Sahra Wagenknechts neues BuchAm Abgrund zu einer völkischen Gedankenwelt

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Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht

Köln – „Was ich auch schreibe, immer errege ich Anstoß.“ Dieser Satz des französischen Schriftstellers Jean Cocteau sollte verwundert klingen, war aber natürlich kokett. Denn die Freude an der Provokation, manchmal auch am Skandal, war sein Lebenselixier. In der auf die Mitte fixierten Politik hierzulande ist eine solche Haltung (außer bei der radikalen Rechten) selten, hier dominiert der Kammerton, das Geschmeidige, Unanstößige. Umso auffälliger, wenn jemand gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstößt. Wie Sahra Wagenknecht.

Im Politikbetrieb gelingt es ihr verlässlich, die Aufmerksamkeit mit steilen Thesen zu fesseln. Mit ihrem jüngsten Buch unter dem Titel „Die Selbstgerechten“ ist das der neben Gregor Gysi auffälligsten Erscheinung der Linkspartei wieder einmal gelungen – und das schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin.

Eine furiose Streitschrift der Linken

Das liegt daran, dass es sich bei dem Text um eine furiose Streitschrift handelt, die nichts weniger versucht, als die aktuell gängige Vorstellung von linken Positionen in der Politik umzudeuten: Multikulturalismus und Diversität, Gendern und Identitätspolitik sind für Sahra Wagenknecht nicht links, sondern Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeistes, der die Spaltung der Gesellschaft vertieft und geradezu ein Förderprogramm für Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus ist. Was gemeinhin für linksliberal gehalten wird, ist in den strengen Augen der langjährigen Spitzenpolitikerin weder links noch liberal, es ist von Übel.

Damit fährt sie einen Frontalangriff auf einflussreiche Teile ihrer Partei, aber auch auf Grüne und Sozialdemokraten. Ihnen unterstellt sie, mit ihrer vorgeblich um Vielfalt und Weltoffenheit bemühten Politik in Wahrheit das neoliberale Zerstörungswerk Maggie Thatchers fortzusetzen, zu deren öffentlichen Glaubensbekenntnis gehörte, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe. Mit einer politischen Agenda, die sich um die Reglementierung von Sprache, um Gendersternchen und die schematische Förderung von Diversität kümmere, spalte eine gesellschaftliche Elite aus akademischer Mittelschicht und sozialökonomischer Oberschicht die Gesellschaft in immer kleinere Gruppen mit jeweiligen Eigeninteressen, die Solidarität, das Gemeinsame werde zum Vergangenheitswert.

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Dieser abgehängte Teil der Gesellschaft, die Arbeiter und kleinen Angestellten, an denen die Segnungen von geerbtem Vermögen und gehobener Bildung vorbeigegangen sind, findet damit in den tonangebenden Parteien der Linken keine Heimat mehr – zu unverständlich der akademisch aufgemotzte Jargon, zu exotisch die Themen für Menschen, die als prekär Beschäftigte, als Alleinerziehende oder als Arbeiter und Geringverdienende andere Probleme haben als Gendertheorie und Debatten um den Opferstatus von immer zahlreicheren sexuellen Minderheiten. Das Thema soziale Gerechtigkeit verstaube derzeit im Traditionsregal.

Kein Wunder, so Wagenknecht, dass auf diese Weise politisch heimat- und schutzlos gewordene Menschen geradezu zwangsläufig in die Arme von rechtspopulistischen Demagogen wie Trump getrieben werden. Damit wäre eine sich als modern empfindende demokratische Linke mit verantwortlich für den Aufstieg des Rechtspopulismus.

Zum Buch

Sahra Wagenknecht: „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“, Campus Verlag, 345 Seiten, 24,95 Euro. E-Book: 22,99 Euro

Für diese These, die in der Linkspartei gerade eine gewaltige Empörungswelle ausgelöst hat, hat Sahra Wagenknecht allerdings gar nicht das alleinige Copyright. Die renommierte Soziologin Arlie R. Hochschild hat das Phänomen anhand der Verhältnisse in den USA schon umfangreich geschildert und auch die US-Philosophin Nancy Fraser stützt diese Theorie. Das Muster, das Hochschild in ihrem absolut lesenswerten Buch „Fremd in ihrem Land“ beschreibt, lässt sich in abgemilderter Form auch auf deutsche Verhältnisse übertragen: Das Gefühl eines Großteils der Bevölkerung, ihre Sorgen, Nöte und Bedürfnisse würden von einer selbstermächtigten Elite aus Politik, Medien und Wirtschaft nicht mehr wahrgenommen. Die Alternative einer jede Solidarität atomisierenden Aufspaltung der Gesellschaft in „immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ sieht Wagenknecht darin, weniger Hautfarbe, Ethnie oder sexuelle Orientierung in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die sozialen Verhältnisse in den Blick zu nehmen und verändern.

Mit ihrer Verteidigung des Nationalstaats, zur Zuwanderung, ihrer Beschwörung wärmender Gemeinschaft, ihrer Kritik am Elitenprojekt EU balanciert sie atemberaubend am Abgrund zu einer völkischen Gedankenwelt. Liest man ihren Text genau, lässt sich allerdings die Unterstellung nicht belegen, sie sei dabei abgestürzt. Dennoch könnte es sein, dass der von dieser Provokateurin erzeugte Erregungs-Tsunami die klugen Gedanken unter sich begräbt, die das Buch auch enthält.

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