Heinrich August Winkler ist einer der prominentesten deutschen Historiker. Nun hat er mit „Warum es so gekommen ist“ seine Erinnerungen vorgelegt.
Historiker Heinrich August WinklerWer nur erzählt, was war, verkürzt Geschichtsschreibung womöglich

Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler
Copyright: Anna Weise
„Warum es so gekommen ist“ – dieser Titel mag auf Anhieb artifiziell-ungelenk herüberkommen. Dabei steckt dahinter ein komplettes Tiefenprogramm: Den klassischen, auf Leopold von Ranke zurückgehenden historistischen Grundsatz „Sagen, wie es eigentlich gewesen ist“, kontert Heinrich August Winkler in seinem neuen Buch mit einem Gegenprinzip: Wer nur erzählt, was war, verkürzt Geschichtsschreibung womöglich um eine zentrale Dimension: die Ursachenforschung. So führt der Titel seiner neuen Arbeit auf ein zentrales Erkenntnisinteresse, das den nachmaligen Freiburger, schließlich Berliner Geschichtsprofessor und Zeithistoriker seit seinen beruflichen Anfängen in den 50er Jahren fesselte und ihn dann nie mehr verließ: Wie konnte es zum 30. Januar 1933, zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland kommen? Dass die Frage damals im deutschen Westen noch nicht so beliebt wie einige Jahre später war, hinderte den heute 87-Jährigen nicht, sie beharrlich zu stellen.
Blick zurück in die eigene Gescichte
Im aktuellen Buch – als „Erinnerungen“ untertitelt, die sich allerdings nicht zu einer veritablen Autobiografie formieren –, geht es allerdings nicht (primär) um die historischen Wurzeln des Dritten Reiches, sondern um Winklers eigene Geschichte als Historiker und politischer Zeitgenosse, um seine intellektuelle Biografie mithin – im Zeichen der Frage, „warum es so gekommen ist“, wendet er seine Forschungsmethodik auch auf sich selbst an. „Warum ich Historiker wurde“ – und nicht etwa, wie ursprünglich geplant, Jurist – ist das erste von drei Großkapiteln überschrieben. Ja, warum wurde er Historiker? Über seinen frühverstorbenen Vater, der seinerseits Anfang der 30er Jahre bei jenem promoviert hatte, gab es eine Verbindung zur Historiker-Ikone Hans Rothfels, der Winklers Berufswahl stark beeinflusste. Der aus der Emigration zurückgekehrte Jude Rothfels war seinerzeit die fleischgewordene Frage, „warum es so gekommen“ war.
Warum wurde Heinrich August Winkler Historiker?
Winkler, 1938 in Königsberg geboren und mit der Familie noch vor dem Untergang Ostpreußens 1945 nach Baden-Württemberg gezogen, kam aus einer konservativen Familie, welche Tradition er als Schüler und Student zunächst fortsetzte: Überzeugt von Adenauers Politik der Westbindung, wurde er Mitglied der CDU, trat aber 1962, angewidert von der Diffamierungskampagne der deutschen Rechten und eben auch des nationalistischen Unionsflügels gegen den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt, in die SPD ein. Die allerdings hatte – Winkler stellt es im zweiten Kapitel „Politische Interventionen und Kontroversen“ ausführlich dar – am Mitglied ihres rechten Flügels bis in die Gegenwart hinein nicht immer Freude. Und vice versa.
Alles zum Thema Deutscher Bundestag
- Krankenhausreform Patientenschützer kritisieren den Kabinettsbeschluss
- Medienpreis Grimme Online Awards verliehen – KI-Preisträger lehnen ab
- Pläne der Regierung Renten- und Krankenkassenbeiträge für Gutverdiener sollen wohl steigen
- Die wichtigsten Termine Mottoschal, Feierabendmarkt, Filmfestival – Was diese Woche in Köln wichtig wird
- Reaktion auf Notstand Linke fordert Milliarden für Kinderbetreuung – Reichinnek lädt Merz zum „Kita-Gipfel“ ein
- „Kein Steuergeld für Judenhasser“ Böhmermann sagt Rapper-Auftritt ab – Spahn legt dennoch mit Kritik nach
- Bei Kabinettsklausur in Berlin Bundesregierung will „Modernisierungsagenda“ verabschieden
Sah der Historikerstreit 1986 um die Bewertung der NS-Judenvernichtung und damit das Selbstverständnis einer „postfaschistischen“ deutschen Demokratie Winkler noch an der Seite von Habermas und Wehler, so konnte er das Fremdeln vieler seiner Parteifreunde mit der deutschen Wiedervereinigung schon nicht mehr nachvollziehen. Den beschwichtigenden Umgang großer Teile der SPD mit den kommunistischen Diktaturen Osteuropas bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber den entstehenden zivilgesellschaftlichen Oppositionsbewegungen im Ostblock in der zweiten, „etatistischen“ Phase der Entspannungspolitik hält er für einen schweren und bis heute nicht aufgearbeiteten Fehler. Der wiederhole sich, wenn sich heutige Sozialdemokraten Illusionen über Putin machten. Angela Merkels aus humanitären Gründen nachvollziehbare Flüchtlingspolitik von 2015: ebenfalls ein schwerer Fehler, die den Brexit getriggert und die AfD groß gemacht habe.
Die unbestrittene Nummer 1 der deutschen Historikerzunft
Dank seiner imponierenden Produktivität als Historiker wie seiner einmischungsbereiten Streitbarkeit als Bürger wurde Winkler schon früh zum Diskussions- und Ansprechpartner der politischen wie intellektuellen Elite des Landes – der Autor beschreibt das im dritten Teil, überschrieben mit „Begegnungen und Erlebnisse“. Der Fototeil zeigt ihn im Kontakt mit den üblichen Verdächtigen, von Habermas über Weizsäcker bis zu Steinmeier und Merz. Das wirkt wie eine Trophäensammlung und zeugt von einer etwas aufdringlichen Eitelkeit, die Winkler nun wirklich nicht nötig hat: Seit dem Tod von Hans-Ulrich Wehler ist er die unbestrittene Nummer 1 der deutschen Historikerzunft. Wer im Bundestag zum 70. Jahrestag des Kriegsendes die „Festrede“ halten darf, der ist einfach ganz oben angekommen. In der Sache gereichen diese Konstellationen der Arbeit freilich auch zum Vorteil: Im Individuellen spiegelt sich das Allgemeine, in der Geschichte eines prominent-bedeutenden Forschers exemplarisch die der Bundesrepublik von den 50er Jahren bis heute.
Geschrieben mit wohltuender Nüchternheit
Unter den exemplarischen Intellektuellen-Begegnungen ist neben denen mit Koselleck und Dahrendorf diejenige mit Jürgen Habermas in der Darstellung von Dissens und Konsens womöglich die interessanteste. Über Meinungsunterschiede verbindet Winkler und Habermas das offensive Bekenntnis zur Normativität des je eigenen wissenschaftlichen Tuns. Winkler berichtet von einem gemeinsamen Abendessen, bei dem darüber diskutiert wurde, „ob und inwieweit sich Marktwirtschaft und Privateigentum normativ begründen ließen“. Hochinteressante Frage, da wären wir doch gerne Mäuschen gewesen.
Zu den Vorzügen des Buches gehört nicht nur die geschmeidige, unprätentiöse Sprache, sondern auch eine wohltuende Nüchternheit, die den Autor auch dann auf dem Teppich bleiben lässt, wenn ihn die Leidenschaft packt. Als es 1994 zur Wiederbegegnung mit der Geburtsstadt kommt, zerfließt Winkler keineswegs in Tränen. Konfrontiert mit Ruinen, Verfall und „brutalem Plattenbau“, kommt er zu dieser Bilanz: „Der Kaliningradskaja Oblast war 1994 und ist erst recht heute, drei Jahrzehnte später, die europäische Region mit der größten Militärdichte. Als wir am 16. Juli mit dem Königsberg-Express nach Berlin zurückfuhren, hatte ich den Eindruck, die letzte sowjetische Militärkolonie zu verlassen. Eine Neigung, wieder dorthin zurückzukehren, verspürte ich nicht.“
Heinrich August Winkler: „Warum es so gekommen ist. Erinnerungen“, C.H.Beck, 288 Seiten, 30 Euro