleichsam vor der Tür steht als neue Religion das Christentum, in dessen Zeichen sich das römische Weltreich fundamental umgestalten und dann letztlich auch zugrunde gehen wird.
Zuchtriegel stellt eine spektakulär-steile These auf
Das ist freilich eine spektakulär-steile geschichtsphilosophische These (sie dringt bis in den Untertitel des Buches vor: „Als die Götter die Welt verließen“), die auch nicht restlos überzeugt – jedenfalls dann nicht, wenn man sie, wie Zuchtriegel es tut, unmittelbar mit Pompeji kurzschließt. Tatsächlich muss der Autor sie dadurch stützen, dass er eben oft genug von Pompeji weggeht – etwa nach Galiläa, wo 46 Jahre vor dem Vesuvausbruch ein aufsässiger Wanderprediger den Tod am Kreuz starb. Keine Frage, Christen als eine spleenige Sekte waren auch – Inschriften beweisen es – in Pompeji bekannt. Das heißt aber nicht, dass Anhänger des neuen Glaubens in der Stadt gewohnt, ihren spirituellen Background substanziell geprägt hätten.
Immerhin wurde in Pompeji diese Inschrift aus zwei Worten gefunden: „Sodom Gomorra“. Das kommt indes aus dem Alten Testament, der Verfasser war mit der jüdischen Tradition vertraut, er brauchte kein Christ zu sein. Mit Bezug auf Pompeji wurde hier so oder so eine Art Prophetie formuliert: Sodom und Gomorra, Inbegriffe des moralischen Verfalls, waren ebenfalls zerstört worden – von Gott, nicht von einem Vulkan. Auch der Untergang Pompejis wurde freilich bis in die christlich imprägnierte Romanliteratur späterer Zeiten hinein (Edward Bulwer-Lytton) als Bestrafung eines Gemeinwesens verstanden, das nichts Besseres verdient hatte.
Zuchtriegel lässt – das klang bereits an – keinen Zweifel daran, dass es seinerzeit im Pompeji hoch herging, die entsprechenden Passagen gehören zu den eindringlichsten seines Buches: Prostitution war weit verbreitet und auch gesellschaftlich akklamiert. Zwangsweise zu Diensten standen oft genug Sklavinnen, die auch sonst, wie ihre männlichen Leidensgenossen, nichts zu lachen hatten und nach vermeintlichen Fehltritten grausamst bestraft wurden. Nichts da mit „klassischer Humanität“. Wer allerdings heute darüber überlegen die Nase rümpfen zu müssen glaubt, sollte sich wenigstens fragen, wer Jeans und Hemd gefertigt hat, die er gerade am Leib trägt.
Gabriel Zuchtriegel: „Pompejis letzter Sommer. Als die Götter die Welt verließen“, Propyläen, 316 Seiten, 33 Euro

