„Ich reiß‘ der Puppe den Kopf ab“Tausende Hände beklatschen eine Rammstein-Horrorshow

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Rammstein_Konzert

Sänger Till Lindemann während eines Auftritts seiner Band Rammstein in Gelsenkirchen.

  • Auf Schalke feiern Rammstein den Auftakt ihrer ersten paneuropäischen Stadiontour mit zwei aufeinanderfolgenden Konzerten.
  • Der spezielle Appeal von Rammstein ist leicht zu verstehen, dem Ausland spiegelt die Band die dumpfsten Klischees über die Deutschen genüsslich wider: das Zackige, ungelenk Untanzbare, den inneren Marschbefehl, die fehlgeleitete Sexualität.
  • Kein Tabu bleibt ungebrochen. Es ist der Wahnsinn! Oder: Eine Pausenclownerie im Vergnügungspark. Je nachdem.

Gelsenkirchen – Wie Washington, der in heroischer Pose den Fluss Delaware kreuzt, wie der gottgesandte Streiter Lohengrin im vom Schwan gezogenen Nachen, so queren die Recken von Rammstein das Meer ihrer Fans. Eben noch haben sie von einer Art Wehrturm in der Mitte der Arena einen Singkreis aus 50.000 Stimmen dirigiert. 50.000 hartgesottene Rammsteiner, die schwarze T-Shirts tragen, auf denen zum Beispiel in blutroter Schrift „Evil German“ steht, und die jetzt, ergriffen ihre leuchtenden Handydisplays zum Stadiondach reckend, „Gott weiß, ich will kein Engel sein“ intonieren.

Die Band selbst hatte sich ihrer Instrumente entledigt und deklamierte mit heiser flüsternden Kehlen die Strophen von „Engel“, dem 15 Jahre alten Arrangement des belgischen Mädchenchors Scala folgend.

Dann betraten sie eine Rampe, stiegen jeder für sich und im gebührenden Abstand in graue Nussschalen und ließen sich auf den Händen ihrer Gemeinde in Richtung große Bühne tragen, wo ihnen Sänger Till Lindemann, ein Baumstamm von einem Kerl, den rettenden Arm entgegenstreckte.

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Rammstein beim Tour-Auftakt in Gelsenkirchen.

Erhebendes Bild, große Inszenierung. Aber vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es, wie Napoleon Bonaparte sagte, nur ein Schritt. Wir bestaunen Männer in Gummibooten. Mein lieber Schwan!

Rammstein – die deutscheste aller Bands

Auf Schalke feiern Rammstein den Auftakt ihrer ersten paneuropäischen Stadiontour mit zwei aufeinanderfolgenden Konzerten. Zehn Jahre lang hatte die deutscheste aller Bands kein Album mehr veröffentlicht, das neue, selbstbetitelte, hat sich hierzulande schon jetzt besser verkauft als jeder andere Tonträger in diesem Jahrtausend.

Nun sollen auch Fans in Stockholm, Barcelona oder Moskau mit ihrem martialischen Kinderschreck-Sound beglückt werden, die meisten Arenen waren schnell ausverkauft.

Der spezielle Appeal von Rammstein ist leicht zu verstehen, dem Ausland spiegelt die Band die dumpfsten Klischees über die Deutschen genüsslich wider: das Zackige, ungelenk Untanzbare, den inneren Marschbefehl, die fehlgeleitete Sexualität.

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Rammstein-Mitglied Christian Lorenz.

All das Wühlen im Analen, Anthropophagen, Pyromanen und Triebtäterischen. Rammstein feiern den Reichsparteitag als Topfschlage-Wettbewerb, das Kasperletheater als Grand Guignol. Es ist, so lange man nicht darüber nachdenkt, ein großer Spaß: schwarze Romantik aus „Bild“-Schlagzeilen.

Brachial wie Schwermetall, kinderleicht wie „Hänschen klein“

Zu Anfang zügelt die Band noch ihre maximalistischen Impulse. Nach einleitender Fanfare und gewaltigem Rumms wird erst einmal Musik gespielt. Nacheinander hatte die Band die Bühne betreten, hatte sich frontal zum Publikum an deren Rand aufgebaut, und langsam, Instrument für Instrument, ihren unverwechselbaren Sound aufgebaut: Brachial wie Schwermetall, kinderleicht wie „Hänschen klein“, das ist in seiner Reduktion aufs Wesentliche immer noch gut ausgedacht.

Sie haben sich die Gesichter in Gold geschminkt, oder mit schwarzen Strumpfhosen verhüllt, wie böse Götzen. Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz trägt auch einen goldenen Overall aus Rettungsfolie, Till Lindemann dagegen Mantel und Anzug aus Schlangenleder. „Ich kann auf Glück verzichten, weil es Unglück in sich trägt“, grollt Lindemann.

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Rammstein-Fans in der Veltins-Arena.

Rammstein verzichten zuerst auch auf die für Großveranstaltungen sonst obligatorischen LED-Wände. Ihre Bühne – eckig, schwarz, mit riesigen roten Bannern geschmückt und von stählernen Zielscheiben, die Scheinwerferbatterien tragen, verziert – scheint wie gemacht dafür, Militärparaden abzunehmen. Und ihr Gesten sind auch für das bloße Auge groß genug.

In den beiden Single-Auskopplungen vom neuen Album zitieren sie gar Kraftwerk: Erst hampeln die Musiker zum elektronischen „Deutschland“-Remix als LED-Strichmännchen über die Bühne, dann reihen sie sich hinter Vocodern und intonieren ein hübsch robotisches „Radio“. Wenn Kraftwerk Konzeptkunst sind, sind Rammstein Konzeptkunst für Menschen, die nicht wissen, oder wissen wollen, was Konzeptkunst ist.

Die eigentliche Rammstein-Pyroshow beginnt

Jetzt brüllt Lindemann von Sex wie ein Zwölfjähriger in Hormongewittern, aus Gerüsttürmen dringt ominöser, schwarzer Rauch, aber der Humor ist nie fern bei Rammstein. Zum Thema „Tattoo“ ist Lindemann etwa Folgendes eingefallen: „Deinen Namen stech’ ich mir/ Dann bist du für immer hier/ Aber wenn du uns entzweist/ Such’ ich mir jemand, der genauso heißt“.

Später wird er einen riesigen Kinderwagen über die Bühne schieben, aus dem ebenso riesige Flammen schlagen. „Ich reiß’ der Puppe den Kopf ab“, brüllt er dazu im Dreikäsehoch-Triumph.

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Rammstein-Bandmitglied Paul Landers.

Dann setzt endlich die Dämmerung ein und die eigentliche Pyroshow kann beginnen: Das Lied „Mein Teil“ verhandelt bekanntlich den Fall des Kannibalen von Rotenburg („Weiche Teile und auch harte/ Stehen auf der Speisekarte“), in Gelsenkirchen ist es vor allem Anlass zu überdrehten Feuerspielen: Keyboarder Flake sitzt in einem überdimensionierten Kochtopf, Lindemann macht ihm mit einem Feuerwerfer Dampf unterm Kessel, greift zu größerem Gerät, doch noch immer lugt frech der Kopf des Keyboarders überm Kochtopfrand.

Prompt fährt aus der Unterbühne eine James-Bond-würdige Flammenkanone hoch, Flake stellt sich mit Schutzhaube dem gewaltigen Feuerstrahl entgegen. Überhaupt: Feuer. Es speit aus Rucksäcken und Gitarrenkörpern, schwärzt die Stadionstreben, verpufft im Ruhrgebietshimmel, wärmt die ganze große Arena als wär’s ein Abend am Kamin.

Zu „Pussy“ reitet Lindemann schließlich die größte Haubitze des Abends und ejakuliert zu den unsterblichen Zeilen „Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“ weißen Schaum aufs Publikum. Kein Tabu bleibt ungebrochen. Es ist der Wahnsinn! Oder: Eine Pausenclownerie im Vergnügungspark. Je nachdem. Halten wir einfach fest: Rammstein sind erhaben lächerlich.

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